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Stiefmütterchen

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05.10.2011
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Stiefmütterchen

Nur langsam konnte er durch die Reihen des Friedhofs ziehen. Schnell durfte er ohnehin nicht gehen, da hätte er womöglich eine dieser armen Seelen übersehen. Arm war das, wenn man vergessen wurde. Den Kopf legte er schief und kurz darauf blieb er stehen. Ein weiteres Blumenbeet hatte sich zu grünem und braunem Gestrüpp verwachsen. Ein paar Rankenpflanzen kletterten den Grabstein hinauf. Der Alte schüttelte zuerst den Kopf, bald nickte er fast unmerklich. Hier wurde niemand vergessen. Nicht, solange er seine Tage auf diesem Friedhof verbrachte.

Vierundachtzig lange Jahre hatte er nun schon auf dem krummen Buckel. Krumm, vom vielen Bücken und Schleppen. Um das Unkraut zu ziehen und ein paar schöne Blumen zu setzen. Um die Gießkannen beizuholen. Das machte den Rücken krumm, aber gut. Es machte ihn gut.
Eine Ehefrau und zwei wundervolle Töchter waren seinen rauen Fingern entglitten. Rau, das machte das viele Putzen. Die Grabsteine mussten sauber gehalten werden und die Kerzen. Die Kerzen. Die machten die Finger rau und hier und da etwas verbrannt. Die machten die Finger gut.
Und sein Lächeln war schon besser gewesen. Vor allem früher hatte er gut gelächelt. Als der Rücken noch nicht krumm und die Finger noch nicht rau waren. Da hatte er für seine Jugend gelächelt und für seine Familie, für Frau und Töchter. Doch mit jeder von ihnen ging ein Teil seines Lachens verloren. Der Jugend hatte er ein Stück mitgegeben, damit sie in guter Erinnerung blieb. Von den Töchtern hatte jede ein bisschen mitbekommen, als sie das Elternhaus verlassen hatte. Die Gattin erhielt ihr Stück vom Lächeln an ihrer Beerdigung. Und seitdem ging es weiter und weiter. An jedem Tag, den er auf dem Friedhof verbrachte, an jedem Grab einer dieser armen Seelen, da gab er einen kleinen Teil seines Lächelns ab. Damit die armen Seelen nicht mehr so arm waren. Sie konnten es besser gebrauchen als er. Ein Lächeln und ein Zuhause.

Die Schippe ließ er auf die Erde fallen und ging unter schwerem Atem auf die Knie. Die Reste des Unkrauts, die er mit dem Spaten nicht erwischt hatte, mussten mit der Hand heraus. Da ging kein Weg dran vorbei.

Er war nicht besonders fein angezogen, nein. Die wenigen ausgewaschenen Jeans waren an vielen Stellen genäht, manchmal nur mit Klebeband repariert worden. Körperliche Arbeit brachte solche Umstände nun einmal mit sich. Und das Alter. Da geht man nicht mehr gern einkaufen. Da behält man lieber das, was man hat. Schließlich tat es das auch. Meistens. Manchmal nur mit Hilfe von Hosenträgern. Unter diesen ein einfaches Baumwollhemd, noch ein paar Socken an den Füßen, ein paar Gummistiefel und Unterhosen. Im Winter vielleicht lange und dazu noch eine dicke Jacke. Gewaschen wird dann einmal in der Woche, das war okay. Ein bisschen zu riechen war okay. Schließlich ging es nicht um Oberflächlichkeiten. Es ging um das darunter.

Ein paar Azaleen sollten dorthin, wo vorher das Unkraut war. Einen Halbkreis davon pflanzte er also und noch eine Reihe mit Stiefmütterchen. Die hatte er nämlich besonders gern. Waren unauffällig. Aber trotzdem irgendwie schön.

Und verrufen war er auch dafür, immer so gemein zu sein. Man wich ihm aus, Eltern warnten ihre Kinder: ihn bloß nicht anzusprechen, weil er nur grässliche Worte und nicht mal ein gutes Lächeln für einen übrig hat. Vorsichtig zu sein, wo man hintritt, weil er sonst kommt und schimpft. Schnell heimzukommen, wenn man fertig ist und wirklich nur kurz gießen und ein bisschen hier zupfen, ein bisschen dort.

