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Steter Tropfen höhlt den Stein
Die Praktikantin im weißen Kittel kontrollierte Pulsschlag, Blutdruck und die Konzentration einiger Stresshormone, die während der Behandlung fortlaufend aufgezeichnet wurden. „Noch keine nennenswerte Änderung bislang, oder?“
„Nicht im geringsten“, bestätigte der Arzt. „Das wird noch eine Weile dauern, fürchte ich.“
Die Frau schaute auf den kräftigen jungen Mann vor ihnen im Behandlungsstuhl. Ihre Gesichtszüge entspannten sich, er gefiel ihr.
Missmutig blickte der Arzt zu ihr. „Auf in die nächste Runde.“
Maik saß an der Bar, rauchte und nahm einen kräftigen Zug aus seinem Glas. Er fühlte sich merkwürdig schwebend und leicht, irgendwie unwirklich – wie viel hatte er eigentlich schon getrunken? Noch konnte er sich auf dem Barhocker halten. Einer ging also noch. Sein Glas war fast leer, und er deutete dem Wirt, ihm noch ein weiteres Pils zu zapfen.
Dass die Tür aufging, bekam er gar nicht mit. Selig grinsend döste er vor sich hin. Erst als die beiden sich direkt neben ihn an die Theke stellten, schreckte er aus seinen Gedanken auf und schielte unwirsch zur Seite.
„Was magst Du trinken, Robert?“
„Wie wär’s mit dem Campari O?“
„Klingt gut – zwei dann, bitte.“
Verächtlich schüttelte Maik den Kopf und nahm einen kräftigen Schluck von seinem frischen Pils. Campari O? Wo sind wir hier denn bitte? Der Alkohol benebelte ihn angenehm, er spürte die Wärme durch seine Adern strömen. Campari O. Was sind das bloß für Idioten?
„Ich muss sagen, dass mich die Inszenierung musikalisch ziemlich angesprochen hat – aber die Bildsprache! Das war mir etwas arg platt.“
„Mir hat gerade gefallen, das dieses doch leicht angestaubte Sujet mit zeitgenössischen Themen verknüpft wurde. Und auch immer wieder ironisch gebrochen, ein sehr pointierter Kommentar zur Zeitgeschichte war das.“
„Was Dir pointiert erscheint, ist mir zu plakativ.“
Maik verstand nicht genau, worum es ging. Ihre gewählte Ausdrucksweise stieß ihn ab. Er nahm einen weiteren letzten Zug und setzte das Glas hart auf der Theke auf. Distanz falsch eingeschätzt. Die beiden Typen schauten irritiert auf. Hatten sich wohl erschrocken. Maik schmunzelte.
Während die beiden wieder ihr Gespräch aufnahmen, nahm Maik Blickkontakt mit dem Wirt auf, Uwe, den er seit Jahren kannte. „Wer sich mittlerweile so alles hierher verirrt!“ Der Wirt rollte genervt mit den Augen. „Und wann kommen die Jungs eigentlich? Haste von denen was gehört?“
„Sind wohl noch unterwegs“, feixte Uwe. „In der Stadt nen bisschen aufräumen.“
Maik wandte sich ungeduldig zur Tür, als ihm auffiel, dass die Männer neben ihm sich am Knie berührten.
„Seid ihr schwul oder was?“ brach es aus ihm heraus.
Die beiden starrten ihn alarmiert an. Der Jüngere zog seine Hand zurück.
„Ich hab was gefragt.“
Der Ältere räusperte sich. „Ich weiß nicht, was Sie das angeht.“
Maik stand auf, rückte seinen Hocker zur Seite, baute sich vor dem Typ auf und herrschte ihn an: „Ich zeig Dir gleich, wie mich das was angeht. Also – seid ihr Arschficker oder was?“
Der Jüngere stand nun seinerseits auf, aber der Ältere hielt ihn zurück und deutete ihm, wieder Platz zu nehmen.
„Ja, wir sind schwul. Gibt es damit ein Problem?“
„Ob ich damit ein Problem habe?“ Maik kicherte, drehte sich zum Wirt, der sich zurückgelehnt hatte und zufrieden seine Arme vor der Brust verschränkte. „Der fragt, ob ich damit ein Problem habe!“ Maik drehte sich wieder zu dem Älteren und fletschte seine Zähne. Seine linke Hand schoss nach vorn und packte den Mann am Revers. „DU hast gleich ein Problem damit, Arschficker.“
Vor seinem geistigen Auge sah er diese beiden Männer nackt, sie umarmten und küssten sich, leckten ihre Schwänze. Hass schoss hoch in Maik wie ein Strom glühender Lava, und der letzte Rest rationaler Überlegung ging unter. Nur ein kurzer Moment des Zauderns, ein Zögern wie eine schmerzhafte Erinnerung, als ob sein Körper ihn warnen wolle, eine verbotene Frucht erneut zu kosten. Was war das? Das war neu. Aber der Typ vor ihm zwinkerte ihm jetzt auch noch zu, und es explodierte in ihm. Er hielt ihn mit der linken Hand auf der richtigen Distanz und schmetterte seine rechte Faust direkt in die Zielscheibe.
