- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 16
Stilisierte Rosen
Florian Gram fühlte sich unbehaglich, das Knirschen der Kieselsteine unter seinen Schritten war das einzige Geräusch. Nebelschwaden hingen zwischen den Grabsteinen. Am grauen Himmel deutete eine helle Scheibe schemenhaft die Sonne an, milchiges Licht ausbreitend.
Erstmals hatte er mit dem Friedhof Bekanntschaft gemacht, als Grossvater starb. Der war ein bärbeissiger Mann gewesen, niemals hatte Florian ein nettes Wort von ihm gehört. Seit seiner Kindheit mied er diesen Ort, lediglich unter dem Zwang seiner Schuldgefühle fand er sich manchmal ein, auch Vater und Mutter dünkten ihm erleichtert, als man den alten Patriarchen zu Grabe trug. Obwohl, Vater hatte sich immer dreingeschickt und nach Grossvaters Tod dessen Haltung selbst mehr und mehr angenommen. Florians Mutter hatte sich immer untergeordnet. Das Begräbnis war ihr vielleicht Hoffnung gewesen, die Strenge, welche bei ihnen vorherrschte, würde nun weichen. Dem war aber nicht so. Dies könnte auch der Grund gewesen sein, warum sie nie richtig mütterliche Gefühle zeigen konnte, obwohl Florian sich ihre Zuneigung so sehr wünschte. Es war vor allem Zucht sowie Respekt der Familie gegenüber, die man ihm beibrachte. Kindliches Vergnügen, wie etwa Besuche von Jahrmärkten, hatte man ihm stets vorenthalten. Über solche Lebensfreuden hörte er nur von anderen Knaben.
Gram roch damals beim ersten Besuch den Moder, der die Luft hier durchsetzte. Wahrscheinlich war es das sich zersetzende feuchte Laub der Bäume gewesen. Doch gleichgültig zu welcher Jahreszeit, dieser Geruch war ihm fortan gegenwärtig, sobald er den Friedhof betrat.
Hinter der Wegbiegung, inmitten einer Gruppe Bäume, bot sich der Anblick der Familiengruft. Wuchtig, imposant, dem Zeitgeist seines Urgrossvaters entsprechend. Im verwitterten Stein, erhaben der Text gemeisselt: «Memento moriendum esse / Sei eingedenk, dass du sterben musst.» Links davon ein Totenkopf, rechts eine Maske, Eingeweihten als Vanitas-Symbole erkennbar. Gram hatte Abscheu davor, seit er dies erstmals erblickt hatte. Als Kind schürte es sein magisches Denken, seine Angst vor dem Tod, die er nie mehr überwinden konnte.
Mit dem Grablicht aus rotem Glas trat er auf die Gruft zu, in Gedanken bei seinen Eltern, für die er die Kerze zu entzünden beabsichtigte. Ein Funkeln aus der Ritze, nur ein kurzes, aber deutliches Aufblitzen zwischen dem Stein und der Erde, erschreckte ihn. Ein überflutendes Angstgefühl, ein Tier lauere dort und würde ihn anspringen, nahm von ihm Besitz. Durch den abwehrenden Reflex entglitt seinen Händen das Glas und zerbrach.
Seine Panik legte sich erst wieder, als er nach intensiver Beobachtung der Ritze sich sicher war, dass von dort keine Gefahr ausging.
Mit einem Draht, den er im Behälter für Grünabfall fand, scharrte er den Gegenstand, der reflektiert hatte, aus der Ritze. Drei stilisierte Rosen, geschliffene Steine als Blüten, zwei durchsichtige und ein Roter. Eine Brosche, die jemand verloren hatte. Er wunderte sich, hier bei der Gruft so etwas zu finden. Kein Verwandter, sofern überhaupt noch weit entfernte vorhanden waren, suchte diese Stätte auf.
Beim Zusammenlesen der Scherben schnitt er sich an der rechten Hand. Fluchend suchte er mit der Linken nach einem Taschentuch, die Scherben mit dem Schuh zu einer Häufung schiebend. Als er sich entfernte, ging von den Scherben ein Glitzern aus, wie funkelnd rote Augen.
Das Tor zum Gehsteig hin war beidseitig durch eine zwei Meter hohe Thuja-Hecke eingezäunt. Als er hinaustrat, stand er unmittelbar einem schwarz-braunen stämmigen Körper gegenüber. Der Rottweiler knurrte zähnefletschend, während Gram vor Schock erstarrte. Er achtete nur auf das brutale Antlitz, schwarz funkelnde Augen und bedrohlich reisserisch, zwei spitze Eckzähne entblösst. Speichel tropfte von den Lefzen.
