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Stille Gedanken

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13.07.2015
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Stille Gedanken

Der Mann sass auf einem Stuhl und blickte in den Spiegel. Ein altes, müdes Gesicht blickte zurück. Die Augen milchig und trüb. Leblos. Das schüttere Haar zerzaust und spröde.
Seine nackten Schultern waren gebeugt, so als würde das Gewicht der Welt sie niederdrücken.
Um die Hüfte hatte er ein Tuch geschlungen und Wasser tropfte leise auf den Boden. Der Mann hörte jeden Tropfen laut widerhallen im stillen Zimmer. Er stellte sich vor, wie das Wasser auf dem dunklen Holzboden zersprang und in alle Richtungen spritzte. Immer wieder. So gleichmässig, wie das Ticken einer Uhr, wenn der Sekundenzeiger sprang.
Die Hände, welche zuvor gefaltet im Schoss gelegen hatten, legten sich nun bedächtig auf die Knie. Dann rieben sie langsam über die rauen Stoppeln am Kinn. Leiste knirschten die Härchen. Der Mann mochte dieses Geräusch.
Er griff nach einer Dose mit Rasierschaum und sprühte sich einen Klecks in die Hand. Behutsam verteilte er ihn auf der Oberlippe, den Wangen und dem Hals, bis kein Flecken Haut mehr zu sehen war. Er sah aus, als hätte er einen dichten, weissen Bart. Wie der Weihnachtsmann. Der Mann lächelte.
Das Rasiermesser sprang mit einem leisen Klicken auf und die Schneide glänzte im Sonnenlicht, das durch ein kleines Fenster ins Zimmer schien. Langsam und vorsichtig schabte er die Stoppeln ab. Das Geräusch des Messers auf seiner Haut hatte etwas Beruhigendes. Immer wieder wusch er es in der kleinen Wasserschale neben dem Spiegel.
Als er fertig war, legte er das Messer sanft in die oberste Schublade des Tischchens und schloss sie wieder.
Dann ging er hinüber zum Kleiderschrank und zog den Bügel mit seinem besten Anzug heraus. Er legte ihn aufs Bett, sorgfältig darauf bedacht, dass er keine Falten warf.
Das Tuch wickelte er von seinen Hüften und hängte es über den Stuhl. Anschliessend kleidete er sich an. Zunächst Unterhosen und Socken. Die Socken zog er langsam über die Füsse, damit er nicht versehentlich hängen blieb. Das weisse Hemd und die Anzughose passten noch immer hervorragend, obwohl er beides schon lange nicht mehr getragen hatte. Er fädelte einen schmalen Gürtel aus braunem Leder in die Schlaufen, steckte die Nadel ins Loch und zog ihn fest. Soweit so gut.
Als er die Arme in die Ärmel der Jacke steckte und sie sich überstreifte, nahm er überdeutlich wahr, wie das samtene Innenfutter seine Haut streichelte. Er stellte sich vor den Spiegel, rückte die Hose zurecht und knöpfte dann langsam die Jacke zu. Sie passte wie angegossen.
Er ging zurück zum Schrank und nahm die Sonntagsschuhe hervor. Langsam schlüpfte er hinein und knotete die Schnürsenkel. Dabei summte der Mann leise die Melodie von Vivaldis Winter.
Die Absätze der Schuhe klackten auf dem Holzboden, als er zu dem kleinen Tischchen zurückging. Sein Blick fiel auf den dunklen Gegenstand neben dem Brief, den er erst kürzlich geschrieben hatte. Später, noch nicht, sagte er zu sich selbst.
Aus der Schublade nahm er einen Kamm und strich sich das dünne, spröde Haar zurück. Immer wieder fuhren die Zähne über seine Kopfhaut und er genoss das kribbelnde Gefühl, dass sie hinterliessen. Dann legte er auch den Kamm zurück und begutachtete sich im Spiegel. Fast liebevoll strich er über die dunkelblaue Anzugjacke, fühlte den edlen Stoff unter seinen gichtgekrümmten Fingern.
Aus einem kleinen Fläschchen tupfte er sich etwas Duftwasser auf die Wangen und die Kehle. Anschliessend öffnete er ein silbernes Etui und nahm eine dicke Zigarre heraus.
Im Etui befanden sich auch ein Briefchen mit Streichhölzern und ein Zigarrenschneider. Vorsichtig schnitt er das eine Ende der Zigarre ab und riss ein Streichholz an. Langsam rollend, hielt er den Tabak in die Flamme, bis er sanft glühte. Dann zog er daran und genoss den schweren, würzigen Rauch, der seinen Mund füllte. Langsam blies er ihn wieder aus und sah den blauen Kringeln zu, die sich zur Zimmerdecke wanden. Er versuchte an nichts zu denken. Ein paar Mal zog er noch an der Zigarre, dann legte er sie in den Aschenbecher. Er nahm den Gegenstand, der neben dem Brief lag. Eine Weile betrachtete er ihn nur. Es war gut so. Der Mann lächelte.
Der Lauf des Revolvers fühlte sich kalt an, als er ihn gegen die Schläfe drückte.

