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Stille Nacht, blutige Nacht 3 - Süßer die Schreie nie klingen
Hektisches Treiben herrschte im „Port Snowflake“ – Einkaufszentrum. Abgespannte Gesichter huschten hastig an den mit blinkenden, farbenfrohen Lichtern ausgeleuchteten und detailverliebt dekorierten Schaufenstern vorbei. „Last Christmas“ von „Wham“ erschallte durch die Hallen. Einerseits war James Crust selbst immer wieder negativ überrascht von den Herscharen an Personen, die kurz vor Heiligabend noch die letzten Einkäufe erledigten, andererseits musste er sich eingestehen, selbst zu dieser Personengruppe zu gehören. Das Einkaufen an sich war etwas, dass er als lästig und unangenehm empfand. Zu Weihnachten kulminierte diese Abscheu regelmäßig in dem Unbehagen die passenden Artikel kaufen zu müssen, um anderen eine Freude zu bereiten. James war in vielen Belangen Perfektionist und so setzte er sich auch bei der Auswahl seiner Weihnachtsgeschenke einem derartigen Stress aus, dass er den Weihnachtseinkauf Tag für Tag verschob, bis schließlich die große 24 auf dem Dezember - Kalenderblatt prangte.
Beladen mit gleich fünf Einkaufstüten nahm er im „Caesar’s Cafe“ Platz und orderte sich einen Espresso. In nur wenigen Stunden würde all das hektische Treiben in Vergessenheit geraten und der Besuch der Kirche sowie das gesellige Familienfest eine harmonische Einheit der Friedfertigkeit formen. Auch die Aussicht, erst Mitte Januar wieder an seinem Schreibtisch sitzen zu müssen, ließ ihn allmählich entspannen. Interessiert blätterte er die lokale Nachrichtenzeitung durch, als sein Blick auf einen Artikel fiel, der in diesen Tagen besonders vielen Bewohnern Port Snowflakes das Grauen durch die Glieder fahren ließ. Auch wenn es offiziell niemand anzusprechen vermochte, um die friedvolle Weihnachtsatmosphäre nicht zu gefährden, so war es doch tief in jedem Bewusstsein verankert: ein geisteskranker Mörder trieb irgendwo dort draußen sein Unwesen. Ein Wahnsinniger, der stets um die Weihnachtszeit aktiv wurde. Ein gestörtes Individuum, das sich als Weihnachtsmann verkleidete, um auf bestialischen Beutezug zu gehen.
Sein Name war bekannt: Hector Muergo. Im Jahr 2002 gelang es ihm, aus dem Hochsicherheitstrakt zu fliehen, in dem er nach seinem Massaker im Jahr 1983 seine lebenslange Strafe absaß. Damals gelang es ihm, in einer einzigen Nacht, die schier unvorstellbare Anzahl von dreißig Kindern regelrecht abzuschlachten. Sofort nach seiner Flucht vor vier Jahren begann er wieder zu morden, konnte jedoch im Anschluss untertauchen. Im Jahr 2005 trat er wieder in Erscheinung und ermordete auf unvorstellbar brutale Art und Weise einen Vater mitsamt seinen beiden Kindern. Wieder geschah dieses Verbrechen in Port Snowflake. Die Ehefrau überlebte als einzige und zog hinfort. Jetzt war es wieder Weihnachtszeit. Und alle stellten sich die Frage, ob Muergo dieses Jahr wieder aktiv werden würde. Die Zeitungen schlachteten das Ereignis geradezu aus, zumal Muergo damals trotz Schusswunde unerkannt fliehen konnte, was ihm eine Aura des Rätselhaften verlieh. Ein gefundenes Fressen für die Boulevardpresse. Mysteriös war zudem, wie es Muergo gelang, für die Dauer eines Jahres komplett unterzutauchen und jegliche Zeichen seiner Existenz auszulöschen wie eine abgebrannte Adventskerze.
Die einzigen Fotos, die von Muergo existierten, zeigten ihn nach seiner Verhaftung im Jahr 1983. Mittlerweile konnte er sein Aussehen komplett verändert haben. James betrachtete das Polizeifoto intensiv. Muergos Blick war gefärbt von Hass und Boshaftigkeit. Finster blickte er aus dunklen Augen in die Polizeikamera. Buschige Augenbrauen lagen ihm im Gesicht. Auffällig war vor allem eine große, x-förmige Narbe, die sich über seine Wange zog und die ihm, wie sich später herausstellte, von einem Jungen zugefügt wurde, der ihm damals als einzige Person entfliehen konnte. Einer von einunddreißig.
James legte die Zeitung auf dem Tisch ab und genehmigte sich einen weiteren Schluck seines Espressos, um die Gänsehaut zu vertreiben, die sich über seine Arme spannte. Auch dieses Jahr hatten die Verantwortlichen wieder ein Weihnachtsmann – Double bestellt, welches die Kinder auf den Schoß nahm, um sich ihnen mit funkelnden Augen ihre Weihnachtswünsche vortragen zu lassen. Obgleich James sich geschworen hatte, sich nicht von der Hysterie um den „Christmas Killer“, wie Muergo medienwirksam tituliert wurde, anstecken zu lassen, so ertappte er sich dennoch dabei, wie er Muergos Profil aus der Zeitung mit dem des angestellten Weihnachtsmannes abzugleichen versuchte. In keiner Hinsicht war eine Ähnlichkeit vorhanden, auch wenn die rote Mütze mit dem weißen Bommel an deren Spitze und der weiße Rauschebart einen Großteil des Gesichts verdeckten. Der Weihnachtsmann entschuldigte sich kurz bei den Kindern und eilte davon. Als James merkte, dass er sich zu den Toiletten begab, musste er schmunzeln. Auch der Weihnachtsmann hatte nun einmal seine Bedürfnisse.
Er blätterte zum Sportteil und verweilte dort einen Augenblick. „Sehr geehrte Damen und Herren, wir schließen in zehn Minuten“, gellte es durch das Einkaufszentrum. Die harntreibende Wirkung des Espressos machte sich allmählich bemerkbar. James machte sich geschwind auf den Weg zur Toilette.