«Hades, komm her.» Die tiefe, barsche Stimme gehört einem Mann, der den Gehsteig entlang kam. «Entschuldigen Sie bitte, Hades ist erschrocken, als Sie plötzlich vor ihn traten. Er ist sonst sanft wie ein Lamm.»
Florian Gram fühlte sich unfähig zu sprechen, er nickte nur. Die Lähmung seines Körpers wich einem Zittern, das ihn vorerst gehunfähig dastehen liess, während der Mann mit Hades sich entfernte.
Vom Friedhofsbesuch nervlich mitgenommen, sass Gram in seiner Bibliothek bei einer Tasse Tee, eingetroffene Briefe sichtend, es waren einzig Rechnungen. In der Tageszeitung gelang es ihm nicht, sich auf die Meldungen und Artikel zu konzentrieren, weshalb er sie wieder beiseitelegte. Was war geschehen? Ich erschreckte mich zweimal heftig aufgrund von Zufällen. Mit einem gezwungenen Lachen versuchte er, seine Angst abzutun. Doch war dieser Fund ein Zufall? Dieser Friedhof erzeugte ihm Beklemmung, gab ihm das Gefühl von stetig lauernder Gefahr. Dann noch dieser Hund, Hades. Wie kann man seinen Hund Hades nennen, die mythologische Unterwelt symbolisierend? Nein, das sind schon mehr als Zufälle, ungute Zeichen.
Die Zeit vergessend sass er lange da, mit düsteren Gedanken an diese Totenwelt, als sein unsteter Blick auf den alten Einband eines Buches fiel. Es war aus dem Nachlass, er hatte es nie gelesen. Einzig Respekt hatte ihn davon abgehalten, es wegzugeben, als sein Vater starb. Warum bemerke ich ausgerechnet jetzt dieses Buch? Es sind da viele, dies aber das Einzige, welches ursprünglich aus der Bibliothek von Urgrossvater stammt. Ihm trat das ungute Gefühl auf, es berge ein düsteres Geheimnis und könnte vielleicht mit den Schrecken des heutigen Tages zusammenhängen. Widerstrebend erhob er sich und trat an die Bücherwand. «A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful», war auf dem Buchrücken zu lesen. Er kannte den harmlos klingenden Titel und doch zögerte er, bis er endlich danach griff. Da war das Zittern wieder, diesmal nur in den Händen. Vorsichtig legte er den Buchdeckel um, die erste leere Seite, welche kleine modrige Flecken wie Tintenkleckse enthielt, umschlagend. Verfasst war es von Edmund Burke, erschienen im Jahr 1757. Jeweils einige Sätze lesend, blätterte er darin. Sie klangen altmodisch und konservativ, aber unverfänglich. Ein klassisch philosophischer Text der empiristisch-sensualistischen Ästhetik, die ihn nicht interessierte. Als er die weiteren Seiten wie bei einem Daumenkinobuch vorbeiziehen liess, fiel ein Brief - wie er erst meinte - zu Boden. Auf einem alten Pergamentpapier bot sich dem Betrachter die Zeichnung eines Totenschädels an, umgeben von Blumen. Rosen waren es. Darunter in veralteter Handschrift nur schwer entzifferbar notiert: «In der Vanitas-Symbolik gilt die Rose als Blume der Venus und vertritt vor allem die Liebe und die Sexualität. Die weltliche Liebe ist – wie alles Menschliche – eitel.» Darunter war mit einer aktuelleren Handschrift, Gram glaubte die seines Vaters zu erkennen, besser lesbar geschrieben: «Aber die Liebe der Venus verdient es, durch die Rose gehuldigt zu werden.» Was sollte dies bedeuten? Mit Vanitas-Symbolen hatte Urgrossvater die Familiengruft ausstatten lassen. Die Rosen! Ihn schauderte. Es ist doch kein Zufall gewesen.
Mit einer Lupe besah er sich nun die stilisierten Rosen. Die Steine müssen echt sein, Diamanten und ein Rubin. Die Stiele und Blätter sind kein gewöhnliches Metall, nicht Silber, wahrscheinlich Weissgold oder Platin. Ein kostbares Stück, das man nicht einfach verliert. Aus der Gruft der Familie, eine Botschaft an mich? So unheimlich ihm der Ort auch vorkam, an Geister oder Untote wollte er nicht glauben, doch es fehlte ihm an Gewissheit. Die Vorstellungen, welche in seiner Familie geherrscht hatten, waren noch immer gegenwärtig, obwohl sein Vater nun schon seit vielen Jahren tot war. Die Ölbildersammlung seiner Familie, welche Szenen der Vergänglichkeit darstellten, hatte er damals, ebenso wie alte Bücher zu diesem Thema, gut verpackt in den Estrich gestellt. Sie waren ihm unheimlich. Sie wegzugeben stand jedoch im krassen Gegensatz zur Ehrfurcht seiner Familie gegenüber, das getraute er sich nicht.
