Stiche
Wir waren in dem Alter wo man es sich noch leisten konnte Probleme zu haben. Gerade achtzehn geworden wollte man sein Erwachsensein durch die Existenz solcher Probleme ja unter Beweis stellen. Eine glückliche Zeit, eigentlich so glücklich, daß man sich im eigenen Weltschmerz vergraben mußte um sein Leben nicht zum Kotzen langweilig zu finden.
Die ersten Beziehungen, die nicht auf den Schulhof und die Spaziergänge am Nachmittag beschränkt waren, die ersten Wochenenden an denen man wie selbstverständlich nach München fuhr um ins Parkcafe zu gehen und zu The Smiths und Depeche Mode zu tanzen. Der Erwerb einer neuen Hose verschlang ein halbes Monatsbudget. Achtzehn, das war schon was, darauf hatten wir gewartet. Es war als würde einem mit dem Führerschein auch die Lizenz zum Besitz von Problemen überreicht werden, so als befände sich das Amt für persönliche Unordnung gegenüber der Ausgabestelle am Amt für öffentliche Ordnung.
Wir fuhren nach Italien. Ich war etwas aufgeregt als wir uns am Bahnhof trafen. Den Übrigen fünf ging es wohl genauso, doch hatte ich damals noch keinen sehr geschärften Blick für die Gemütslage meiner Mitmenschen.
Andre hatte seine Freundin mitgebracht, ansonsten waren nur Jungs mit von der Partie. Uns Andere störte es zwar etwas, daß sie unbedingt mit mußte – schließlich wollten wir unseren ersten Sommer als staatlich geprüfte Erwachsene wie richtige Männer feiern – aber wir wußten, daß Andre uns auf den Senkel gehen würde, wenn sie nicht mit kam.
Der Zug ging nach Florenz – ohne Umsteigen. Wir hatten ein Abteil für uns, wenn man die Sitze auszog konnte man halbwegs bequem liegen. Es war auch die Zeit in der ich lernte, daß man mit Geld bequemer schlafen kann.
Die beiden Stefans unserer Gruppe hielten sich ran. An der österreichischen Grenze waren sie ziemlich abgefüllt und unterbrachen ihr Gelächter nur, wenn sie gerade Jochen aufzogen, der am Tag vor unserer Abreise einen Sturz mit dem Moped hatte und demzufolge aussah wie ein Klumpen Rindergehacktes. Es ging ihm dreckig, was man aber nur daran merkte, daß er ab und an einschlief, aufwachte und dann vorgab nicht geschlafen zu haben.
Andre war albern, aber das war ok so. Wir erkannten, daß er albern war um uns über unsere ungeliebte und von ihm aufgehalste Begleitung hinwegzukichern.
Im Ergebnis war also ich es, den Johanna – sinnigerweise Jojo gerufen - zutextete. In späteren Jahren hörte man damit auf, den Menschen derartige Spitznamen zu geben, was dem zwischenmenschlichen Verständnis nicht unbedingt zuträglich war. Ich hatte mit Jochen zusammen Einen geraucht und so war ich imstande ihren Ausführungen zu lauschen. Ich erinnere mich, daß Andre uns immer wieder in unserem interessanten Monolog unterbrach um eine Bemerkung über die unglaubliche Coolness zu machen, welche uns in der Toskana erwarten würde. Cool. Alles cool. Immer.
„Hey Jochen! Wie willste ins Meer mit den Wunden, Alter?“, fragte Stefan.
„Genau!“, schaltete sich sein gleichnamiger Saufkumpan ein, „Man salzt Gehacktes erst nach dem Anbraten, sonst wird das Fleisch so trocken!“. Gelächter.
„Das ist kein Problem.“, meinte Jochen, „in der zweiten Woche kann ich schwimmen gehen, hat der Arzt gesagt.“
„Klar, dann biste ja angebraten!“. Wieder Gelächter.
Es roch im Abteil. Ich stand auf und ging in den Gang, öffnete ein Fenster und atmete die kalte Alpenluft ein. Man konnte nichts sehen, wir fuhren durch die Nacht. Eine Nacht von der wir wußten, daß an ihrem Ende der Beginn unseres Lebens stünde. Wir hatten keine Angst, wovor auch? Sicherheitshalber versuchte ich trotzdem noch einmal in Gedanken meine Ausrüstung durchzugehen.
Ich war nicht das erste Mal am Meer an jenem Tag. Trotzdem wunderte ich mich wie blau es war. Bis heute habe ich nie wieder so intensive Farben erblickt wie an jenem ersten Tag dieses Urlaubs mit meinen Freunden. Wir mußten mit dem Bus fahren, bis in ein kleines Nest namens Vada, wo sich angeblich ein Campingplatz befand, der noch nicht zum Bersten voll war. Ich saß in der letzten Reihe, mein Körper war müde, aber mein Verstand hellwach und ich versuchte immer wieder einen Blick auf dieses unglaubliche Blau zu erhaschen, wenn die Bäume am Straßenrand es erlaubten.
Ich erinnere mich, daß die beiden Stefans immer wieder die Bedeutung dieser Exkursion skandierten, sie verfaßten sogar zwei, drei Slogans, die von den Übrigen gern adoptiert wurden und deren Rezitieren als Trinkspruch herhalten mußte. Ich trank damals lächerlicherweise noch nicht, hielt mich also auch mit dem Skandieren zurück und sinnierte statt dessen – immer seltener lächelnd - über Freundschaft und über Mädchen, wie ich es heute über die Steuererklärung tue. Es war auch die Zeit in der einem bewußt wird, daß Winnetou ein Schauspieler namens Pierre Briece ist und man bestenfalls zum Helden a la Don Quichote taugt, obwohl man noch Momente hat, in denen man an der eigenen Kraft zu ersticken droht.
Unsere Zelte standen in der Nähe der sanitären Einrichtungen, was einen gewissen Pegel an Lärm- und Geruchsbelästigung mit sich brachte. Es war der letzte freie Platz gewesen, unter Bäumen, die vor der Sonne schützten und vor Insekten wimmelten. Man überließ uns den Platz zum halben Preis.
Nach der ersten Nacht in meiner Villa aus Kunststoff war ich zerstochen wie ein Imker mit Suizidabsicht. Die anderen waren beim Frühstück, als ich aus dem Zelt schlüpfte. Klar, daß sich die Mücken offensichtlich nur an mir schadlos gehalten hatten. Johanna verarztete mich, schmierte mir Salben ins Gesicht und puderte mich ein. Die Jungs feixten.
Noch heute, fast fünfzehn Jahre später, denke ich an Vada, wenn mich eine Mücke sticht. Ich rede mir dann ein, daß sich die Probleme seit damals nicht groß verändert hätten, meist ordne ich den Stichen dann auch ein oder mehrere spezifische Probleme aus meinem Alltag zu. Sie jucken, tun etwas weh, sehen häßlich aus. Aber sie verheilen und man kann sich amüsieren während sie das tun. Allemal, wenn sich ein Mädchen darum kümmert.
„Das kann ja heiter werden.“, erklärte ich ihr während sie mit ernsthafter Miene die Stiche in meinem Gesicht versorgte.
„Ja.“, meinte sie.
Manchmal, da glaube ich mir sogar.