Er wandte sich dem Stehpissoir zu und blickte erleichtert und mit freudig zuckenden Augenlidern an die Decke, als er den Druck, der auf seiner Blase lastete allmählich abbaute. Ein weiterer Mann betrat den Raum und verschwand auf einer der Sitztoiletten. James konnte bloß noch seinen Rücken erkennen, doch reichte der kurze Blick aus, um den roten Mantel des Weihnachtsmannes zu identifizieren. Der Riegel fiel ins Schloss, die Markierung unterhalb der Türklinke wechselte vom Weißen ins Rote. James dachte zunächst, das Weihnachtsmann – Double sei bereits auf die Toilette geeilt, doch er musste sich wohl getäuscht haben.
Mit einem Mal ertönten eigenartige Geräusche hinter der verschlossenen Tür. Ein gepresstes Gurgeln und Würgen, heftige Stöhnlaute und japsende Atemgeräusche. James lächelte verlegen, der Weihnachtsmann hatte wirklich Verdauungsprobleme, die man seinem ärgsten Feind nicht wünscht. Mehrmals polterte es gegen die vibrierende Tür. Die Geräusche des Mannes machten auf ihn plötzlich einen weniger erheiternden Eindruck, vielmehr erkannte er in ihnen einen Anflug von Panik. Hatte der Mann gar einen Herzinfarkt oder dergleichen erlitten? „Alles klar bei ihnen?“ fragte er, während er sich den Hosenlatz schloss. Er bekam keine Antwort. James zuckte mit den Achseln und machte sich schon auf den Weg zum Waschbecken, als noch einmal ein kurzer, gepresster Schrei durch den Raum hallte. „Hören sie, geht es ihnen gut, wollte ich wissen“, fragte er ein wenig genervt, während er mit gekrümmtem Zeigefinger an die Toilettentür klopfte. Doch abermals wartete er vergeblich auf eine Reaktion. In diesem Moment bemerkte James, dass ein dünner Blutsaal unter der Tür durchsickerte und geradewegs in dem Abfluss in der Mitte des Raumes verschwand.
James konnte diesen hilflosen Mann nicht seinem Schicksal überlassen. Vielleicht war er unglücklich gestürzt und hatte sich den Kopf aufgeschlagen. Er wollte mit Sicherheit nicht dafür verantwortlich sein, aus unterlassener Hilfeleistung einen Menschen auf dem Gewissen zu haben. „Also gut, was soll’s“, schnaufte er, krempelte die Ärmel hoch und begab sich auf den Weg zur offen stehenden Sitztoilette, die direkt rechterhand neben der Sitztoilette lag, aus der die Geräusche kamen. Er stellte sich auf Zehenspitzen auf den Toilettendeckel und lugte über die Wandbegrenzung, um zu begutachten, wie schlimm die Verletzungen des anderen Mannes waren. Seine Augen weiteten sich vor purem Entsetzen. Der Mann lag zusammengesunken auf der Toilette, ein tiefer Schnitt durch seine Kehle legte fleischige Teile seines Rachens frei, aus dem immer noch das Blut in kurzen Intervallen an die weiße Tür spritzte. Der weiße Rauschebart lag abgerissen auf dem roten Kostüm. Der Weihnachtsmann hatte die Augen weit aufgerissen und starrte James an, doch er erkannte am glasigen Blick des Mannes, dass er bereits tot war. James musste aufstoßen. „Oh Gott, das ist doch einfach…“ doch er konnte seinen Satz nicht beenden, weil er sich sogleich übergeben musste. Der arme Kerl nebenan hatte beschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen. Ein grauenhafter Suizid. Wieder stammelte er die Worte: „Das ist doch einfach…“ als er plötzlich eine brummende Stimme vernahm, die seinen Satz ergänzte „Wunderschön?“ ertönte es hinter ihm.
James drehte sich um und zog die Augenbrauen ins Gesicht. Welcher abartige Kerl hatte über so etwas noch zu scherzen gewagt? Entschlossen bäumte er sich auf, doch er stutzte im ersten Moment, als er merkte, dass sein Gegenüber ebenfalls ein Weihnachtsmannkostüm trug und zudem zwei Köpfe größer war, obwohl James mit 1,83 Metern schon über eine stattliche Körpergröße verfügte. Sein Gegenüber legte den Kopf etwas schräg und starrte ihn aus finsteren, dunklen Augen an. Sofort schoss James das kurz zuvor betrachtete Bild des „Christmas Killers“ durch den Kopf. Es waren dieselben hasserfüllten Augen. Schweißtropfen bahnten sich ihren Weg an James Schläfen herunter. „Das war übrigens kein Selbstmord“, raunte der Weihnachtsmann und betrachtete dabei seine große, blutüberströmte Hand, mit der er im Anschluss eine lange, ebenfalls blutverschmierte Machete aus seiner Seitentasche zog.
Beinahe liebevoll betrachtete er die scharfe Kante, die das kühle Neonlicht der Toilette reflektierte. Als der Blick wieder auf James fiel, kehrte das boshafte Flackern zurück. „Hören sie, ich habe es wirklich eilig“, merkte James an und streckte die Hand aus, um den Weihnachtsmann aus dem Weg zu stoßen. Er musste schnellstmöglich die Toilette verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Bevor er sich versah machte der Weihnachtsmann jedoch einen Schritt zurück und schlug mit der Machete in Richtung James ausgestreckter Hand, die dumpf zu Boden fiel. James stockte und riss ungläubig die Augen auf als er den Stummel am Ende seines Armes betrachtete. Er konnte einen Blick auf Fleisch und den Knochen werfen, schubartig spritzte ihm das Blut entgegen und bildete feuchte Kleckse im Brustbereich seines Hemdes. Mit der linken Hand versuchte er, die Blutung zu stoppen, indem er möglichst fest das Ende seines Armes drückte, um die Adern zu schließen, doch als er drückte merkte er plötzlich, dass eine große blaue Ader geradewegs aus dem Stummel herab hing.