Lange wälzte er sich im Bett herum, bis er Schlaf fand. Doch selbst dann wollten seine Gefühlsregungen und die Ängste sich nicht beruhigen.
Alsbald wandelte er vorsichtig, um sich spähend, zwischen Grabsteinen. Spurensuche, wonach? Er wusste es nicht, und doch musste es etwas sein, das ihn magisch anzog. Hinter einem Stein versteckt schaute er zur Gruft, die Nebelschwaden strichen sanft um das Steinwerk. Sein Blick tastete die Ritzen entlang, immer wieder meinte er Augenpaare wahrzunehmen, doch wenn er die Stellen fixierte, war nichts zu erkennen. Er wollte schon sein Versteck verlassen, als er in der Ritze zwischen Stein und Erde eine Bewegung bemerkte. Ein schmaler, kleiner Körper schob sich heraus, da noch einer und noch einer. Aus der Entfernung wirkten sie wie helle, langsam kriechende Tiere. Grottenmolche? Er hatte noch nie solche gesehen, doch besass er eine vage Vorstellung davon. Es kamen noch mehr, bereits fünf, die sich herausquälten. Da, ihm stockte vor Schreck der Atem, es waren keine Molche, sondern eine skelettierte Hand, der ein Unterarmknochen folgte. Wie suchend tasteten die Fingerknochen umher, zunehmend hektischer werdend.
Die Rosen! Klar, die Hand suchte die Rosen. Man wird mich bestrafen, wenn sie merken, dass ich sie mir wie ein Dieb aneignete. Dabei war es keine böse Absicht. Gut, ich habe sie herausgekratzt, aber in der Meinung ein Besucher habe sie verloren. Eine zweite Hand war nun dazu gekommen, die Erste unterstützend. Ich muss etwas unternehmen, bevor sich auch der Kopf der Suche anschliesst und mich entdeckt.
Vorsichtig machte er ein paar Schritte vorwärts, bis er überzeugt war, nahe genug zu sein. Der Radius der Suche war schon über einen halben Meter im Halbkreis ausgeweitet. Die Ritze begann sich ganz langsam zu dehnen, eine Schädelplatte, die nach oben drückte, wurde sichtbar. Sich auf die Distanz konzentrierend, warf er die stilisierten Rosen in Richtung der einen Hand. Er hatte sich verschätzt, und sie stiessen mit einem klackenden Geräusch an die Fingerknochen. Schnell setzte er zurück, sich hinter dem Stein kauernd, noch einen Blick zur Gruft werfend. Die Hand bewegte sich wild tastend, und als sie die Rosen fand, diese mit festem Griff packend. Als er wieder wagte, vorsichtig um den Stein zu spähen, sah er eben noch die Faust mit den Rosen in der Öffnung verschwinden, die sich danach wieder bis auf eine geringe Breite schloss. Er atmete auf, es war nochmals gut gegangen, die Gestalt war nicht herausgekommen. Er erhob sich, um davonzuschleichen, als ein Beben und Rumpeln seinen Schritt verharren liess. Mit aufgerissenen Augen sah er, dass das Monument der Familiengruft wankte und in sich zusammenzustürzen drohte.
Schweissgebadet und am ganzen Körper schlotternd wachte er auf, das Grauen der Traumvision nicht mehr länger ertragend. Im Licht der Nachttischlampe sah er die Blüten der Rosen funkeln, wie dämonische Augen. Ich muss sie wohl zurückbringen, damit die Toten wieder zur Ruhe kommen. Zu wem gehörten wohl die Hände? Urgrossvater oder Vater? Oder war es gar die von Mutter? An die Feinheit der Glieder konnte er sich nicht erinnern, der Traum war ihm nur noch fragmentarisch bewusst, meinte aber an einzelnen Knochen teils morsch abgebrochene Stellen bemerkt zu haben. Also eher eine der Gross- oder Urgrosseltern? Er hatte keine Ahnung, wie lange ein Knochen kompakt blieb, bis Porosität ihn erodieren liess.
Nein, es kann nicht sein, es war nur ein Traum. Oder doch eine Botschaft der Toten? Der Zweifel nagte an seinem Widerstand, daran zu glauben, dass Tote mit Lebenden in Verbindung treten könnten. Es war eine Gefahr, die von der Gruft ausging, da war er sich aber sicherer als je. Vielleicht funktioniert das Unbewusste ja wie ein Gefahrenkataster, dessen Sensoren den Menschen zu lenken vermögen? War die Traumvision ein Hinweis, die Toten nicht zu erzürnen? Er würde die Rosen zurückbringen, um diesem Desaster entkommen zu können. Den Friedhof wollte er danach nie wieder betreten.