Den Grabstein schrubbte er noch, bis er fast glänzte und drei Gießkannen kippte er noch über die trockene Erde.
Schließlich sah er an sich hinab. Die Gummistiefel nass und verdreckt, sogar auf der Hose ein paar Spritzer. Die Klebestreifen hatten sich schon wieder gelöst und ums Knie herum zog's jetzt herein. Herrje. Die Hände klopfte er aneinander und es staubte. Dann sah er wieder aufs Grab. Lächelte wenig, und lächelte ein Stückchen weniger.
Gleich anschließend setzte er seine langsame Runde fort. Und es war erst zwei oder drei Stunden später, als er zurück kam und sah, was mit dem Grab passiert war: die Azaleen waren plattgetreten, die Stiefmütterchen noch schlimmer angegriffen. Hier und dort waren die Blütenkelche zerrupft und manche der Pflänzchen hatte man sogar entwurzelt. Inmitten dieses Gewirrs lag eine nur mehr halbvolle Gießkanne. Und da entglitten dem Alten unschöne Worte auf diese Kinder, die Unfug trieben und nicht aufpassten und stürzten. Und was sie damit anrichteten. Dann wandte er sich wieder dem Grab zu. Streckte kurz seinen guten krummen Buckel, spuckte einmal in jede gute Hand und ging erneut in die Knie.

Und so zogen die Tage vorbei: Arme Seelen fand er immer neue und immer war er bemüht, ihnen zu helfen. Schenkte ihnen Zuhause und Lächeln. Verschenkte sein Lächeln, bis nichts mehr davon übrig war. Bis auch sein Name einen dreckigen Grabstein zierte. Und die Erde über ihm war trocken und mit Unkraut übersät.

 

Willkommen Eukalyptus!

Ich muss sagen, für einen Erstling hat mir das gefallen! Vor allem ist es angenehm fehlerfrei.
Nur ein paar Kleinigkeiten:

Und die Schippe lies er auf die Erde fallen
Und die Schippe ließ

Und die Schippe lies er auf die Erde fallen und ging unter schwerem Atem auf die Knie.
Wortwiederholungen vermeiden

Den Grabstein schrubbte er noch, bis er fast glänzte und drei Gießkannen kippte er noch über die trockene Erde.
Und sah schließlich an sich hinab.
Da versteh ich nicht, warum du in eine neue Zeile gehst. Auch Sätze mit "und" anzufangen, ist unschön.

Da behält man lieber das, was man hat. Schließlich tat es das auch.
Meinst du "er"?

Ich bin ja ein Fan von solchen Charakterzeichnungen. Ich brauch keine großen Action-Geschichten. Daher gefällt mir dein Charakter, der alte Mann. Was ich nur schade finde, ist, dass ich ihm nicht mehr über die Schulter sehen kann. Ich finde, deine Story gewönne, wenn du seinen Alltag (da hast du's ja auch gepostest) zeigen würdest, statt nur davon zu erzählen. Ich meine, dass du aus der Sache mit dem Klebeband zum Beipsiel eine Szene machen kannst, in der er das Haus verlassen will um zum Friedhof zu gehen, und er vorher dürftig
versucht, die Löcher der Hose zuzukleben. Das brächte noch mehr Nähe zu ihm, und der Leser würde den Alten mit seinem Leben noch näher kennenlernen. Ich würde das gerne lesen. Noch ein paar Szenen, ein Ablauf - die leeren Stunden zwischen den Friedhofbesuchen, ide doch sowas wie sein Ankerpunkt im Alltag sind.
Arbeite dran, viel Spaß hier!

Timo

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Timo!


Vielen Dank für deine flotte Auseinandersetzung mit meinem Text. Bei einem Erstling ist man da ja immer relativ nervös.

Mit den Zitierfunktionen kenn' ich mich in diesem Forum noch nicht gut aus, also entschuldige, sollte das jetzt eher unschön aussehen.

Zitat:
Und die Schippe lies er auf die Erde fallen
Und die Schippe ließ

Da hast du natürlich recht.

Zitat:
Und die Schippe lies er auf die Erde fallen und ging unter schwerem Atem auf die Knie.
Wortwiederholungen vermeiden

Zitat:
Den Grabstein schrubbte er noch, bis er fast glänzte und drei Gießkannen kippte er noch über die trockene Erde.
Und sah schließlich an sich hinab.
Da versteh ich nicht, warum du in eine neue Zeile gehst. Auch Sätze mit "und" anzufangen, ist unschön.


Ich habe seit einiger Zeit diesen "Und-Tick". An manchen Stellen scheine ich mehr Gefallen an diesem Wörtchen zu finden, als andere. Aber ich bin immer froh, wenn man mich da in meine Grenzen weist.