„Scheiße, verfluchte Scheiße, was soll das?“, brüllte James panisch. „Nun ja, es ist Weihnachten“, raunte sein Gegenüber sinister und stieß James zurück in die Toilettenkabine. „Darf ich um deine Hand bitten?“ raunte der Maskierte und schlug mit einem kräftigen Hieb auch noch James linke Hand ab, worauf ein Schwall roten Blutes an die linke Wand der Kabine spritze. Die abgetrennte Hand fiel geradewegs in das Klo und versank. James schrie schmerzerfüllt auf. Je mehr er seine blutigen Stumpen betrachtete, desto mehr fühlte er sich in einen Alptraum versetzt. Doch die Hoffnung, im nächsten Moment schweißgebadet aufzuwachen zerschlug sich als er merkte, wie der Maskierte ihm die Machete direkt in den Adamsapfel rammte und sie dort stecken ließ. James keuchte panisch auf und versuchte verzweifelt nach Luft zu schnappen, doch es gelang ihm nur bruchstückhaft seine Lungen mit Sauerstoff zu füllen. Der Maskierte hatte seine Luftröhre zerfetzt. James verspürte das Bedürfnis, sich umgehend die Machete aus dem Hals zu reißen, um dem beißenden Schmerz entgegenzuwirken, doch ohne Hände war dieses Vorhaben zum Scheitern verurteilt. Der Maskierte schnappte sich James an den Haaren, riss ihm ruckartig die Machete aus dem Hals und drehte ihn in Richtung des Klosetts. Blutspritzer betropften den Toilettendeckel. James konnte am Grund der Toilette seine abgetrennte Hand liegen sehen. Der Weihnachtsmann tauchte James in die stinkende Toilette. Er drückte ihn so tief hinab, dass dieser seine abgetrennte Hand am Gesicht zu spüren bekam. James kam es vor, als würde sie nach ihm greifen. Der Maskierte zog ihn wieder heraus. James kniff die Augen zusammen, damit ihm das braune, brennende Wasser nicht hineinlaufen konnte. Wieder und wieder versuchte er panisch seine Lungen mit Luft zu füllen. Vergeblich. Das bakterienverseuchte Wasser sammelte sich brennend in der Schnittwunde an seinem Hals. Der Maskierte ließ plötzlich von James ab. In Agonie krümmte sich James in seiner eigenen Blutlache. Wenn er es irgendwie nach draußen schaffen würde, könnte man ihm vielleicht noch helfen. Wenigstens war er diesen Irren los.
Kaum war dieser Gedankengang beendet riss ihm jemand den Kopf nach hinten. James spürte, wie infolgedessen der Schnitt an seinem Kehlkopf unter Begleitung schmatzender Geräusche noch weiter aufriss. „Desinfektion ist das A und O!“ brummte der Weihnachtsmann und hielt James ein Stück eines Toilettensteines vor die Augen, das er offenbar aus dem Stehpissoir entnommen hatte. James schüttelte den Kopf. Tränen des Entsetzens entfleuchten seinen Augen, dann schlug der Weihnachtsmann ihm mit voller Wucht in die Öffnung an seinem Kehlkopf bis seine Faust darin verschwand und in den Tiefen seines Rachens den Toilettenstein platziert hatte. Als der Mann seine Hand wieder aus James Kehlkopf herauszog, holte er gleichzeitig eine Menge an Adern und roten, fleischigen Brocken hervor. Der Toilettenstein zersetzte sich in James Kehle und schäumte brausend auf. James gurgelte und versuchte sich dieses brennende Stück aus dem Hals zu ziehen, doch mit seinen blutigen Stumpen konnte er nicht greifen. Roter Schaum blubberte aus seinem Rachen und seinem Mund hervor. „Ich wette, das tut weh!“ lachte der Weihnachtsmann und machte sich auf den Weg aus der Toilette heraus. James kämpfte noch Minuten gegen seine Schmerzen und den drohenden Tod. Doch diesen Kampf konnte er nicht mehr gewinnen. Er verendete unter größten Qualen kurz vor Heiligabend in der Anonymität der Toilette eines Einkaufszentrums.
Martha zog das Gitter herunter, das ihr kleines Bekleidungsgeschäft vor unbefugtem Zutritt schützte und gab den Signalcode für die Alarmanlage ein. Die Weihnachtsgeschäfte waren gut gelaufen und auch obgleich sie sich anfangs nur widerwillig mit dem Gedanken anfreunden konnte, am Heiligabend bis halb fünf Uhr nachmittags im Laden zu stehen, so musste sie sich doch eingestehen, dass es in finanzieller Hinsicht eine durchaus lukrative Entscheidung war. Das Einkaufszentrum hatte seit gut zwanzig Minuten offiziell geschlossen. Die meisten Handelstreibenden hatten sich jedoch schon vor Stunden auf den Heimweg gemacht. Mit ihrem Entschluss, bis halb fünf im Laden zu stehen und damit die Öffnungszeit bis zuletzt auszureizen, stand Martha beinahe alleine da. Dementsprechend leer war es auch, als sie schnellen Schrittes mit ihren hochhackigen Designerschuhen über den glänzenden Boden des Einkaufszentrums stöckelte. Eine beinahe kontemplative Ruhe verglichen mit der Hektik der vergangenen Tage. Kein dröhnendes Stimmengewirr, keine in Endlosschleifen abgespielte Weihnachtsmusik. Martha stellte sich auf die Rolltreppe, die sie geradewegs in die untere Etage beförderte und warf ihren edlen Schal über ihre Schultern. Als Inhaberin eines Bekleidungsgeschäftes widmete sie ihrem eigenen modischen Auftreten eine besondere Aufmerksamkeit. Alsbald würde sie sich im Kreise ihrer Liebsten befinden und beim Gedanken an das Lächeln und das freudenstrahlende Funkeln in den Augen ihrer beiden Enkelkinder, zog sich ein zufriedenes Lächeln über ihr Gesicht. Ruckartig stoppte die Rolltreppe auf halbem Weg.
Anscheinend hatten die Techniker sich soeben ebenfalls in den geheiligten Feierabend verabschiedet. Wie hätte Martha ihnen dies vergönnen können? Sie zuckte kurz mit den Schultern und machte den ersten Schritt hinab, als das Laufband der Rolltreppe sich plötzlich wieder in Bewegung setzte. Allerdings lief es nun rückwärts, geradewegs wieder hinauf zur oberen Etage. Verblüfft lugte Martha über ihre Schulter nach hinten, zur oberen Etage, als am Ende der Rolltreppe plötzlich ein breitschultriger Mann in Erscheinung trat, der ein Weihnachtsmannkostüm trug. Lächelnd näherte sich Martha dem Mann. „Guten Abend, mit der Rolltreppe scheint etwas nicht zu stimmen. Da will uns wohl jemand nicht den Feierabend gönnen, oder?“ lachte sie herzlich. Kommentar- und ausdruckslos griff der Mann zu seinem Gürtel und brachte eine lange Machete zum Vorschein, welche er in unmissverständlicher Bedrohung in die Höhe hielt. Marthas Lächeln gefror, schockiert weiteten sich ihre Augen. Der „Christmas Killer“? All die Jahre hatte sie den Mann und sein grauenhaftes Treiben lediglich als Phantom wahrgenommen. Aus der Distanz, die einen in scheinbarer Sicherheit wiegt. Die emotionale Distanz, die einen auch vermuten lässt, niemals an einer schlimmen Krankheit zu erkranken. Warum sollte es ausgerechnet einen selbst erwischen? Jetzt stand er ihr leibhaftig gegenüber. Eine Gefahr, mindestens so tödlich wie die grauenhafteste Krankheit. Hektisch begann Martha, die Rolltreppe herab zu spurten, deren Stufen sich entgegen ihrer eigenen Laufrichtung den Weg hinauf zu Muergo bahnten. Unsichtbaren Händen gleich schob die Rolltreppe sie immer weiter hinauf. Es war, als würde sie gegen ein unüberwindbares Hindernis ankämpfen, nur mühsam gelang es ihr, sich schließlich doch stückweise der unteren Etage zu nähern. Keuchend versuchte sie, dem Tod davonzurennen.