Nachdem er eine Tasse lauwarme Milch getrunken hatte, siegte die Müdigkeit über seine Unruhe und er schlief wieder ein. Düstere Bilder jagten ihn diesmal zusammenhangslos, nicht weniger furchterzeugend, aber nicht mehr derart, dass er davon aufschreckte. Als er bei Tagesanbruch erwachte, fühlte er sich nicht ausgeruht.
Das Erste, was ihm auffiel, war, dass im Wohnraum die Stühle verrückt waren. In der Bibliothek lagen einige Bücher am Boden, darunter auch jenes von Burke. Es musste jemand hier gewesen sein, der etwas suchte oder einfach wütete. Ein Zittern erfasste ihn wieder. Nur die Nerven, wie er wusste. Es gelang ihm mühsam, zum Sofa zu gelangen um sich hinzulegen. Was ich getan hatte, war doch nichts Schlechtes. Die unerbittliche Strenge seines Grossvaters schien den Raum zu beseelen. Er konnte sich nicht mehr beherrschen, die Tränen traten über und er begann, hemmungslos zu weinen.
Es war schon gegen Mittag, bis er die Kraft fand, sich aufzuraffen, um die Sache zu erledigen. Nur ein allerletztes Mal noch würde er diesen Friedhof betreten. Ein neues Grablicht war auch vonnöten.
Als er zum Tor kam, steigerte sich seine Nervosität. Die Thuja-Hecke, welche den Einblick in den Friedhof weiträumig verdeckte, schien ihm noch weniger einladend als sonst. Der Nebel war dichter als gestern. Vereinzelt sah er Personen, die an Gräbern Verrichtungen vornahmen. Zwar blickte er sich misstrauisch um, aber es war ihm doch beruhigend, nicht der einzige Besucher zu sein. Als er ein Knirschen des Kieses hinter sich hörte, fuhr er erschreckt herum, in der Erwartung, ihm widerfahre nun Übles. Doch es war eine Frau mit einem Gesteck aus Tannenzweigen in der Hand, eben in eine Grabreihe abbiegend.
Hinter der Wegbiegung wirkte ihm der Nebel dichter, die Konturen der Gruft nur ungenau erkennbar. Am Himmel fehlte heute das matte Leuchten einer Sonnenscheibe, einzig dunkles Grau. Gram dachte daran, dass der Spuk in einigen Minuten für ihn endgültig vorüber wäre und das Grablicht aufgestellt. Wie angewurzelt blieb er stehen. Da, schemenhaft war eine Gestalt vor der Gruft erkennbar, in gebeugter Körperhaltung, wie suchend. Die Hände aus den Ritzen! Er zitterte. Soll ich die Rosen hinüberwerfen? Es ist zu weit entfernt. Während er starrte, wurde ihm bewusst, dass sie etwas Hellblaues trug, einen Mantel. Also kaum der auferstandene Urgrossvater oder Grossvater. Er wagte sich langsam, einige Schritte anzunähern. Da knirschte, trotz vorsichtigen Auftretens, der Kies unter seinen Schuhen hörbar. Ihm schien es unnatürlich laut. Die Gestalt richtete sich auf und sah zu ihm her.
«Guten Tag», rief sie ihm freundlich entgegen. Es war eine alte Frau, wie er erkannte, weisse gelockte Haare, sehr apart gekleidet.
«Guten Tag», erwiderte er zögernd. Er kannte sie nicht, da war er sich sicher. Es konnte sich also nicht um eine entfernte Verwandte handeln. Trotz seiner Unsicherheit wagte er doch näher zu treten, von der alten Dame schien keine Gefahr auszugehen.
«Wurden Sie durch das Erdbeben heute Nacht auch erschreckt?», fragte die Frau lächelnd, wie wenn sie sich freute, mit jemandem sprechen zu können. «Das Erdinnere ist unberechenbar. Wer weiss, was sich darin alles bewegt?»
Ihn schauderte. Woher weiss sie, dass ich im Schlaf heimgesucht wurde? Mit schnellem Blick prüfte er die Steinquader, doch die schienen unverändert massiv dazustehen. Die Frau wirkte harmlos, doch ihre Worte waren ihm nicht geheuer.
