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Stille im Advent
Die ganze Familie sitzt um den Tisch, die Hände im Schoss gefaltet und spricht gemeinsam das Tischgebet. Doch jemand spricht nicht mit. Sie sitzt einfach nur dort, hört die Worte der anderen und ist doch in Gedanken versunken. Als das Gebet mit dem Amen beendet wird, wünschen sich alle einen guten Appetit und beginnen zu essen. Nur jemand isst nicht. Sie sitzt einfach nur dort, hört das Geschirr der anderen klappern und ist doch in Gedanken versunken. Die Kerzen auf dem Tisch brennen, jedenfalls zwei der vier. Es ist der zweite Advent, und alle tuen so fromm, doch sie sind es alle nicht. Sie tun so als ob, weil es sich so schickt. Weil es so erwartet wird. Langsam löst sich das Mädchen aus ihrer Starre und beginnt wie ferngesteuert auch zu essen. Die Gespräche am Tisch sind die üblichen belanglosen. Das Wetter, die Tatsache, dass es noch immer noch nicht geschneit hat. Ihr ist das egal, sie mag den Winter auch ohne Schnee. Die Kälte ist es doch, die den Winter ausmacht. Schnee ist da doch mehr eine Nebensache. Ihre Familie ist anderer Meinung, und sie weiss das. Also schweigt sie. Die Schwestern werden gefragt, wie es in der Schule lief. Sie beklagen sich über die üblichen Lehrer, die Prüfungen und den Stress vor den Ferien. Sie schweigt, denn von ihr will man nichts wissen. Von ihr wird erwartet, dass sie immer gute Noten schreibt und mit allen Lehrern gut auskommt. Also schweigt sie. Wie es denn mit den Mitschülern so laufe, will die Mutter wissen. Doch nicht von ihr. Sie hat keine Freunde, was soll sie also erzählen. Also schweigt sie. Auch die Tischgespräche verstummen. Alle haben aufgegessen und beginnen, den Tisch abzuräumen. Auch sie steht auf und räumt ihr Geschirr in den Geschirrspüler. Dann setzt sich die Familie wie an jedem Adventssonntag ins Wohnzimmer, bei Kerzenschein, und jeder geht einer Beschäftigung nach. Die jüngere Schwester beginnt die Hausaufgaben zu machen, die ältere liest ein Buch. Die Mutter strickt an ihrem Schal weiter und der Vater löst ein Kreuzworträtsel. Und sie sitzt einfach nur da und starrt in die Flamme der Kerzen. Wie schön still es doch im Advent sei, sagt die Mutter und unterbricht dadurch für einen Moment die Stille. Und dann schweigen wieder alle, und wie das Licht der Kerzen breitet sich die Stille im Raum aus. Und sie hört das Rascheln der Blätter der Zeitung und des Buches, das Klappern der Sticknadeln und das Kratzen des Füllers auf dem Papier. Und sie versinkt in ihre Gedanken und schweigt. So schön still ist es im Advent.
Fortsetzung:
Doch diese Stille muss aufhören, jetzt sofort. In ihrem Kopf hat sie diese Szene schon tausend Mal durchgespielt. Einfach aufstehen und all das rausschreien, was sie die letzten Jahre runtergeschluckt hat. Doch jetzt, in diesem Moment, in dem es ernst wird, packt sie doch die Angst. Was werden ihre Eltern sagen, was werden ihre Schwestern sagen? Werden sie überhaupt etwas sagen oder werden sie schwiegen, so wie sie es immer getan hat? Doch sie weiss, wenn sie es jetzt nicht tut, dann wird sie es nie tun. Und so steht sie auf. Niemand reagiert, alle gehen ihrer Arbeit weiter nach. Und sie beginnt zu schreien. Wie ein Messer zerschneiden ihre Worte die besinnliche Atmosphäre.
„Wisst ihr eigentlich, was mit mir los ist? Interessiert es irgendjemanden, wie es mir geht? Bin ich für euch überhaupt noch da? Oder habt ihr mich schon vor Jahren abgeschrieben? Ich war immer die, die geschwiegen hat, doch das ist jetzt vorbei! Ich kann nicht mehr! Wisst ihr, wieso ich seit Jahren nur noch lange Ärmel trage? Hier, seht es euch an! Seht all die blutigen Wunden, die ich mir selbst zugefügt habe! Verdammt, ich hasse mich so sehr, so sehr könnt ihr mich gar nicht hassen. Ich wollte mich umbringen, doch euch hat es nicht interessiert. Mamma, ich weiss, dass du mein Tagebuch gelesen hast. Ich habe dich dabei beobachtet. Doch du hast nichts getan. Ihr alle habt nichts getan. Ich kann nicht mehr schweigen. Ich will nicht mehr die Stille ertragen. Ich kann nicht mehr!“ Tränenüberströmt steht sie da und sieht in starre Gesichter. Keine Reaktion ist zu sehen, niemand sagt ein Wort. Niemand scheint sie zu verstehen. Weinend rennt sie aus dem Raum, aus dem Haus, packt im Flur noch schnell ihre Jacke und rennt zur Tür hinaus. Raus in die Kälte. Der beissende Wind schlägt ihr ins Gesicht, es hat tatsächlich begonnen zu schneien. Die Lichter der Strassenlampen verschwimmen vor ihren Augen und sie läuft immer weiter. Weg von allem. Wohin ist ihr egal, nur weg von dieser scheinheiligen Familie. Sie haben immer so getan, als wäre alles ok. Doch nichts ist in Ordnung, überhaupt nichts. Sie rennt immer weiter in die Nacht, rennt in die Dunkelheit, die ihr schon so bekannt ist, bis sie keine Luft mehr bekommt. Dann sinkt sie in sich zusammen, liegt weinend auf dem kalten Boden. Sie ist fertig mit allem, fertig mit der Welt, fertig mit diesem Leben. Sie will nur noch sterben. Wozu soll sie noch leben? Ihre Familie interessiert sich nicht für sie, keiner tut das. Sie will nur noch schlafen, im Schlaf alles vergessen. Sie spürt die Kälte und den gefrorenen Boden unter sich nicht, sie spürt gar nichts mehr. Sie will einfach nur noch schlafen. Und so schliesst sie die Augen und schläft ein. In der Kälte, im fallenden Schnee. Und sie weiss, dass sie nie wieder aufwachen wird, und sie lächelt. Das erste ehrliche Lächeln seit Jahren.
Am nächsten Morgen bekommen die Eltern Besuch von der Polizei, die ihnen erzählt, dass ihre Tochter erfroren aufgefunden wurde. Die Mutter bricht in Tränen aus, der Vater verfällt in eine Schockstarre. Die Schwestern werden es erfahren, wenn sie aus der Schule nach Hause kommen. Am Abend sitzen alle wieder im Wohnzimmer, und die Stille ist nun nicht mehr besinnlich, nicht mehr schön, sondern erdrückend. Und sie alle fragen sich, ob sie nicht etwas hätten tun können. Doch keiner sagt etwas. Alle schweigen. Und wieder ist es still im Advent. Totenstill.