 

ozymandiaz schreibt:

Hey Leute

Ich möchte zunächst mal gar nicht gross erklären, worum es geht, sondern euch einfach mal fragen, wie ihr es findet.
Danke für ehrliche Rückmeldungen.

Anmerkungen zur Geschichte bitte in einen extra Beitrag ;)

 
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Hola Ozymandiaz,

ganz anders als bei Deiner Prinzen-Geschichte, schlafe ich bei diesem Text fast ein.
Das ist ja ganz furchtbar, wenn ich jemanden beim Rasieren und Anziehen zuschauen muss!

Vielleicht ist es ein Text-Experiment, ein Test, wie viele Leser bis zum Schluss durchhalten?

Ich kann wirklich nicht sagen, dass ich das gern gelesen habe – eher fühle ich mich verschaukelt.
Tut mir leid, diesmal.
José
PS:

... , wie das samtene Innenfutter seine Haut streichelte.
Futter ist meist Seide, nie Samt.

... , steckte die Nadel ins Loch und zog ihn fest.
Eine Nadel ist es nicht, und erst zieht man ihn fest und steckt dann den Stift ins Loch.

Immer wieder fuhren die Zähne über seine Kopfhaut
Ein Kamm hat Zinken.

 

Hej ozymandiaz,

die letzten Minuten (?) im Leben eines alten Mannes zu begleiten ist kein Vergnügen und schon gar nicht, wenn er sich nur dafür körperlich bereit macht und ich nichts darüber erfahre, was ihn treibt.

Wenn ich dann auch noch lese, dass er dies und das mag, ihn freut oder er etwas genießt, dann wird die Story unglaubwürdig oder zumindest verwirrend.

So mein Leseeindruck. :shy:

Freundlicher Gruß, Kanji

 

Hallo!

Also meinen Geschmack triffst Du mit Deinem Textchen voll und ganz.

Mir gefällt es, wie Du den Mann nach und nach sichtbarer machst, sein Alter, seine Eigenarten, so manchen alltäglichen Habitus, der ihm wichtig ist, während doch sehr früh auch diese seltsame Aura der Auswegslosigkeit - woraus auch immer sie sich formiert: Einsamkeit, Schmerzen, anderes - mitschwingt. Das alles wirkt auf mich faszinierend und beklemmend zugleich. Und grrr: Ich hasse den Schluss. Ja! Aber ich wusste auch irgendwann, dass er kommen würde. Tat trotzdem weh. Oder vielleicht gerade deshalb.

Puh.

LG
Die Schleife

 
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Ozymandiaz, König der Könige,

der ganze Text wirkt auf mich wie eine Übung in Sinnlichkeit, ein Hinwenden zum "Spüre die Welt" - ich bekomme vermittelt, wie sich Dinge anfühlen, klingen, was die Figur mag, welche Vorstellungen sie hat.

diese stille Miniatur eines Menschen der außer Reproduktion eben das tut was wir hier tun: Leben und sich entscheiden, fühlen und denken. und es sind ja meistens die vermeintlich kleinen Dinge, aus denen Alltag und All-Tage bestehen. die letzteren ergeben sich durch das perfekte oder passende oder glückhafte Aneinanderketten von Details: ein großes Leben, eine sich groß anfühlende Erkenntnis, ein spezifisches Gefühl, the perfect day.

doch darum geht's hier nicht. hier tritt jemand aus dem Leben bzw hat es konkret vor, als wären Leben und Tod nichts.

Die Unmittelbarkeit wie die Pistole im Text auftaucht, verstehe ich als Versuch, die Rezipienten, deine Leser zu überraschen. Als wärest du einerseits mutig genug gewesen, eine Normseite fast nur zu beschreiben, hättest aber noch einen Mord einschieben wollen, als kurz vor Schluss klar wurde, dass die Leser sich sonst verschaukelt fühlen könnten, wenn "nichts" geschieht.
Diese Unvermitteltheit: kann mensch machen, klar, sonst stünde es nicht da. Darf genauso geschrieben werden wie die vorherige Subjektbeschreibung via Figura-Verhältnis zur Außenwelt.