Zögerlich suchte Gram nach Worten, sein Körper verkrampfte sich. «Ich …, ich weiss nicht. … Nein, davon bemerkte ich nichts.» Er hatte Angst, ihr gegenüber eine Blösse zu zeigen. Wie konnte ich sie nur als harmlos einschätzen? Der Blick ihrer Augen durchdringt mich, als ob sie in mir lesen könnte. Die Iris ist von einem noch viel helleren Grau, als die der meinen, beinah durchsichtig. Direkt magisch, unheimlich, ich kann mich nicht davon lösen.
Durch ihren fixierenden Blick fühlte sich Gram noch unbehaglicher. Sie musterte ihn, als ob ihr etwas an ihm aufgefallen wäre.
«Wollten Sie dieses Grab besuchen?»
Was geht die das an? Eigentlich war er auf Abwehr eingestellt, doch wäre eine schroffe Antwort unhöflich gewesen, seine guten Manieren standen ihm da ihm Weg. «Ja. Meine Familie liegt hier, von meinen Urgrosseltern bis zu meinen Eltern.»
In ihren Augen vermeinte er ein kurzes Funkeln zu erkennen, wie gestern, aus der Ritze. Sie! Nein, unmöglich. Ein Mensch aus Fleisch und Blut kann sich nicht so klein machen, um sich wie ein Lurch durch Ritzen zu zwängen. Es waren dann ja auch nur stilisierte Rosen, die ich fand.
«Ich dachte mir doch diese Ähnlichkeit in den Zügen. Bastian Gram ist ihr Vater, nicht wahr.» Sie hob ihre Hand vor den Mund, ein Auflachen dezent unterdrückend. «Mein Gott, Sie sind der Sohn von Bastian.»
«Kannten Sie meinen Vater?» Gram war überrascht und fühlte sich zugleich erleichtert. Es gab eine logische, einfache Erklärung für ihre Anwesenheit.
«Das ist sehr, sehr lange her. Bastian und ich waren da noch jung, sehr jung und verliebt. Sein Vater durfte nichts davon wissen, da er sehr strenge Ansichten pflegte, so mussten wir uns stets heimlich verabreden. Auch sonst wäre es nicht schicklich gewesen, wenn jemand erfahren hätte, dass das Fräulein Hermine Kreuch Herrenbesuch empfängt. Nach drei Jahren meinte Bastian, wir sollten heiraten, damit diese Heimlichtuerei ein Ende habe. Sein Vater schloss ihn zu Hause ein, als er ihm seine Absicht vortrug, und machte sich schnurstracks auf den Weg zu mir. Er bot mir Geld an, wenn ich auf der Stelle aus der Stadt verschwände. Natürlich wies ich dies ab, doch er verbot seinem Sohn, mich wieder zu treffen. Es dauerte beinah ein Jahr, bis wir Möglichkeiten fanden, einander wieder häufiger zu treffen. Sein Vater hatte inzwischen die Verlobung von Bastian mit der Tochter eines Geschäftspartners arrangiert. Die Heirat fand im folgenden Jahr statt. Während mehrerer Jahre blieben uns dennoch heimliche Begegnungen, bis ich dann einer höheren Berufung folgte und damit auch an einen andern Ort übersiedeln musste. Vor einem Jahr begann meine Sehnsucht nach Bastian, sich zu intensivieren. Ich verbot mir mein Verlangen aber, da ich wusste, dass er es nicht schicklich finden würde, wenn ich zu Lebzeiten seiner Frau aufkreuzen würde. In unserem letzten gemeinsamen Jahr war er seinem Vater immer ähnlicher geworden, hatte dessen unnachgiebige Strenge angenommen, ja sein Denken sich zu eigen gemacht. Meinetwegen hegte er wohl Schuldgefühle seiner Familie gegenüber, obwohl er mir dies nie sagte. Ich war in meiner Wesensart so ganz anders, ein verlockender Gegensatz zur Düsterkeit, die er in seiner Familie erfuhr. Aber ich spürte es, diese auftretende Veränderung, obwohl er mich nach wie vor liebte. So rang ich lange Zeit, bis ich mich nun entschloss, ihn wenigstens aus der Ferne zu sehen. Vielleicht auch mit der stillen Hoffnung, sein Herz könnte höher schlagen, sollte er mich doch erblicken. Denn trotz allem war ich überzeugt, dass er sich nach mir sehnte. Einst hatte er mal seufzend gesagt, wir müssten wohl erst gestorben sein, bis es uns in einer andern Welt möglich wird, für immer zusammen zu sein. Ich musste nun erfahren, dass er bereits in den Hades übergetreten ist, wohin ich ihm wohl auch bald nachfolge und sich unser Wunsch bis in die Ewigkeit erfüllt.»