Ja, dieser Absatz ist etwas kompliziert zu erklären, macht aber für mich irgendwo Sinn. Das ausgedehnte Schrubben des Grabsteins soll das "Bisschen hier und dort zupfen" der Kinder kontrastieren, bezieht sich also auf den vorigen Absatz. Mit der Klamottengeschichte beziehe ich mich wiederum auf den "Er war nicht besonders fein angezogen"-Absatz.
Manchmal übertreibe ich wohl in meiner Logik. Aber ich trenne zu gerne in solche Sinn- und Bezugseinheiten.

Zitat:
Da behält man lieber das, was man hat. Schließlich tat es das auch.
Meinst du "er"?

Hab' ich da mal wieder eine Redensart erwischt, die nur bei mir in der Gegend benutzt wird? Etwas tut es auch, etwas reicht aus. Beispiel: "Der Hummer schmeckt am besten, doch die Forelle tut es auch."

Ich bin ja ein Fan von solchen Charakterzeichnungen. Ich brauch keine großen Action-Geschichten. Daher gefällt mir dein Charakter, der alte Mann. Was ich nur schade finde, ist, dass ich ihm nicht mehr über die Schulter sehen kann. Ich finde, deine Story gewönne, wenn du seinen Alltag (da hast du's ja auch gepostest) zeigen würdest, statt nur davon zu erzählen. Ich meine, dass du aus der Sache mit dem Klebeband zum Beipsiel eine Szene machen kannst, in der er das Haus verlassen will um zum Friedhof zu gehen, und er vorher dürftig
versucht, die Löcher der Hose zuzukleben. Das brächte noch mehr Nähe zu ihm, und der Leser würde den Alten mit seinem Leben noch näher kennenlernen. Ich würde das gerne lesen. Noch ein paar Szenen, ein Ablauf - die leeren Stunden zwischen den Friedhofbesuchen, ide doch sowas wie sein Ankerpunkt im Alltag sind.

Jetzt glaub' ich fast, dass ich falsch gepostet habe. Mit der Geschichte wollte ich gar nicht so sehr auf den Alltag des Mannes raus und diesen in den Mittelpunkt stellen. Es ging mir mehr um diese "Stiefmütterchensache". Dass etwas von außen unscheinbar oder gar unerträglich ist, aber doch schön ist oder einen guten Kern hat. Füttern wollte ich das ganze noch mit dem "darunter" (am Ende des Absatzes mit der Kleidung), dem "darüber" (da er am Ende ja unter der Erde liegt!) und ähnlichem.

Ich habe auch zuerst überlegt, unter "Philosophisches" zu posten, aber irgendwie gehörte mir das nicht dorthin. Und unter dem Aspekt, dass diese Geschichte durchaus realitätsnah ist und alltäglich passieren kann, habe ich mich dann für "Alltag" entschieden.

Vielen Dank für deine Kritik. So hilfreiches habe ich schon lange nicht mehr zu einem meiner Texte gehört.


Grüße,
Eukalyptus

 

Hey Eukalyptus,

und Willkommen hier!

Ich mag die Geschichte. Der Alte, der sich um die Toten kümmert, zu den Lebendigen aber kaum noch Kontakt hat. Sein Lächeln, sein Leben gilt denen die unter den Gräbern liegen. Er scheint sich nicht einmal groß um sich selbst zu kümmern. Man fragt sich tatsächlich, was im Leben Deines Prots. passiert sein muss, dass er seine Welt unter den Toten sucht. Ein Kampf gegen das Vergessen (nicht nur für ihn Nahestehende) den er führt, und am Ende niemand mehr da, der ihn weiterführt. Mit ihm sterben viele auf diesem Friedhof. Und es sind eben Werte die mit den Alten sterben - die verschieben, ändern sich halt im Laufe der Zeit.

Was mir weniger zusagt ist Deine Vorliebe für Wiederholungen. Das ist Geschmackssache, aber ich denke, weniger ist mehr, immer und immer nutzt sich halt schnell in der Wirkung ab. Bei mir jedenfalls. Das Du damit arbeitest, finde ich im Grunde gut, weil die Alten ja so reden, die wiederholen auch oft so vieles, also das passt schon als Stilmittel, aber manchmal war es eben eher nervig. Jedenfalls für mein Empfinden.

Seine schweren, groben Schritte führten ihn nur langsam durch die Friedhofsreihen.

Das passt nicht zu dem alten gebeugten Mann, den Du im weiteren schilderst.

Die vergessen wurden von Freunden und Familie, die vielleicht nie Freunde hatten. Vielleicht nie selbst Familie oder, wer weiß, ob nicht auch diese bereits dahingeschieden war.

