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Stille erwarten
„Also - das war so als ob man einen Film sieht, der aber Wirklichkeit ist.“
Laura beugte sich vor, ihr Blick schien irgendetwas Entferntes zu verfolgen, dann begann sie zu erzählen:
„Bedrohlich große, eiserne Bögen wölben kaltes Metall glasbedeckt über Gleise, diese schwarzen Linien, Gelände zerschneidend. Vereinzelt klammern sich Disteln mit ihren Wurzeln an dem Schotter fest, Halt suchend im Getöse des Kommens und Gehens.
Eine Frau, gekleidet mit einem ehemals modernen Ledermantel, hält krampfhaft einen schwer wirkenden Koffer fest, als wenn dieser verhindern würde, dass sie von dem allgemeinen Getöse, den durchfahrenden Zügen, mitgerissen wird. Das Gepäckstück ist fast leer, nur ein Schminkset, ein Nachthemd, außerdem ein Tagebuch sind in ihm. Rollenspiele, Unterschlupf, vergangene Zeiten. Sie wartet und Zeit vergeht. Der Bahnhof ist voll mit emsigen Menschen, doch ohne Mitmenschen.
Alle Zeit, die Wunden heilt, ist auf der Flucht - die Frau sollte es gleichfalls sein. Der Koffer scheint zu schwer, um zu fliehen, auch wenn das Lösegeld der Reue und bitteren Einsicht schon lange gezahlt ist.
Sie wartet, fühlt sich ausgeschlossen. Was soll die Betriebsamkeit, immerwährende Veränderung? Soll man Gegebenheiten an Wünsche anpassen, oder Wünsche an Möglichkeiten? Bedingungslose Sicherheit, ohne den Zwang letztlich unwissend entscheiden zu müssen, dies wäre ihr Schlüssel zur Zufriedenheit. Dann wiederum der nagende Wunsch, auswählen zu können, Freiheit und Glück zu erhaschen. Machtvolle äußere Zwänge lähmen das Selbstbestimmtsein der Frau, drängen die Suchende in einen Zustand voller Unzufriedenheit. Heilsame Zeit zögert unerfüllten Erwartungen näher zu kommen, die Frau aus dem Wartezustand zu erlösen. Schließlich dringt die Monotonie der Geräusche in sie ein, beruhigt ihre gehetzten Gedanken.
Jetzt, ganz überraschend …
Sie wartet, ohne festzulegen, worauf.
Ihr Leben ist allenfalls ein kleiner Teil des Weltgeschehens. Ein Ausschnitt - nun trotzdem von gleicher Bedeutung. Ein Eins-Sein mit dem ‚Es Ist’, einer inneren Unendlichkeit. Die Frau ist frei von dem Bestreben glücklich zu werden. Der Lärm hat sich in Geräusche verwandelt, welche sie in der Stille wahrnimmt. Stille saugt allen Lärm auf. Umhüllt ihn mit Lautlosigkeit. Erstickt seinen scheinbaren Sinn.
Nichts wollen,
nichts müssen,
einfach nur sein.
Plötzlich zuckte ich zusammen.
Hatte mich jemand berührt? Ein Zug war angekommen, auf dem Bahnsteig herrschte ein großes Gedränge. Ich musste lächeln, hoffentlich bin ich nicht beobachtet worden. Ja, dachte ich, das Lösegeld ist bezahlt, Vergangenes zählt lediglich in Form einer Erinnerung, nur heute konnte sie für einen Moment von Bedeutung sein. Der Koffer ist nicht mehr schwer, denn er enthält jetzt meine künstlerischen Arbeiten, das Resultat eines selbst bestimmten Lebens. Gewiss, Unglück kann immer wieder in mein Leben eintreten, es wird die gewonnene innere Stille nicht mehr verdrängen können.
Ich drehte mich abrupt um, ging zielstrebig auf den Ausgang zu, ließ altbekanntes Bahnhofgelände hinter mir, kaum waren noch die typischen Bahnsteiggeräusche zu hören. Der Platz, an dem ich gestanden hatte, war nun leer, trotz allem ohne Spur von mir.”
Laura lehnte sich zurück. Knarrend bewegte sich der mächtige Ledersessel, obwohl meine neue Freundin sehr zierlich ist. Zart ist sie, ja, so würde ich das nennen. Als „die kleine Blasse, mit widerspenstigen, schwarzen Haaren”, hat man sie schon oft beschrieben. Ich kannte nun nicht nur diese Äußerlichkeiten, sondern war froh, auch an ihren persönlichen Gedanken teilhaben zu können.
Sie hatte während ihres seltsamen Berichts sehr konzentriert gewirkt, jetzt wirkte sie deutlich entspannter. Während sie ihr Déjà-vu-Erlebnis schilderte hatte ich natürlich nicht gewagt, sie zu unterbrechen. Zu sehr versetzte sie sich beim Erzählen in das vormals Geschehene.
„Und, bist du wirklich seit diesem Erlebnis glücklicher, ausgeglichener - kann ein Moment so viel bewirken?”
Laura antwortete nicht gleich, irgendwie schien ihre Erfahrung noch nicht vergangen, sondern real, überwältigend präsent zu sein.
„Ich bin noch Ich, aber doch anders - vielleicht ‚innerlich umgedreht’?” Wir mussten beide grinsen. „Was hat sich seit damals verändert?“ Die ‚Kleine’ fuhr sich mit einer Hand durch ihre kräftigen Haare, es knisterte, dann sagte sie ganz selbstbewusst:
„Weißt du, ich lasse mich nicht mehr von der Zeit erschrecken. Das ist für mich die richtige Reaktion auf all die scheinbare Wichtigkeit der Dinge.”
Wir schwiegen.
Lautes Warten
in
einer Bahnhofshalle
Zeit zerbricht
.