Gram, den schon verwirrte, dass sein Vater ein Verhältnis hatte, während er verheiratet war, entsetzte sich, als sie vom Hades sprach. Der Hund gestern hörte auf diesen Namen und nun sprach sie von der mythologischen Unterwelt, anscheinend von deren Existenz überzeugt. Er wollte sie schnell los werden, da er sie nun doch als bedrohlich einschätzte. «Hm, … Sie kamen heute also extra hierher, nur um das Grab meines Vaters zu besuchen», fragte er dennoch, als ob es ihn interessierte, da er sie nicht einfach wegweisen konnte.
«Ja. … Nein eigentlich war ich schon gestern hier, ganz früh am Morgen. Als ich erfuhr, dass er hier zur letzten Ruhe gebettet wurde, eilte ich sofort her. Ich wollte seine Nähe fühlen. Eigenartigerweise hatte ich auf diesem Gang zu ihm dann meine Brosche verloren, die er mir damals schenkte. Es muss ein übernatürlicher Akt sein, der Verlust des Pfandes seiner Liebe, als Preis für seine Gegenwart. Ich war mir sicher, dass ich sie noch hatte, als ich hier stand, denn ich befühlte sie, um unsere Verbundenheit auch dadurch zu spüren. Später als ich den Friedhof bereits verlassen hatte bemerkte ich deren Fehlen. Heute suchte ich alles ab, der Meinung sie müsste hier sein, doch ich fand sie nicht. Einzig einige Scherben lagen da am Boden, wie um die Vergänglichkeit zu symbolisieren.»
Ihre Ausführungen beruhigten Gram teilweise, es machte auch Sinn zur handschriftlichen Notiz seines Vaters, die er im Buch gefunden hatte. Sie war auf seine Geliebte bezogen. «Darf ich fragen, was das denn für eine Brosche war?»
«Drei Rosen, fein ziseliert, die Blütenfarben durch Steine bestimmt. Sie war einst im Besitz seiner Grossmutter. Bastian meinte, die Rosen symbolisieren unsere Liebe. Doch war es ihm auch ein Protest gegen seinen Vater und seinen Grossvater, da für diese die Rose ein Ausdruck von Sündigkeit darstellt. Er wollte sie damit in übertragenem Sinn treffen, wissen konnten sie nichts von diesem Geschenk. Mir aber wollte er damit das Höchste zu Füssen legen, das ihm unter den gegebenen Zwängen in denen er lebte, möglich war. Heute klingt dies vielleicht unverständlich, doch damals gab es keine andere Wahl.»
Gram nahm die stilisierten Rosen aus der Manteltasche. «Ich hatte sie gestern gefunden, als ich hier war. Ich wunderte mich noch, da sonst nie jemand zu dieser Gruft kommt.» Er streckte ihr seine Hand mit dem Schmuck entgegen.
Doch sie wehrte ab. «Nein, behalten Sie diese Rosen. Es muss eine Fügung des Schicksals sein, dass sie hier in Ihre Hände übergingen. Ihr Vater wollte dies sicher so. Der Sohn tritt das Erbe an, und in absehbarer Zeit werde ich ja wieder bei ihm sein, da brauche ich sie nicht mehr. Dass sie aus meinen Händen in die Ihre übergehen, ist also nur richtig in der Nachfolge.»
«Ich will sie nicht, sie gehören Ihnen», reagierte er heftig. Er musste sie ihr zurückgeben, nur so würde er Distanz zu dieser merkwürdigen Vanitas-Welt, die sein Urgrossvater in seiner Familie einbrachte, und die ihm Angst machte, schaffen können.
«Seien Sie nicht albern Herr Gram», sagte die Dame nun streng. «Ich will mich nun noch einen Moment hier besinnen, mit Ihrem Vater Zwiesprache halten, wenn Sie erlauben», und trat einige Schritte zur Seite, an die Stelle vor der Ritze, wo am Tag zuvor das Funkeln hergekommen war.
Respektvoll wandte er sich ab, mit dem Grablicht hantierend, dass er aus der Verpackung nahm. Es würde das letzte Mal sein, das er hier stand. Er konzentrierte sich einen Moment auf seine Eltern, ihnen seine Abschiedsgedanken widmend.
Zunehmend wurde er nervös, da die Dame ihre Andacht anscheinend länger hinauszuzögern beabsichtigte. Diskret wandte er den Kopf. Sie war verschwunden. Er ging um die Gruft herum, nirgends war sie zu sehen, wie in Luft aufgelöst.