Schließlich geschah das Unvermeidbare. Martha knickte mit einem ihrer hochhackigen Schuhe in einer Rille der Treppenstufen um und verdrehte sich den Knöchel. Das knackende Geräusch übertönte kurzzeitig sogar die surrende Mechanik des Treppenbandes. Ein intensiver Schmerzimpuls durchzog das Fußgelenk. Schreiend lugte Martha an ihrem Bein hinab. Der Fuß war in einem unnatürlichen Winkel abgeknickt, eine große Beule drückte von innen an die Hautoberfläche. Verzweifelt versuchte sie, wieder auf die Beine zu kommen, doch die Schmerzen ließen das Vorhaben sofort scheitern. Mit letzter Kraft versuchte Martha, die Stufen herab zu kriechen, sich Treppe für Treppe nach unten zu ziehen, doch für dieses Unterfangen ermangelte es ihr an der notwendigen Geschwindigkeit. Schließlich gelangte sie am oberen Ende der Rolltreppe an, die sie dort geradezu vor Muergos Füße zu legen schien, einem düsteren Diener des Bösen gleich.
„Bitte, tun sie mir nichts“, wimmerte sie und hielt sich schützend die Arme vors Gesicht. „Ich habe Kinder und Enkel.“ Muergo wickelte sich ihren Kaschmirschal um die rechte Hand und stemmte sie einhändig in die Höhe, so dass Marthas Füße von der Erde abhoben. Röchelnd umklammerte sie den Seidenschal, der ihr in den Hals schnitt und die Kehle zudrückte. Intensiv betrachtete Muergo die strampelnde Frau, die mit dem intakten Fuß nach ihm trat. Als er den Griff schließlich löste, fiel Martha unsanft auf den blank polierten Boden. Gepresst atmete sie so tief ein, wie sie konnte. Das Schnappen nach Luft vermischte sich jedoch mit einem Schmerzensschrei, da die Beule am Fuß nun aufgebrochen war und ein kleiner Teil des Knochens aus der Haut schnellte. Die Todesangst führte zu Schwindelgefühlen. Versuchte ihr Körper bereits, sich in die Schutzfunktion der Ohnmacht zu flüchten? Muergo griff den Seidenschal erneut und klemmte ihn in dem Bereich ein, in dem die Stufen der Rolltreppe unter dem blank polierten Boden des Einkaufzentrums verschwanden. Sofort verfing sich der Schal im Gewinde und zog sich wieder um Marthas Hals zusammen. Sie würgte und zappelte, als ihr abermals die Luft geraubt wurde. Der Sicherheitsmechanismus der Rolltreppe trat in Kraft, woraufhin die Bewegung der Treppenstufen aussetzte und das ganze Gebilde zum Stillstand gelangte.
Muergos düstere Augen musterten den Schaltkasten. Mit einem schroffen Griff entriegelte er den Sicherheitsmechanismus, worauf die Rolltreppe ihre Bewegung wieder aufnahm. Der Schal zog sich immer enger um Marthas Hals, die mittlerweile nicht einmal mehr Keuchen konnte. Ihre Gesichtsfarbe nahm allmählich bläuliche Töne. Speichel rann ihr unkontrolliert aus dem Mundwinkel und tropfte den Schal voll. Allmählich traten die Augen aus ihren Höhlen hervor. Muergo riss ihr unterdessen den hochhackigen Schuh vom gebrochenen Fuß und schlug mit dem spitzen Absatz auf Marthas sich im Todeskampf windenden Körper ein. Qualvoll durchdrang der Absatz ihre den Schal umklammernde Hand und hinterließ eine blutende Wunde, gleich einem Stigmata der Abartigkeit. Der nächste Schlag rammte ihr die Spitze des Absatzes direkt ins hervorquellende Auge, welches unter der Wucht des Schlages und dem zuvor aufgebautem Druck zerplatzte und einem rohen Ei gleich blutig aus der Höhle sickerte. Ein weiterer kraftvoller Schlag durchbohrte ihre Wange. Das noch funktionstüchtige Auge irrte hilfesuchend umher. Die Wange fühlte sich an, als hätte ihr jemand einen Nagel hindurch gestoßen. Ihrem Bedürfnis zu schreien konnte sie aufgrund der zugedrückten Kehle nicht nachgeben. Die Schwindelgefühle wurden stärker, ihr Magen verkrampfte vollends. Wenige Sekunden später wich das Leben aus Marthas geschundenem Körper. Regungslos blieb sie liegen. Muergo ließ die Rolltreppe noch eine Weile laufen.