Seine Anspannung wollte sich so befreiend entladen wie ein lange heraus gezögerter Orgasmus, doch genau in diesem Moment durchschoss ihn ein Stromschlag. Wie ein Blitz durchzog es seinen Körper, jede Zelle ein Aufschrei. Schmerz und Angst verdrängten alles andere.
Dann stand er mit einem Male sich selbst gegenüber – seine eigenen Augen zu kleinen furchtbaren Schlitzen verengt, die Muskulatur angespannt, ein bulliger Körper, der nur von Hass angetrieben wurde.
Panische Angst erfüllte ihn, er schrie um Hilfe, wimmerte, dass dieser Wahnsinn aufhören solle. Aber dieses Ungeheuer da vor ihm, das er selbst war, lachte nur böse und ließ sich davon nicht beeindrucken, griff mit der linken in seinen Nacken. Eine mächtige Faust ballte sich, und jetzt donnerte sie auf ihn zu.
Die Praktikantin zeigte mit dem Finger auf einen leichten Knick in der Erregungskurve, kurz bevor sie doch steil nach oben anstieg. „Zumindest ein erster Fortschritt.“
Der Arzt warf einen Blick auf die Zeitachse des Ausdrucks. „Aber die Verzögerung dauerte kaum eine halbe Sekunde. Danach hatte sein übliches destruktives Verhalten wieder die Oberhand.“
Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Irgendwas im Belohnungs- und Bestrafungszentrum scheint da doch aus dem Ruder zu laufen. Wie oft fasst so jemand als Kind auf eine heiße Herdplatte, bis er begreift, dass er sich dabei verbrennt?“
„Das ist leider nicht ganz dasselbe. Zu der Herdplatte hat man kein emotionales Verhältnis, auf die kann man seine eigenen Schwachstellen nicht projizieren. Was den Hass in diesen Köpfen nährt, ist die Tatsache, dass eigene Schwächen und unbekannte Seiten der Persönlichkeit auf das Opfer übertragen werden. Das führt dann zu diesem befreienden Rausch beim Draufschlagen. Und den zu löschen ist eine bisweilen recht langwierige Aufgabe.“
„Weshalb versucht man es nicht mit Gesprächstherapie, damit er seinen Schatten kennen lernt und integriert?“
Der Mediziner lachte kurz auf. „Herrliche Idee. Und wer soll das zahlen? Haben Sie eine Ahnung, wie lange das dauern würde?“ Er deutete zu dem verdrahteten Glatzkopf hinter der Einwegscheibe. „Vor allem, wenn der keinen Veränderungswillen mitbringt? Deshalb ist man ja auch vom Strafvollzug abgekommen – ist teuer und bringt nichts.“ Und so einer ist es auch nicht wert, dass die Gesellschaft allzu viel in ihn investiert – was ist von dem schon zu erwarten. „Das Prinzip lautet hier wohl eher Schadensbegrenzung.“
Die Praktikantin folgte seinem Blick. „Maik“, sagte sie, wie zu sich selbst. „Wie viele Sitzungen wird der noch benötigen?“
„Zehn vielleicht, zwölf? Wir hatten letztes Jahr einen hier, der brauchte fast zwei Wochen. Drei Sitzungen pro Tag. Aber auch den haben wir weich gekriegt.“ Er wandte sich stolz dem Mädchen zu und stellte verärgert fest, das es noch immer den Probanden fixierte. „Solange es in seinem Hirn nicht ‚klick’ gemacht hat, bleibt er jedenfalls in der Simulation.“ Und daran ändert die Tatsache, dass Du ihn offenbar geil findest, nicht das Geringste.
Die Praktikantin zögerte, wandte sich aber doch noch einmal an den Arzt: „Weshalb haben sie dieses provozierende Element hereingenommen, in dem der ältere Mann ihm zublinzelt? War das nötig?“
Der Arzt belächelte sie. „Lassen sie das mal meine Sorge sein.“ Er stellte die Parameter für den nächsten Durchgang ein. „Um sicher zu gehen, dass das aggressive Verhalten gelöscht ist, ist es eine gute Strategie, den auslösenden Reiz wirklich intensiv darzubieten. Wir wollen doch auf Nummer Sicher gehen.“ Und bei dem hier auf ganz sicher. Er hob den Mundwinkel angewidert an, als er sich dem Probanden zuwandte.
Maiks Körper entspannte sich langsam wieder.
Bereit für eine weitere Simulation.