Ein Gefühl von Zorn kam ihm auf, gegenüber der alten Dame, seinem Vater, ja der ganzen Familie. Mit der Hand in der Tasche trat er zu der Ritze, in der er die Rosen fand. Ich werde sie wieder dahin zurückschieben, dann bin ich sie los. Als er sich bückte, hörte er ein gefährliches Knurren, wie von einem Untier. Erschreckt wandte er halb gebeugt den Kopf. Einige Meter von ihm entfernt stand Hades, der Rottweiler, mit fletschenden Zähnen, ihn eindeutig bedrohend. Vor Angst beinah gelähmt, richtete sich Gram langsam auf, die Hand mit den Rosen zaghaft wieder in die Tasche schiebend. Ich ahnte es doch, Hades ist Teil des Komplotts der Toten.
«Hades, komm her.» Da war sie wieder die tiefe, barsche Stimme des Hundehalters. Er kam zwischen Grabsteinen, nicht besonders eilig angelaufen. «Entschuldigen Sie bitte. Hades ist heute sehr eigenartig und unruhig. Er ist sonst sanft wie ein Lamm. Ich verstehe dies nicht.» Der Mann nahm Hades am Halsband und zog ihn weg, zwischen den Grabsteinen verschwindend. Erst jetzt war Gram das knochige Gesicht des Mannes bewusst geworden, mit tiefliegenden Augen, wie ein Totenschädel mit Schlapphut. Ihm rieselte es kalt über den Rücken.
Langsam fand Gram seine Fassung wieder, dies alles war zu viel für seine Nerven, die blank lagen. Ich werde nicht nur diesen Friedhof nie mehr betreten, nein, vielmehr die Stadt umgehend verlassen, irgendwohin gehen, wo ich in einer friedvollen Umgebung leben kann.
Mit schnellen Schritten strebte er dem Ausgang zu. Auf halbem Weg zog ein alter, verwitterter Grabstein seine Aufmerksamkeit an. Das Moos, das ihn an einigen Stellen überwuchs, gab dem Stein ein Aussehen von Integration in die Natur. Auf ihm werde ich die Rosen deponieren, sie können sie da holen. Das glitzernde Augenpaar, welches ihn beobachtete, sah er nicht. Sein Arm mit den Rosen in der Hand blieb wie gelähmt erhoben, unfähig sie auf den Stein zu legen. Er hatte den eingehauenen Namen entziffert, der infolge der Erosion am Stein fast unscheinbar wirkte: «Hermine Kreuch.» Das kann nicht sein, ich hatte doch vorhin mit ihr gesprochen. Hat sie mich belogen und sie ist längst im Hades wie mein Vater? Wurde sie von ihm geschickt? Warum? Er senkte den Blick vom Namen nun auf den Text. Kein Vanitas-Spruch stellte er erleichtert fest: «Ein Leben ging dahin, doch ein Neues entstand aus ihm.» Nur eine Namensgleichheit, er lachte. Doch wie er die eingehauenen Lebensdaten darüber betrachtete, erstarb sein Lachen abrupt und Schwindel erfasste ihn. Der Boden unter seinen Füssen schien nachzugeben, er sank auf die Knie. Sie war erst siebenundzwanzig Jahre alt, als sie starb. Ihr Todestag ist exakt der Tag meiner Geburt! Seine Gedanken wogten wie Wellen: Todestag, Geburtstag, Vater, seine Geliebte, ich … Ich! … War es einzig Kummer … oder starb sie an meiner Geburt? Der Gedanke war ihm ungeheuerlich. Was hatte sie doch zu den Rosen gesagt: Der Sohn tritt das Erbe an. Ich dachte, sie meine mich nur anstelle von Vater. Wenn dem so ist, hat Mutter, Vaters Frau, mich nur angenommen um Aufsehen zu vermeiden? Mutter hätte nie gewagt zu opponieren, die Konvention der Familie war ihr heilig, es durfte kein Schatten auf den guten Ruf fallen. Konnte sie deshalb ihre mütterliche Liebe nie richtig zeigen? Sah sie in mir stets die Personifizierung seiner Geliebten? Er fühlte sich Elender denn je, die Toten wollten ihn nicht entlassen, sie nahmen ihn in die Pflicht.
Ein harter Griff an seinem rechten Fussgelenk erschreckte ihn. Es war eine knochige Hand, die seine Fessel umklammerte, wie ihm sein entsetzter Blick nach hinten zeigte. Da, auch am zweiten Fussgelenk wurde er gepackt. Panik kam ihm auf. Sie will mich zu sich holen, ihre Einsamkeit beenden. Er packte die Fingerknochen um sie vom rechten Fussgelenk zu lösen, die Rosen hatte er in die Tasche gesteckt, mit einem Knacken brach ein skelettiertes Fingerglied ab. Panisch liess er los, die Knochenhände zogen sich zurück, aber nicht ohne das abgebrochene Teil mitzunehmen. Einer Ohnmacht nahe sank sein Körper kraftlos seitwärts auf den Kiesweg. Die Kälte des Bodens nahm er nicht wahr. Der taube Klang einer Stimme aus dem Erdreich, «ich will bei Bastian sein!», schockierte ihn und liess ihn aufstöhnen. Sie ist es, zweifellos, die gleiche Stimme wie bei der Gruft.