Larry pfiff freudig die Melodie von „Jingle Bells“, als er die Autoschlüssel seines Sportwagens aus dem Jackett kramte. Als Junior – Manager des im Einkaufszentrum ansässigen Elektronikmarktes war er der letzte, der selbigen diesen Abend verließ. Die Konsumfreude der Leute war beachtlich, vor allem in der Branche, in der er tätig war. Egal, ob es sich um die neue Generation der Spielkonsolen, Flachbildfernseher oder MP3 – Spieler handelte, die Leute rissen ihm die Ware so kurz vor Heiligabend förmlich aus den Händen. Mit seiner prozentualen Beteiligung am Umsatz hatte er sich zudem einen stattlichen Bonus erarbeitet, welcher seinen Monatslohn um mehr als das Doppelte übertraf. Daheim wartete seine Verlobte sicherlich bereits schon im festlich gedeckten Appartement auf ihn mitsamt den Eltern und den Schwiegereltern. Sein knurrender Magen verriet die Vorfreude auf die knusprige Weihnachtsgans. Seine zügigen Schritte hallten durch das beinahe leere Einkaufszentrum. Als er die Weihnachtskrippe passierte, hielt er kurz inne. Sofern seine Sinne ihm keinen Streich spielten, drang soeben ein Rascheln aus Richtung der Krippe. Skeptisch betrachtete er die kunstvollen, lebensgroßen Schnitzereien, die die Geburt Jesu zeigten. Sein Autoschlüssel wanderte klimpernd zwischen den Fingern hin und her. Zu gut erinnerte er sich noch an die Ereignisse letzten Jahres, als es einer kubanischen Angestellten des Reinigungspersonals gelang, sich irgendwo in den Weihnachtsrequisiten zu verstecken, um daraufhin auf nächtlichen Beutezug nach unentgeltlichen Weihnachtsgeschenken zu gehen. Ein naives Unterfangen, schließlich waren große Teile des Einkaufszentrums videoüberwacht. „Hallo?“ rief Larry misstrauisch in Richtung der Krippenszene. Skepsis lag in seinem Blick. Wieder raschelte es, dieses Mal jedoch wesentlich unscheinbarer als zuvor.
Die Krippenszene nahm einen relativ großen Teil des Einkaufszentrums ein, schließlich waren die geschnitzten Figuren und Tiere in Originalgröße abgebildet. „Hören sie, wir laufen jetzt zusammen hier heraus und ich werde auf eine Anzeige verzichten, in Ordnung?“ Larry wollte den Prozess etwas beschleunigen, schließlich wollte er nicht zu spät vor seiner Weihnachtsgans sitzen. Zu seiner Enttäuschung gab sich jedoch niemand zu erkennen. „Na gut, ich habe es versucht, vielleicht sollte ich etwas rabiater werden?“ drohte er mit mahnendem Unterton, als er seinen nächsten Schritt in Richtung der Krippe setzte, immer noch hoffend, sein Gegenüber würde sein Versteckspiel alsbald beenden. Die Holzdielen knarrten, als Larry langsamen Gangs hinüber schritt. Er stand nun genau vor der mit Stroh ausgekleideten Wiege, in der die Nachbildung des kleinen Heilland lag, umgeben von Josef, Maria und den Heiligen Drei Königen, deren huldvolle Blicke andächtig auf das Kind gerichtet waren, sowie einigen neugierigen Hirten, die die Szenerie aus respektvoller Entfernung beobachteten. Der Stall musste seinerzeit wohl gerade den nötigsten Schutz vor der Witterung geboten haben. Bedächtig lugte Larry hinter einen der hölzernen Ochsen, der genug Platz bot, um sich dahinter zu verstecken, als ein erneutes Rascheln die Stille durchdrang. Dieses Mal gelang es ihm, die Quelle des Geräusches zu lokalisieren. Ein großer Haufen Heu in der hintersten Ecke des Stalls.
„Hab ich dich“, flüsterte Larry selbstzufrieden und krempelte grinsend die Ärmel hoch. Nach einigen knarrenden Schritten in Richtung der schlecht ausgeleuchteten Ecke platzierte er sich vor dem Heuballen und verschränkte die Arme vor seiner Brust. „In Ordnung, ich zähle bis drei, dann kommen sie dort heraus“, befahl er streng. „Eins“, Larry tippte ungeduldig mit dem Fuß auf die Erde, „zwei“, seine Stimme klang genervt. Noch bevor ihm die drei über die Lippen kam, flog ihm plötzlich das Heu entgegen und aus dem Haufen trat ein Mann im Weihnachtsmannkostüm hervor, der ihn schmerzhaft am Arm fasste. „Du hast die drei vergessen“, brummte er dunkel. Konsterniert starrte Larry nach oben. Der Typ war riesengroß. Larry schluckte. Sollte es sich hierbei gar um den „Christmas Killer“ handeln, von dem in letzter Zeit nahezu jede Zeitung berichtet hatte? „Du scheinst mir ein recht unartiger junger Mann zu sein“; raunte der Santa, „und unartige Jungen bekommen eine Strafe“, ergänzte er geradezu frohgemut. Christmas Killer hin oder her, der Typ hatte definitiv nicht alle Tassen im Schrank. Larry musste hier verschwinden und zwar so schnell wie möglich. Ruckartig riss er sich los und spurtete in Richtung Ausgang.
Muergo hielt bloß noch das Jackett in der Hand. Schnaufend starrte Larry nach hinten. Der Weihnachtsmann schmiss das Jackett zur Seite und starrte nach oben. Nur unweit über ihm, in Höhe der brüchigen Überdachung des Stalls hing der Stern von Bethlehem. „Scheiße“, keuchte Larry und rannte weiter. Muergo kletterte geschwind auf den Rücken des Holzochsen und erfasste den Weihnachtsstern. Im Sprung vom Rücken des Ochsen schleuderte er den scharfzackigen Stern von Bethlehem dem panisch flüchtenden Larry hinterher. Die Schnelligkeit des Wurfinstruments war immens. Der Stern schmetterte wuchtig in Larrys Rücken und grub sich ins Muskelfleisch. Stöhnend ging Larry in die Knie. Er griff nach hinten, doch er konnte den Stern nicht herausziehen, zu fest saß er im Fleisch. Er versuchte sich aufzurappeln und krabbelte schließlich ächzend ein Stück weiter Richtung Ausgang. Eine dunkle Blutspur folgte seinem Weg. Mit langsamen, aber doch großen Schritten kam ihm der Weihnachtsmann allmählich näher.
Die Bilder seiner Verlobten und seiner Eltern tauchten vor Larry auf. Schockiert schüttelte er seinen Kopf. Es war noch nicht an der Zeit für solche Bilder, die einem erst im Angesicht des Todes kamen, noch bestand die reelle Chance zur Flucht. Das war alles, worum es jetzt ging. Den Kampf mit diesem Monster aufzunehmen, war aussichtslos. Der letzte Hauch Hoffnung verpuffte jedoch nur Sekunden später, als er den großen Stiefel des Santas plötzlich in seinem Nacken spürte. Schmerzhaft wurde seine Stirn zu Boden gedrückt. Begleitet von schmatzenden Geräuschen zog der Weihnachtsmann ihm den Stern aus dem Rücken. Ein Schrei hallte durch das Einkaufszentrum. Fleischige Klumpen ballten sich an den Spitzen des Sterns. Larrys durchlöchertes Hemd war blutgetränkt. Verzweifelt kroch weiter Richtung Ausgang. Muergo zog ihn mühelos am Kragen nach oben, woraufhin das Hemd leicht einriss und schleifte Larry zurück in Richtung der Krippe. „Bitte, lass mich hier raus“, weinte Larry bitterlich. „Ich hab dir doch nichts getan“, wimmerte er weiter. Muergo musterte ihn kurz voller Abscheu und setzte anschließend seinen Weg fort. Larrys Füße schleiften über die Erde. Die Sohle verursachte währenddessen ein quietschendes Geräusch, dass nur schwer von Larrys Wimmern zu unterscheiden war.
