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Still wie Schneeflocken, die sanft die Erde berühren
Nour war aufgeregt und für einen kurzen Moment konnte sie ihre schrecklichen Erinnerungen an die zerbombten Häuser in ihrer Heimat Syrien vergessen. Viel zu intensiv waren die Eindrücke dieser deutschen Stadt, den großen Häuserblöcken, den vielen bunten Menschen mit Einkaufstüten, die keine Angst haben müssen im Schlaf abgestochen zu werden.
Sie saß in einer gelben Straßenbahn, zusammen mit ihrer kleinen Schwester Zada. Zada war gerade erst 7 Jahre alt geworden und musste vor 13 Monaten mitansehen, wie ihre Mutter und ihr Vater von syrischen Rebellen niedergeschossen wurden. Nour konnte sich selber und Zada im letzten Moment retten: Sie versteckten sich in einem brauen Wandschrank, den der Vater selber gebaut hatte, als er noch als Tischler arbeiten konnte. Nour erinnerte sich an den Geruch des alten Holzes, als sie die herzergreifenden Schreie des Vaters hörte, der röchelnd um sein Leben flehte. Sie hielt Zada fest im Arm, bereit ihr den Mund zuzuhalten, wenn sie anfangen würde zu schreien. Aber sie war still. Still wie Schneeflocken, die sanft die Erde berühren.
Nour und Zada waren alleine auf der Flucht. Es war ein langer Weg aber die vielen Menschen, die mit ihr den Heimatort verlassen haben, waren bei ihnen. Sie waren zwar ohne Eltern aber niemals wirklich alleine. Abra, ein guter Freund der Familie, hatte immer ein Auge auf sie. Er saß nur wenige Meter entfernt von Nour auf seinem Platz und unterhielt sich mit einem Deutschen. Erst jetzt viel Nour auf, dass in der Straßenbahn auch Deutsche mitfuhren. Eine ältere Dame beobachtete sie aus dem Augenwinkel, sah aber schnell wieder weg, wenn ihre Blicke sich trafen. Direkt neben ihr stand ein Mann, vielleicht um die 50 Jahre alt und versuchte sich festzuhalten. Die Straßenbahn rumpelte durch die Stadt, die vor lauter Leben zu atmen schien. Nour war begeistert. Der Mann jedoch hatte einen finsteren Blick und immer wieder hob er genervt die Augenbraue und schüttelte leicht den Kopf; gerade so, dass man es sehen konnte. Nour konnte jedes Misstrauen in dieser Straßenbahn verstehen. Menschen, unbekannte Menschen kamen den Deutschen sehr nahe, vielleicht zu nahe. Und doch, obwohl sie bislang niemanden hat lächeln sehen können, empfand sie unendliche Dankbarkeit.
Auf einmal sah sie einen jungen Mann, der sie einen Moment zu lange anlächelte. Nour fragte sich, ob sie ihn kannte aber dem war nicht so. Sie lächelte scheu zurück und senkte den Blick. Sie sah in seine Richtung um aus dem Augenwinkel zu erahnen, ob er sie immer noch anstarrte. Sie genoss die Blicke des mysteriösen Mannes, die sie förmlich auszogen. Der Mann schien hier geboren zu sein, ihm fehlte die typische südländische Art aber so wie er sie ansah, eindringlich und direkt, ging es ihr durch Mark und Bein. Es war ein schönes Gefühl, angesehen zu werden. Ein schönes Gefühl, wahrgenommen zu werden. Gefühle dieser Art sind mit den Toten aus ihrer Straße gestorben, deshalb wurde sie von dieser Energie überwältigt. Peinlich berührt blickte sie rasch zu Zada, die aber damit beschäftigt war, ein am Boden festgeklebtes Kaugummi mit den Schuhen wegzukratzen.
Nour fasste allen Mut zusammen und erwiderte den Blick des Mannes. Seine braunen Haare, die sich leicht kräuselten. Das breite Grinsen mit den perlweißen Zähnen und den Muskelfasern, die sich kraftvoll an seinem Hals abzeichneten. Am meisten jedoch war Nour von den hellbraunen Augen fasziniert, die sie nie wieder vergessen würde. Und plötzlich, völlig ohne Vorwarnung stand er auf und ging langsam auf sie zu. Wie in Trance mühte Nour sich auf, hielt sich an der Rückenlehne fest und sah zu, wie der fremde Mann zielstrebig auf sie zuging. Ohne ein Wort zu sagen, ohne eine Begrüßung standen sie sich auf einmal gegenüber. Keiner der anderen Fahrgäste schien sie zu bemerken, alle waren vertieft in ihre Gespräche oder starrten nach draußen auf die fremde Welt, die fliegend an ihnen vorbeiraste. Der Mann hob seine Hand und legte sie sanft auf das Gesicht von Nour. Sie ließ es zu, genoss die Wärme auf ihrem Gesicht. Aber da war etwas in seinen Augen, dass sie nicht erwartete. Der Mann lächelte aber seine Augen sagten etwas anderes. Nour spürte auf einmal, dass sich etwas veränderte. Hier. Jetzt. In diesem Moment passierte etwas Gefährliches aber sie wusste nicht was. Sie hielt den Atem an, griff nach dem Arm ihrer Schwester und riss die Augen auf. Sie ahnte etwas. Sie fürchtete, dass es tatsächlich passieren würde. Sie bekam Todesangst. Der fremde Mann mit den hellbraunen wunderschönen Augen starrte sie weiterhin lächelnd an aber sein Blick wurde eindringlicher, bedrohlicher und fordernder. Für einen kurzen Moment blickte er sich abschätzend um und dann passierte es: Er nahm seine Hand von ihrem Gesicht und öffnete den ersten Knopf seiner Jacke. Nour wollte schreien aber die Angst lähmte sie. Sie konnte eine pochende Ader über seinem rechten Auge sehen. Lachend und mit geübten Händen öffnete der Mann den zweiten Knopf. Nour fing an zu zittern und Tränen schossen ihr in die Augen. Flehend sagte sie mit ihren Augen, dass der Mann damit aufhören solle aber er öffnete langsam und genüsslich die letzten zwei Knöpfe seiner Jacke. Und dann, wie in Zeitlupe schob er mit beiden Händen die Jacke zur Seite. Nour fiel zurück, knallte gegen die Scheibe, fing unkontrolliert an mit den Armen zu wedeln. Jetzt erst wurden die anderen Fahrgäste auf sie aufmerksam und beobachteten sie peinlich berührt. Sie alle konnten nicht sehen, was sie sah. Sie alle konnten nicht ahnen, was in den nächsten Sekunden passieren würde. Sie alle sahen nicht die Bombe, die der Mann unter seiner Jacke versteckte. Und sie alle fühlten nichts, als der junge Mann mit den hellbraunen Augen den Knopf drückte.