«Mutter», seine Stimme versagte, während er halb erhoben versuchte, mit den Händen zu graben. Doch der Boden war hart, ein sinnloses Unterfangen. Ich muss sie zu Vater in die Gruft legen, die ganze Familie zusammenführen. Die Vereinigung zwischen ihnen, eine Art unio mystica, findet im Hades wahrscheinlich nur statt, wenn ihre Gebeine beisammen sind. Es war der Wunsch von Vater und ihr, nur verstand ich die Botschaften nicht. Ja vielmehr noch, ich glaubte nicht an diese Totenwelt. Verzeiht mir. Ich werde eure Gebeine zueinander führen, damit ihr gemeinsam Elysion erreichen könnt und ewige Ruhe findet.
Er spürte, dass etwas an seinem Mantelarm zog.
«Fehlt Ihnen etwas? Kann ich Ihnen helfen?», erklang eine tiefe Stimme. Sein Blick nahm die Umgebung wieder wahr. Es war Hades, der neben seinem Herrn stand, wie er vor Angst zitternd wahrnahm. Doch Hades bedrohte ihn diesmal nicht, seine Augen funkelten vielmehr mit zynischer Impertinenz.
«Es ... Es war … Es war nur ein Unwohlsein. … Es geht schon wieder.» Gram rappelte sich beschwerlich auf, unterstützt durch den harten Griff des Mannes. Er wagte es nicht in dessen knochiges Gesicht zu schauen, nun überzeugt, dass dieser ein Sensenmann sein musste, der bemüht war, dass hier jeder seinen Platz fand. «Danke», sagte er tonlos, «ich werde noch kurz hier verweilen.»
Aufatmend stellte er fest, dass sich die beiden auf den Ausgang zu entfernten. Er wandte sich dem moosigen Grabstein zu, der ihm nun nicht mehr fremd schien. An seiner Kleidung wischte er den Schmutz ab, den er sich am Boden zugezogen hatte. Merkwürdig, dass ihre Hände die gefrorene Erde durchbrechen konnten, an der ich nicht mal ein Krümel zu bewegen vermochte. Es muss da viel mehr sein, als ich mir je vorstellen konnte. Grossvater hatte wohl doch recht, dass er die Welt mit andern Augen sah. Das jüngste Erleben hatte seine Zweifel in eine Konfusion getrieben, die seine Denkweise nun mehr und mehr der Vanitas-Welt seiner Familie annähern liess. Ihm war klar, dass er Vaters Wunsch nachkommen und die beiden zusammenlegen musste, damit die Toten sich mit ihm versöhnten. Besteht in der Vanitas vielleicht eine Verhaltensregel, die besagt, wie die Sittlichkeit in der andern Welt in einem solchen Fall wiederherzustellen sei? Zu Hause muss ich gleich mal im Buch von Burke nachsehen. Oder besser noch auch in den andern alten Werken auf dem Dachboden, um mehr über all dies zu erfahren.
Seine Angst vor dem Tod war dadurch nicht einfach aufgelöst, doch sie pendelte sich auf einem ihm normalen Niveau ein.
Darum die Rosen, sie sollten mir ein Wegweiser sein. Ich werde die Friedhofsverwaltung beauftragen, ihre Gebeine zur letzten Ruhe in die Gruft zu verlegen. Er war froh, die Lösung für die Botschaft gefunden zu haben, die die beiden Toten ihm zukommen liessen. Sie hatten wohl erwartet, dass ich die Vanitas durch und durch kenne, dass ich schon früher in ihre Fusstapfen getreten sei. Wäre dem so, wäre mir dies wohl alles erspart geblieben.
Aber was wird Vaters Frau dazu sagen? … Sie wird sich fügen, wie immer. Doch wenn es nicht wirklich der Vanitas entspricht? Wenn es nur ein egoistischer Wunsch der beiden ist? … Grossvater und Urgrossvater werden mich peinigen, wenn ich dann einst bei ihnen bin, mich durch die Hölle gehen lassen. Entkommen kann ich ihnen nicht, denn es ist auch die mir bestimmte letzte Ruhestätte, wie ich jetzt weiss. Aber ich muss es umsetzen, um wenigstens zu Lebzeiten meine Ruhe vor den Toten zu haben.
Schweren Schrittes ging Gram zum Tor. Hades, der dort stand und ihn beobachtete, wandte sich nun zufrieden wirkend ab und trottete davon.