Muergo schulterte den kraftlosen Körper. „Was machst Du?“ wollte Larry wissen. Schiere Panik spiegelte sich in seiner Stimmlage wieder. Seine Stimme klang weitaus schwächer als zuvor, der Blutverlust ließ ihm graduell die Sinne schwinden. Larrys Frage beantwortete sich alsbald nonverbal von selbst, als Muergo ihn barsch am Haarschopf packte und sein Gesicht mit voller Wucht auf eines der Hörner der herumstehenden Ochsen schlug. Das Rinderhorn durchlöcherte geradezu mühelos Larrys Gaumen und kam erst in seinem Nasengang zum Stillstand. Gequält stieß er einen spitzen Schrei aus. Ein letztes Mal bäumte sich sein Körper gegen die Schmerzen auf. Blut spritzte aus dem Mund und benetzte den hölzernen Kopf des Ochsen. Gurgelnde Geräusche vermengten sich mit den gepeinigten Schmerzensschreien. Ein wuchtiger Tritt gegen den Kopf schleuderte Larry hinfort. Sein verkrampfter Körper rutschte über die Holzdielen und krachte schließlich gegen die Holzwiege, die sofort in sich zusammenfiel. Die Replik des kleinen Jesus polterte zu Boden und blieb geradewegs vor Larrys verzerrtem Gesicht liegen. Das Horn des Ochsen steckte immer noch in einer tiefen, engen Furche in Larrys Gaumen. Verzweifelt versuchte dieser, sich das abgebrochene Horn aus dem Gaumen zu ziehen, doch seine Kräfte schwanden mehr und mehr. Blut strömte nach wie vor aus der klaffenden Wunde und bildete Pfützen auf den Holzdielen und dem Stroh.
Muergo zückte seine Machete und kniete vor Larry nieder. „Ich denke, du hast deine Lektion nun gelernt. Jedenfalls kann ich deinen frechen Tonfall schon gar nicht mehr vernehmen“, hauchte er ihm ins Ohr. Larrys Augen flehten nach dem Tod. Der finale Machetenhieb trennte Larrys Kopf schließlich vom Körper. Muergo griff den abgetrennten Kopf und schmiss ihn in seinen großen braunen Sack. Weitere Einzelteile von Larrys Körper sollten folgen.
Kelly Myers hatte das Ende des Schlachtfestes von der Ebene des ersten Stocks aus beobachtet. Gerade erst hatte sie das „Caesar’s Cafe“ verlassen, in dem sie als Kellnerin angestellt war. Es schien wie ein Alptraum, eine surreale Verzerrung der Wirklichkeit, doch die Ereignisse waren real. Eine wahnsinnige Bestie im Weihnachtsmannkostüm mordete die letzten verbliebenen Personen des Einkaufszentrums. So simpel, wie in einem klischeebehafteten Horrorfilm, dessen Drehbuch nur von einem geistig minderbemitteltem Individuum verfasst sein konnte, doch es spielte sich direkt vor ihren bestürzten Augen ab. Während sie fassungslos mit tränengefüllten Augen die erschütternde Szenerie beobachtet hatte, fiel ihr auch auf, dass den zahlreichen Überwachungskameras das Geschehen nicht entgangen sein konnte. Erst jetzt löste sich die Starre, der ihr Körper infolge des Schocks ausgeliefert war. Hastig eilte sie in Richtung des Wachraumes. Muergo, der sich gerade das Blut der Machete am Weihnachtsmannkostüm abstreifte, richtete seinen finsteren Blick gen ersten Stock.
Völlig außer Atem stieß Kelly die Tür zum Wachraum auf, um dem Wachpersonal von den grauenhaften Ereignissen zu berichten, doch schon nach wenigen Schritten schlug sie fassungslos die Hände vor den Mund. Vor den zahlreichen Monitoren, die nahezu jeden Winkel des Einkaufszentrums erfassen konnten, hingen drei Bedienstete des Wachpersonals in ihren Drehsesseln. Nur flüchtig streifte Kellys Blick die entstellten Leichname, doch der kurze Moment reichte aus, um Bilder zu erfassen, die sich ihr für den Rest des Lebens ins Gehirn brennen sollten, einem immateriellen Brandzeichen der Perversion gleich. Einem der Bediensteten waren beide Augen ausgestochen worden, einem anderen die Ohren abgeschnitten, hier wie dort fehlten wahlweise Finger, Hände, oder gar ganze Arme. Breitflächige Blutspritzer verteilten sich in bizarren Mustern über die in langen Reihen angeordneten Monitore, die die einzige Lichtquelle in dem sonst abgedunkelten Raum darboten. Kein Wunder, dass die ganze Zeit über kein Alarm geschlagen wurde. Vermutlich waren diese drei Männer Muergos erste Opfer des Tages gewesen. Kelly eilte würgend zum Telefon, welches just in diesem Moment zu klingeln begann.
Ihre Mine verdunkelte sich. Hatte einer der Wächter eventuell doch noch einen Rettungsruf aussenden können und wurde nun zurückgerufen? Nervös befeuchtete sie sich die Lippen, als ihre verschwitzte, zitternde Hand die Gabel des altmodischen Telefons umschloss. Unter der Begleitung eines tiefen Atemzuges hob sie die Gabel ab. „Hallo?“ fragte sie zaghaft. „Hallo“, antwortete eine raue Stimme. „Wer…wer ist denn dort?“ hakte sie nach. Ein Gefühl der Unbehaglichkeit breitete sich in ihr aus, wie die kleinen Wellen eines Sees, nachdem man einen Stein hineingeworfen hatte. „Wirf mal einen Blick auf Monitor drei!“ entgegnete der Unbekannte. Schwungvoll drehte sich Kelly in Richtung des dritten, teilweise blutbefleckten Monitors. Der Geisteskranke im Weihnachtsmannkostüm winkte mit seiner Machete in Richtung der Kamera, die eine der Rolltreppen, die hinauf in den ersten Stock führten, erfasste. Es war die Rolltreppe, die nur unweit vom Wachraum entfernt endete. Und Muergo befand sich zu diesem Zeitpunkt genau dort, näher und näher kommend. „Oh mein Gott“, flüsterte Kelly schockiert und starrte wie gelähmt auf den Monitor. „Vielen Dank, aber ich bin bloß der Weihnachtsmann“, tönte es ihr aus der Telefonmuschel entgegen. „Und ich habe hier ein ganz besonderes Präsent für dich, meine kleine.“ Muergo passierte Kamera vier, die auf die kleine Drogerie gerichtet war, die nur etwa zehn Meter vom Wachraum entfernt war.