Zwei Sachen fallen mir vor allem auf: 1.) nichts in den Beschreibungen des Weltverhältnisses deines Protagonisten wirkt auf mich neu, frisch gespürt, mit Kraft gedacht. es ist aber gerade ein Kennzeichen von sinnlichen Menschen, dass sie eben ihr lustvolles Weltverhältnis nicht durch Routine-Wendungen ausdrücken. wer routiniert lebt, fühlt und denkt, ist eher im Zombiemodus unterwegs und das zurecht, denn Routinen sparen Zeit, die ja kostbar sein soll, weil sie gleich Geld sei. Menschen, die ihre Zeit fürs Wahrnehmen investieren, wollen meistens eben diesen Routinen entgehen oder spüren sie ohnehin nicht. das hat nichts mit einem zeitgenössischen Ringen um Individualität oder Kreativität zu tun, sondern das Leben erscheint eben individuell, wenn man genau hinsieht.
hier aber begegnen mir Alltagswendungen und -ideen, die allesamt so oft gelesen und gesagt wurden, dass sie ihren Inhalt verloren haben. wenn ich den Text zur Hälfte als Übung im Schauen begreife, bleibt der Eindruck, es wurde entweder nicht genau hingesehen, oder der Schreibende habe kein echtes Verhältnis zur Figur.

keine Reflektion übers Leben oder den Tod? ich meine keine shakesbiersche Grandezza, die hohe Philosophie, sondern konkrete Erinnerungen, banale Überlegungen, Hoffnung auf Gelingen der Eigentötung und auf schmerzlosen Tod (der bei SM mit Revolver nicht selbstverständlich sein soll) ...

2.) eben Selbstmord. Große Sache. Mit welchem Werkzeug, aus welchem Grund? mit welchen Gedanken und Gefühlen geht der Mensch daran, sein Vorhaben zu verwirklichen?
natürlich muss schreiben nicht realistisch sein. aber jemand der so den kleinen Dingen in sinnlicher Freude zugetan ist, wirkt nicht wie ein Todeskandidat auf mich (denn Sinnlichkeit in dieser Form ist eine Freude an sich). es erscheinen gerade im Gegenteil, ältere Menschen, die sich solchen Blick auf Welt bewahren und kultivieren konnten, als Menschen mit einer höheren Chance auf Zufriedenheit, Glücksmomente.

Mir gefallen Genauigkeit im Betrachten, das Bemühen um ein entschleunigtes Beschreiben.
Nicht gefallen mir die Beliebigkeit der Welterfahrungen eines alten Mannes, dessen Sinnlichkeit spezifischer ausgeprägt sein müsste. Mir gefällt nicht wie die Pistole auf die Bühne gebracht wird, bevor sie abgefeuert wird. Mir gefällt nicht das Nebeneinander von Beschreibungen und Selbstmord, denn es ist weder ein wechselseitiges Verhältnis zu erkennen, noch ein spannendes Gegeneinander von zB Lebenswunsch und Todespflicht (oder weiß der Deibel, welche Seelen da widerstreiten könnten).

Solche Texte sind als Übung wichtig. Aber er ist in meinen Augen eben auch das: eine Übung, kein durchgearbeiteter Text, der mich als Leser aktiviert. Mir selbst gefalllen sinnliche Figuren, gerade auch wegen den Möglichkeiten besonderer Weltsichten, ich kann solchen Texten generell was abgewinnen. Was im Einzelnen aus meiner Sicht (besipielsweise) zu tun wäre, ist geschrieben.

Kubus

 

Lieber ozymandiaz

Er versuchte an nichts zu denken.
Und genau dies nehme ich deinem Protagonisten nicht ab. Das kann ich nicht nachvollziehen, nicht in dieser Grenzsituation. Ansonsten hat Kubus in seinem ausgezeichneten Kommentar schon alles zum Text gesagt, was mir auch durch den Kopf gegangen ist:
Ein gut formulierter Text, der aber an der Oberfläche bleibt, ihre Einzelheiten akribisch beschreibt, aber nicht die der Situation entsprechende Tiefe erreicht. Zumindest empfinde ich ihn so. Und deshalb spricht er mich auch nicht an. Ich vergesse ihn nach dem Lesen, wie ich eine unpersönliche Meldung in der Tageszeitung vergesse. Und das finde ich schade und dem Thema ‚Alt-sein und selbstbestimmt sterben’ nicht angemessen.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Zunächst einmal vielen Dank für die Rückmeldungen.
Ich wäre jedoch dankbar, wenn Äusserungen wie König der Könige aussen vor blieben.

Der Text war eine Übung wie auch der Versuch, durch die Betrachtung "alltäglicher" Empfindungen das Bild des alten Mannes und seines selbst bestimmten Selbstmordes als Denkanstoss zu fungieren. Es ging mir nicht darum, in einer Seite das Verhältnis eines alten Mannes zu seinem Leben oder irgendwelche philosophischen Tiefen von Shakespeare zu erreichen. Sondern darum, dass der Leser vielleicht den Gedanken hat: "Weshalb tötet er sich? Ah ja...wenn ich könnte, würde ich auch lieber selber sterben wollen...würde ich auch die alltäglichen Dinge intensiver wahrnehmen, stünde ich kurz vor dem Tod?"
Solche Sachen...Es war mehr dazu gedacht, dass der Leser mehr denkt, als im Text zu finden ist.

Vielen Dank für die Rückmeldungen und einen schönen Abend

 

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