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Stiefmütterchen
Nur langsam konnte er durch die Reihen des Friedhofs ziehen. Schnell durfte er ohnehin nicht gehen, da hätte er womöglich eine dieser armen Seelen übersehen. Arm war das, wenn man vergessen wurde. Den Kopf legte er schief und kurz darauf blieb er stehen. Ein weiteres Blumenbeet hatte sich zu grünem und braunem Gestrüpp verwachsen. Ein paar Rankenpflanzen kletterten den Grabstein hinauf. Der Alte schüttelte zuerst den Kopf, bald nickte er fast unmerklich. Hier wurde niemand vergessen. Nicht, solange er seine Tage auf diesem Friedhof verbrachte.
Vierundachtzig lange Jahre hatte er nun schon auf dem krummen Buckel. Krumm, vom vielen Bücken und Schleppen. Um das Unkraut zu ziehen und ein paar schöne Blumen zu setzen. Um die Gießkannen beizuholen. Das machte den Rücken krumm, aber gut. Es machte ihn gut.
Eine Ehefrau und zwei wundervolle Töchter waren seinen rauen Fingern entglitten. Rau, das machte das viele Putzen. Die Grabsteine mussten sauber gehalten werden und die Kerzen. Die Kerzen. Die machten die Finger rau und hier und da etwas verbrannt. Die machten die Finger gut.
Und sein Lächeln war schon besser gewesen. Vor allem früher hatte er gut gelächelt. Als der Rücken noch nicht krumm und die Finger noch nicht rau waren. Da hatte er für seine Jugend gelächelt und für seine Familie, für Frau und Töchter. Doch mit jeder von ihnen ging ein Teil seines Lachens verloren. Der Jugend hatte er ein Stück mitgegeben, damit sie in guter Erinnerung blieb. Von den Töchtern hatte jede ein bisschen mitbekommen, als sie das Elternhaus verlassen hatte. Die Gattin erhielt ihr Stück vom Lächeln an ihrer Beerdigung. Und seitdem ging es weiter und weiter. An jedem Tag, den er auf dem Friedhof verbrachte, an jedem Grab einer dieser armen Seelen, da gab er einen kleinen Teil seines Lächelns ab. Damit die armen Seelen nicht mehr so arm waren. Sie konnten es besser gebrauchen als er. Ein Lächeln und ein Zuhause.
Die Schippe ließ er auf die Erde fallen und ging unter schwerem Atem auf die Knie. Die Reste des Unkrauts, die er mit dem Spaten nicht erwischt hatte, mussten mit der Hand heraus. Da ging kein Weg dran vorbei.
Er war nicht besonders fein angezogen, nein. Die wenigen ausgewaschenen Jeans waren an vielen Stellen genäht, manchmal nur mit Klebeband repariert worden. Körperliche Arbeit brachte solche Umstände nun einmal mit sich. Und das Alter. Da geht man nicht mehr gern einkaufen. Da behält man lieber das, was man hat. Schließlich tat es das auch. Meistens. Manchmal nur mit Hilfe von Hosenträgern. Unter diesen ein einfaches Baumwollhemd, noch ein paar Socken an den Füßen, ein paar Gummistiefel und Unterhosen. Im Winter vielleicht lange und dazu noch eine dicke Jacke. Gewaschen wird dann einmal in der Woche, das war okay. Ein bisschen zu riechen war okay. Schließlich ging es nicht um Oberflächlichkeiten. Es ging um das darunter.
Ein paar Azaleen sollten dorthin, wo vorher das Unkraut war. Einen Halbkreis davon pflanzte er also und noch eine Reihe mit Stiefmütterchen. Die hatte er nämlich besonders gern. Waren unauffällig. Aber trotzdem irgendwie schön.
Und verrufen war er auch dafür, immer so gemein zu sein. Man wich ihm aus, Eltern warnten ihre Kinder: ihn bloß nicht anzusprechen, weil er nur grässliche Worte und nicht mal ein gutes Lächeln für einen übrig hat. Vorsichtig zu sein, wo man hintritt, weil er sonst kommt und schimpft. Schnell heimzukommen, wenn man fertig ist und wirklich nur kurz gießen und ein bisschen hier zupfen, ein bisschen dort.
Den Grabstein schrubbte er noch, bis er fast glänzte und drei Gießkannen kippte er noch über die trockene Erde.
Schließlich sah er an sich hinab. Die Gummistiefel nass und verdreckt, sogar auf der Hose ein paar Spritzer. Die Klebestreifen hatten sich schon wieder gelöst und ums Knie herum zog's jetzt herein. Herrje. Die Hände klopfte er aneinander und es staubte. Dann sah er wieder aufs Grab. Lächelte wenig, und lächelte ein Stückchen weniger.
Gleich anschließend setzte er seine langsame Runde fort. Und es war erst zwei oder drei Stunden später, als er zurück kam und sah, was mit dem Grab passiert war: die Azaleen waren plattgetreten, die Stiefmütterchen noch schlimmer angegriffen. Hier und dort waren die Blütenkelche zerrupft und manche der Pflänzchen hatte man sogar entwurzelt. Inmitten dieses Gewirrs lag eine nur mehr halbvolle Gießkanne. Und da entglitten dem Alten unschöne Worte auf diese Kinder, die Unfug trieben und nicht aufpassten und stürzten. Und was sie damit anrichteten. Dann wandte er sich wieder dem Grab zu. Streckte kurz seinen guten krummen Buckel, spuckte einmal in jede gute Hand und ging erneut in die Knie.
Und so zogen die Tage vorbei: Arme Seelen fand er immer neue und immer war er bemüht, ihnen zu helfen. Schenkte ihnen Zuhause und Lächeln. Verschenkte sein Lächeln, bis nichts mehr davon übrig war. Bis auch sein Name einen dreckigen Grabstein zierte. Und die Erde über ihm war trocken und mit Unkraut übersät.