Sie entsagte sich ihrer schockartigen Lähmung, ließ den Hörer fallen und eilte zu den Wachleuten. Sie war entschlossen, Muergos Akt Einhalt zu gebieten. Sie würde ihn erschießen. Zum ersten Mal in ihrem Leben würde sie jemanden umbringen. Hektisch tastete Kelly die Gürtel der Wachmänner ab, die Hosentaschen, die Hemden. Wo waren ihre Waffen? Warum zum Teufel trugen sie keine Waffen bei sich? Ein großer Schatten fiel plötzlich in den Raum. „Nett von Dir, dass Du auf mich gewartet hast“, brummte Muergo. Seine breiten Schultern reichten vom einen Ende des Türrahmens zum anderen. Kelly spurtete ihrerseits unvermittelt auf Muergo zu, der geradewegs mit der Machete ausholte und nach ihrem Kopf schlug. Kelly warf sich auf den Bauch und hechtete zwischen Muergos Beinen hindurch. Muergos Machetenhieb schlug eine Kerbe in den Türrahmen.
Kelly Kelly sprintete hastig den Flur entlang. Über die Schulter blickend konnte sie sehen, dass Muergo ihr folgte. Verwundert stellte sie fest, dass er ihr jedoch nicht hinterher rannte, sondern dass er vielmehr mit großen, gemächlichen Schritten ging. Als hätte er alle Zeit der Welt. Die ohnehin verstörende Situation schien so noch an zusätzlicher Bedrohung zu gewinnen. Der Blick entgegen die Laufrichtung ließ sie über eine der blechernen Mülltonnen stolpern, die seitliche des langen Flurs aufgestellt waren, der die Besucher auf dem ersten Stockwerk quasi im Rechteck rund um das Einkaufszentrum führte und von dem sich die untere Ebene des Einkaufszentrums gut einblicken ließ.
Kelly fiel zu Boden, und führte einen Moment lang die Mülltonne im Bauchbereich direkt unter sich mit. Sie rollte noch einige Meter mitsamt der scheppernden Tonne über den Flur, dann konnte ihre auf dem Boden quietschenden, klitschnassen Hände die Bewegung stoppen. Sofort drehte sich Kelly in die Richtung, aus der sie gerannt kam. In Richtung der Gefahr, die ihr unmittelbar im Nacken saß. Auf dem langen Flur war niemand mehr zu sehen. Totenstille durchdrang das Einkaufszentrum, nur ihr eigener unrhythmischer Atem vermochte diese noch zu durchdringen. „Scheiße“, murmelte Kelly. Aufmerksam wanderten ihre Augen umher, suchten dieses verfluchte rote Weihnachtsmannkostüm, während sie sich in sitzender Position rückwärts den Gang entlang schob.
Schließlich rappelte sie sich seufzend auf und humpelte vorsichtig weiter. Ein beklemmendes Gefühl der Furcht durchdrang sie. Ihr Herz pochte im Sekundentakt und formte mitsamt ihrer donnernden Schläfen eine Melodie des nackten Terrors. Immer wieder blickte Kelly flüchtig durch die großen Schaufensterscheiben in die Geschäfte hinein, die den langen Flur säumten, vom panischen Gedanken beherrscht, Muergos verächtliches Gesicht könnte jederzeit hinter einer der Scheiben auftauchen. Ein klirrendes Geräusch ließ sie aufschrecken, doch noch bevor sie realisierte, woher das Geräusch kam, hatte bereits eine riesige Hand ihren Hals fest umschlossen. Erst jetzt sah sie, dass Muergo wohl mit der bloßen Faust eines der Schaufenster durchschlagen hatte, hinter dem er sich versteckt haben musste. Japsend schnappte Kelly nach Luft. Muergo wuchtete sie in die Höhe und schmiss sie in den Laden, in dem er sich versteckt hatte. Den Spielwarenladen.
Kellys Körper flog in hohem Bogen in den Spielwarenladen und streifte im Flug einige der Scherbenfragmente, die nicht aus dem Schaufensterrahmen gebrochen waren. Sie landete vergleichsweise sanft in einer Anordnung flauschiger Teddybären, von denen einige blökten. „Na das ist ja süß“, hauchte Muergo, als Kelly sich in dem Berg von blökenden und brummenden Stoffbären aufzurichten versuchte. Muergo stürmte auf Kelly zu und sprang ihr mit dem Kopf voran in die Bauchregion. Instinktiv gelang Kelly ein schneller Ausfallschritt. Muergo krachte in ein Regal mit bunten Gummibällen, welches umgehend kollabierte. Die Bälle sprangen quer durch den Raum. Da war sie wieder. Die Chance zur Flucht. Vielleicht die letzte. Kelly spurtete sofort wieder los, achtsam, auf keinem der zahlreichen Gummibälle auszurutschen. Plötzlich riss es ihren zierlichen Körper nach hinten.
