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Stille Gedanken
Der Mann sass auf einem Stuhl und blickte in den Spiegel. Ein altes, müdes Gesicht blickte zurück. Die Augen milchig und trüb. Leblos. Das schüttere Haar zerzaust und spröde.
Seine nackten Schultern waren gebeugt, so als würde das Gewicht der Welt sie niederdrücken.
Um die Hüfte hatte er ein Tuch geschlungen und Wasser tropfte leise auf den Boden. Der Mann hörte jeden Tropfen laut widerhallen im stillen Zimmer. Er stellte sich vor, wie das Wasser auf dem dunklen Holzboden zersprang und in alle Richtungen spritzte. Immer wieder. So gleichmässig, wie das Ticken einer Uhr, wenn der Sekundenzeiger sprang.
Die Hände, welche zuvor gefaltet im Schoss gelegen hatten, legten sich nun bedächtig auf die Knie. Dann rieben sie langsam über die rauen Stoppeln am Kinn. Leiste knirschten die Härchen. Der Mann mochte dieses Geräusch.
Er griff nach einer Dose mit Rasierschaum und sprühte sich einen Klecks in die Hand. Behutsam verteilte er ihn auf der Oberlippe, den Wangen und dem Hals, bis kein Flecken Haut mehr zu sehen war. Er sah aus, als hätte er einen dichten, weissen Bart. Wie der Weihnachtsmann. Der Mann lächelte.
Das Rasiermesser sprang mit einem leisen Klicken auf und die Schneide glänzte im Sonnenlicht, das durch ein kleines Fenster ins Zimmer schien. Langsam und vorsichtig schabte er die Stoppeln ab. Das Geräusch des Messers auf seiner Haut hatte etwas Beruhigendes. Immer wieder wusch er es in der kleinen Wasserschale neben dem Spiegel.
Als er fertig war, legte er das Messer sanft in die oberste Schublade des Tischchens und schloss sie wieder.
Dann ging er hinüber zum Kleiderschrank und zog den Bügel mit seinem besten Anzug heraus. Er legte ihn aufs Bett, sorgfältig darauf bedacht, dass er keine Falten warf.
Das Tuch wickelte er von seinen Hüften und hängte es über den Stuhl. Anschliessend kleidete er sich an. Zunächst Unterhosen und Socken. Die Socken zog er langsam über die Füsse, damit er nicht versehentlich hängen blieb. Das weisse Hemd und die Anzughose passten noch immer hervorragend, obwohl er beides schon lange nicht mehr getragen hatte. Er fädelte einen schmalen Gürtel aus braunem Leder in die Schlaufen, steckte die Nadel ins Loch und zog ihn fest. Soweit so gut.
Als er die Arme in die Ärmel der Jacke steckte und sie sich überstreifte, nahm er überdeutlich wahr, wie das samtene Innenfutter seine Haut streichelte. Er stellte sich vor den Spiegel, rückte die Hose zurecht und knöpfte dann langsam die Jacke zu. Sie passte wie angegossen.
Er ging zurück zum Schrank und nahm die Sonntagsschuhe hervor. Langsam schlüpfte er hinein und knotete die Schnürsenkel. Dabei summte der Mann leise die Melodie von Vivaldis Winter.
Die Absätze der Schuhe klackten auf dem Holzboden, als er zu dem kleinen Tischchen zurückging. Sein Blick fiel auf den dunklen Gegenstand neben dem Brief, den er erst kürzlich geschrieben hatte. Später, noch nicht, sagte er zu sich selbst.
Aus der Schublade nahm er einen Kamm und strich sich das dünne, spröde Haar zurück. Immer wieder fuhren die Zähne über seine Kopfhaut und er genoss das kribbelnde Gefühl, dass sie hinterliessen. Dann legte er auch den Kamm zurück und begutachtete sich im Spiegel. Fast liebevoll strich er über die dunkelblaue Anzugjacke, fühlte den edlen Stoff unter seinen gichtgekrümmten Fingern.
Aus einem kleinen Fläschchen tupfte er sich etwas Duftwasser auf die Wangen und die Kehle. Anschliessend öffnete er ein silbernes Etui und nahm eine dicke Zigarre heraus.
Im Etui befanden sich auch ein Briefchen mit Streichhölzern und ein Zigarrenschneider. Vorsichtig schnitt er das eine Ende der Zigarre ab und riss ein Streichholz an. Langsam rollend, hielt er den Tabak in die Flamme, bis er sanft glühte. Dann zog er daran und genoss den schweren, würzigen Rauch, der seinen Mund füllte. Langsam blies er ihn wieder aus und sah den blauen Kringeln zu, die sich zur Zimmerdecke wanden. Er versuchte an nichts zu denken. Ein paar Mal zog er noch an der Zigarre, dann legte er sie in den Aschenbecher. Er nahm den Gegenstand, der neben dem Brief lag. Eine Weile betrachtete er ihn nur. Es war gut so. Der Mann lächelte.
Der Lauf des Revolvers fühlte sich kalt an, als er ihn gegen die Schläfe drückte.