Das würde ich streichen. Der Leser ist ja geistig nicht träge und benötigt keine Erklärung dafür, was vergessene Seelen sind. Das passt auch gar nicht wirklich zu dem Rest des Textes. Das fällt irgendwie so unschön auf.

Doch nicht auf diesem, zumindest nicht auf diesem Friedhof: Hier wurde niemand vergessen. Zumindest einer war doch da, der an sie dachte. Und der nur für sie, ganz langsamen Schrittes, durch die Grabesreihen zog.

Also erst passt er auf, hier keine Seele zu übersehen und im Nachgang erklärst Du, dass es diese hier gar nicht gibt. Schwierig. Ich weiß, was Du sagen willst, aber das ist ungeschickt eingefädelt.

Schnell durfte er ohnehin nicht gehen, da hätte er womöglich eine arme Seelen übersehen. Eine dieser, die vergessen wurden. Arme Seelen waren das, arme Seelen. Langsam zog er durch die Grabreihen, blieb oft stehen und legte den Kopf schief. Hier wurde niemand vergessen. Nicht, solange er seine Tage auf diesem Friedhof verbrachte.

Das ist jetzt nur ein Beispiel, so als Gegenüberstellung. Nur um auch mal die gestrafftere Form vor Augen zu haben. Wie gesagt, überhaupt nicht wertend gemeint.

Das waren jetzt so meine Gedanken zum Stil anhand des ersten Absatzes.

Hab hier viel Freude. Ich freue mich jedenfalls auf Deine nächste Geschichte.
Beste Grüße Fliege

 

Hey Fliege,

erst einmal freue ich mich wirklich darüber, wie du die Geschichte aufgefasst hast. All das stimmt, und ich bin erleichtert, dass es auch rüberkommt.

Was mir weniger zusagt ist Deine Vorliebe für Wiederholungen. Das ist Geschmackssache, aber ich denke, weniger ist mehr, immer und immer nutzt sich halt schnell in der Wirkung ab. Bei mir jedenfalls. Das Du damit arbeitest, finde ich im Grunde gut, weil die Alten ja so reden, die wiederholen auch oft so vieles, also das passt schon als Stilmittel, aber manchmal war es eben eher nervig. Jedenfalls für mein Empfinden.

Geschmackssache ist das sicherlich. Aber an manchen Stellen war es wohl wirklich zu viel des Guten. Das was mir als zuviel vorkam, hab' ich nun unformuliert bzw. rausgenommen.

Das würde ich streichen. Der Leser ist ja geistig nicht träge und benötigt keine Erklärung dafür, was vergessene Seelen sind. Das passt auch gar nicht wirklich zu dem Rest des Textes. Das fällt irgendwie so unschön auf.

Also erst passt er auf, hier keine Seele zu übersehen und im Nachgang erklärst Du, dass es diese hier gar nicht gibt. Schwierig. Ich weiß, was Du sagen willst, aber das ist ungeschickt eingefädelt.


Der erste Absatz hat mir auch nie wirklich gefallen. Jetzt gefällt er mir besser. Die unnötigen Erklärungen hab' ich gestrichen, stattdessen hab' ich... Naja, das wirst du ja selbst gemerkt haben.

Das passt nicht zu dem alten gebeugten Mann, den Du im weiteren schilderst.

Das "schwer" ist es, oder? Denn, dass er grob läuft (oder wie ich damit eher ausdrücken wollte: unkoordiniert), das finde ich passend. Allerdings hat es im umformulierten Absatz sowieso keinen Platz gefunden.

Schnell durfte er ohnehin nicht gehen, da hätte er womöglich eine arme Seelen übersehen. Eine dieser, die vergessen wurden. Arme Seelen waren das, arme Seelen. Langsam zog er durch die Grabreihen, blieb oft stehen und legte den Kopf schief. Hier wurde niemand vergessen. Nicht, solange er seine Tage auf diesem Friedhof verbrachte.

Die letzten zwei Sätze habe ich so übernommen. Die schienen mir optimal. Ich hoffe, das ist okay.


In einem Punkt könnte ich wirklich noch Hilfe gebrauchen:
"Ein bisschen zu riechen war okay. Schließlich ging es nicht um Oberflächlichkeiten. Es ging um das darunter."

Ich suche nach einer anderen Formulierung für "Oberflächlichkeiten". Das Wort passt nicht zu meinem alten Mann. Nur möchte ich hier nicht diesen Gedanken mit der Oberfläche und dem "darunter" verlieren, der sich dann gleich mit den Stiefmütterchen fortsetzt. Ideen?


Grüße,
Eukalyptus

 

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