Muergo hatte Kelly an den Haaren gepackt. Kelly wiederum kratzte mit ihren Fingernägeln über Muergos Gesicht. Haut blieb unter ihren Nägeln hängen. Muergos Rauschebart fiel zu Boden und entblößte die x-förmige Narbe, die sich beinahe über seine gesamte Wange erstreckte. Tiefe, blutende Kratzer zogen sich über sein Gesicht. Noch immer hielt er sie an den Haaren fest und schlug plötzlich Kellys Kopf kraftvoll durch eine der Glasvitrinen, die einige kitschige Actionfiguren beinhaltete. Klirrend zerbarst das Glas. Unzählige feinste Splitter bohrten sich durch Kellys bis dahin makellose Haut. Aus unzähligen kleinen Wunden tropfte Blut ihr Gesicht herunter. Ihre Augen schmerzten. Immer noch kämpfte sie gegen Muergo an und trat nun nach seinen Knien. Alle Aktionen schienen Muergo nicht im geringsten zu beeindrucken. Hilflosigkeit keimte auf. Muergo nahm Kelly unvermittelt in eine Trageposition, gleich einem Bräutigam, der seine Angebetete gerade über die Schwelle zu tragen gedachte. Dann winkelte er sein rechtes Knie an und schmetterte Kelly mit dem Rücken voran auf das Knie, gefolgt von einem lautstarken Knackgeräusch. Kelly riss konsterniert die Augen auf, als sie langsam von Muergos Knie herabrutschte und ungebremst auf dem Boden aufschlug. Sie war nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen und diese Lähmung resultierte dieses Mal nicht aus purer Angst. Es war eine Körperlähmung bei vollem Bewusstsein. Kelly versuchte zu schreien, so laut sie nur konnte, doch außer einem kaum zu vernehmenden Keuchen brachte sie keinen Laut hervor. Muergo huschte ein düsteres Lächeln über das Gesicht.
Er zog sie einem Müllsack gleich in Richtung der Tür und platzierte Kellys regungslosen Leib direkt unterhalb des Schutzgatters. Während ihre Beine noch im Spielwarenladenbereich lagen, so ruhte ihr Kopf nun auf dem Flur des Einkaufszentrums, geradewegs zur Decke starrend. Muergo packte ruppig den Hebel, der das Sicherheitsgatter des Ladens herunterfahren ließ. Langsam löste sich die metallene Schutzwand aus der Verankerung und senkte sich quietschend in Richtung des Bodens. Kelly sah, wie sich das rostige Gatter klappernd ihrem Gesicht näherte, gefangen in ihrer eigenen Unbeweglichkeit. Lediglich ihre geröteten Augen huschten panisch umher.
Das quietschende Gatter stoppte plötzlich auf halber Höhe. Verwunderte betätigte Muergo den Schalter noch einige Male, doch das Gatter schien sich verklemmt zu haben. Für einen kurzen Augenblick dachte Kelly, ihre Gebete seien erhört wurden. Muergos Hände umschlossen das Gatter. Kelly schaute ihm an seinen Beinen entlang direkt in die Augen, als auch er den Kopf noch einmal senkte. Der Blick war eiskalt, ohne jegliches Mitgefühl, fernab jeglichen Bedauerns, jeder Barmherzigkeit, jeder Anteilnahme, jeder Reue. Kelly erkannte nur schieren Hass und reine Abscheu und wusste, dass ihre letzten Sekunden angebrochen waren. In Erwartung des baldigen Todes schloss sie die Augen. Muergo riss das festklemmende Gatter kraftvoll nach unten, worauf dieses zu Boden schoss. Die scharfe Kante schmetterte direkt in Kellys Mund und trennte den Teil des Kopfes oberhalb des Kinns vollständig ab. Dunkelrotes Blut sickerte geräuschlos über den Flur.
Als Muergo den abgetrennten Teil des Kopfes an den blutverklebten Haaren aufhob, begann er, die Melodie von „Jingle Bells“ zu pfeifen. Kellys Kopf landete dumpf flatschend in seinem großen, braunen Sack, den er hinter sich her zog, als er langsam den Flur Richtung Ausgang entlang schritt. Der über den Boden schleifende Sack hinterließ eine feucht glänzende Blutspur. Immer noch ertönte die Melodie von „Jingle Bells“.
Die Wachablösung um 22 Uhr bemerkte sofort die drei grausam entstellten Leichen im Überwachungsraum und alarmierte umgehend die Polizei. Fassungslos und erschüttert bargen die herbeigeeilten Polizisten die barbarisch dahin gemetzelten Leichname. Auch auf den sichergestellten Videobändern konnte man die entsetzlichen Akte verfolgen, auch wenn das Fehlen des Tons den Bildern eine beinahe anonyme Kälte verlieh. Selbst den routiniertesten Ermittlern drehte sich angesichts der rohen Gewalttätigkeit der Morde beinahe der Magen um. Vielen standen die Tränen in den Augen. Nicht zuletzt, weil sie es einmal mehr nicht verhindern konnten, dass der „Christmas Killer“ wieder zugeschlagen hatte.
Dieses Mal hatte er nicht im dunklen Wald gemordet. Er mordete auch nicht in einem Haus am Stadtrand von Port Snowflake. Nein, dieses Jahr richtete er ein Massaker an einem öffentlichen, frei zugänglichen Ort an. Eine Tat, die den Bürgern von Port Snowflake mehr denn je das Sicherheitsgefühl rauben sollte, welches nach den Ereignissen von 2002 und 2005 ohnehin massiv geschwunden war. Das ungute Gefühl, die schleichende Angst, das latente Unbehagen eines jeden Bürgers würde zukünftig in schiere Panik ausarten, sobald man wieder das Kalenderblatt des Novembers abgerissen hatte und einem Countdown gleich die Tage verstrichen, sich immer mehr dem Heiligabend annähernd, bis dieser schließlich und unvermeidbar eintreten würde. Muergo hatte den Bürgern das Gefühl der Liebe und Geborgenheit genommen, das ein jeder am Weihnachtsabend verspürte. Er hatte das Weihnachtsfest seiner Friedlichkeit und Unschuld beraubt. Er hatte es geschafft, das Fest der Liebe zum Tag des Terrors ausarten zu lassen.
Sheriff Jesse Larkins, der sein Amt erst im Sommer dieses Jahres angetreten hatte, schritt über die knirschenden Scherben des Spielwarenladens und ging langsam in die Knie. Seine weißen Handschuhe der Spurensicherung umfassten den blutverschmierten Rauschebart, den Kelly Muergo vom Gesicht gerissen hatte. Larkins schwor sich Rache. Rache für die grausam hingerichteten Opfer. Rache für das Weihnachtsfest, das seine Unschuld eingebußt hatte. Rache für die Unsicherheit und Beklommenheit, die sich in seine Kleinstadt geschlichen hatte, zu deren Schutz er sich verpflichtet hatte. Seine Hand zitterte vor Anspannung und seine Knöchel verfärbten sich bereits weiß, als er den Rauschebart wuterfüllt zusammendrückte. Er wollte Muergo fassen. Er musste Muergo fassen. Und wenn es das Letzte sein sollte, was er in seinem Leben noch tun sollte. Er war bereit zu warten. Ein Jahr lang müsste er sich gedulden. Von jetzt an würde er ebenfalls die Tage rückwärts zählen.
To be continued…