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Sterntaler
Sterntaler
Lars hatte Urlaub genommen. Seit dem Unfall ist er nicht mehr zu Arbeit gegangen.
Jetzt sitzt er alleine am Wohnzimmertisch, fühlt sich einsam in der großen Wohnung. Nebenher läuft der Fernseher, fast den ganzen Tag. Nur den Ton stellt er meistens ab. Manchmal steht Lars auf und sieht aus dem Fenster.
Eigentlich benutzt er nur noch zwei Zimmer, seit dem es passiert ist: Die Küche und das Wohnzimmer.
Im Wohnzimmer legt er sich abends auf die Couch und schläft dort. Seit Maria weg ist, mag er nicht mehr in dem großen Doppelbett schlafen. Auch sein Arbeitszimmer steht leer, und das Kinderzimmer hat er seit vier Wochen nicht mehr betreten.
Lars weiß nicht mehr, was er tun soll.
Der Arzt hat ihm Tabletten verordnet, irgendwelche Antidepressiva. Lars geht in die Küche und füllt ein Wasserglas, nimmt eine dieser Pillen in den Mund, spuckt sie wieder aus.
Den Rest Wasser schüttet er in den Ausguss.
Auf dem Küchentisch liegt immer noch der Zeitungsartikel. Lars hat ihn ausgeschnitten:
Schwerer Autounfall, Frau und Kind tödlich verunglückt.
Wenn er mitten in der Nacht aufwacht, erinnert er sich oft noch an seine Träume – aber er will vergessen.
Dann setzt er sich auf die Couch und starrt in die Dunkelheit. Manchmal geht er auch ins Bad und weint dort.
*
Heute ist ein klarer Herbsttag und die Sonne scheint.
Lars beschließt, einen Spaziergang zu machen, obwohl er dazu eigentlich keine Lust hat.
Er zieht seinen Jogginganzug an und geht nach draußen.
Die Luft ist schon kalt, windig.
Lars läuft durch seine Wohnsiedlung zum See.
Entlang des Seeufers stehen alte Ahornbäume, die Äste wanken im Wind, lassen ihre Blätter fallen. Oben am blauen Himmel ziehen Krähen ihre Kreise.
Im Laub unter den Bäumen sieht er Hornissen, Lars schaut den Insekten zu, wie sie sich im Laub winden, ihre schwarzgelb gekrümmten Hinterleiber. Die Hornissen sind am sterben.
Es wird Winter, denkt Lars.
Zuhause öffnet er eine Dose Gulaschsuppe.
Mit dem Essen geht er ins Wohnzimmer, setzt sich vor den Fernseher. Im Fernsehen läuft irgendeine Soap. Lars starrt gelangweilt auf den Bildschirm, schaut den Menschen bei ihrem Alltag zu, sieht, wie die Leute miteinander streiten oder sich lieben.
Abends macht er sich noch einen Tee, bevor er sich auf die Couch legt. In den letzten Tagen schläft er immer früher ein, oft schon nach der Tagesschau.
Fast jede Nacht träumt er von dem Haus: ein altes Bauernhaus im Elsaß, dass er für seine Familie Anfang des Jahres gekauft hatte. Zuvor wollte er das Haus noch renovieren, dann wollte er mit seiner Familie dort einziehen, spätestens zum Ende des Jahres.
*
Ein Arbeitskollege hat ihm geraten, alle Erinnerungen und Fotos in eine große Kiste zu packen. Diese Kiste solle er dann auf den Dachboden stellen. Dann abwarten, bis die Zeit die Wunden heilt, irgendwann.
Einen Dachboden hab ich nicht, denkt Lars, aber eine Abstellplatz im Keller.
Lars nimmt einen der Umzugskartons, die er für das neue Haus gekauft hatte, packt Fotos und Kinderspielzeug ein.
Ein letztes Mal noch schaut er sich die Erinnerungsstücke an, neun Jahre seines Lebens darin. Dann verschließt er den Karton und trägt ihn hinunter in den Keller.
In der Abstellkammer ist es feucht. Und dunkel.
Wie ein Grab, denkt er.
Lars schüttelt den Kopf. Er trägt den Karton wieder hoch, packt alles wieder aus: jedes Stück wird an seinen alten Platz zurückgestellt. „Ich kann das nicht machen“, sagt er zu sich.
Müde legt sich Lars auf die Couch.
Er schaltet auf einen Sportkanal, stellt den Ton ab, verfolgt teilnahmslos ein Tennisspiel. Indem er die Arme hinter seinem Kopf verschränkt, schaut er dabei zu, wie der gelbe Ball hin und hergeschlagen wird.
Die beiden Tennisspieler schwitzen.
Kurz vor dem Matchball schließt er die Augen und schläft ein.
Lars sieht sich selbst, wie er einen Pinsel in der Hand hält, die Wände in seinem Haus neu anstreicht, orange, zitronengelb. Das Sonnelicht scheint hell durch die staubigen Fenster.
Jemand klopft an die Haustür.
Lars stellt den Pinsel in den Maleimer zurück, geht zur Tür, lauter bunte Farbkleckse auf Hemd und Hose, gelb, orange, er sieht aus wie ein Clown, denkt er im Traum und öffnet die Tür.
Vor ihm steht Maria. Sie lächelt. Lars will sie umarmen, aber seine Hände greifen ins Nichts.
Im Fernsehen wird gerade ein Fußballspiel übertragen.
Lars geht zum Fenster und öffnet es.
Es ist kalt draußen.
*
Die nächste Woche regnet es unaufhörlich.
Lars hat keine Lust mehr, den Müll runter zu tragen. Er wäscht seine Kleidung nicht, rasiert sich nicht mehr.
Lars erinnert sich: Vor vier Wochen, als die Beerdigung war, hatte es auch den ganzen Tag über geregnet.
Als das Regenwetter endlich vorüber ist, geht er wieder zum See. Dort setzt er sich auf eine Bank am Seeufer. Die Äste der Bäume sind kahl geworden, die Erde kalt und matschig.
In einer Plastiktüte hat er Brot mitgebracht. Ab und zu bricht er ein Stück ab, wirft es ins Wasser. Das lockt die Enten an, denkt Lars und sieht dabei zu, wie die Brotklumpen im Wasser langsam aufweichen.
Manchmal kommt eine Ente angeschwommen und schnappt danach.
Als Lars sich von der Bank erhebt, sieht er eine Entenfamilie: der Vater schwimmt voran, dahinter die Mutter und vier kleine braune Küken. Das macht ihn irgendwie traurig.
Lars steht auf und geht zum Friedhof.
Die Friedhofspforte steht offen. Über einen Kiesweg gelangt er zu den Gräbern. Die vielen Blumen auf Marias frischem Grab sind bereits welk geworden.
Lars sieht, dass jemand neue Blumen an das kleine Grab von Philipp gelegt hat, Nelken und Margeriten liegen verstreut auf dem braunen Erdboden.
Er holt eine Gießkanne voll Wasser und gießt die beiden Gräber.
Am Nachmittag sitzt er mit einer Tasse Tee am Wohnzimmertisch.
Bewegungslos bleibt er auf dem Stuhl sitzen, hört nur das Ticken seiner Wanduhr.
Das goldene Ziffernblatt zieht ihn an. Wie in Trance verfolgt er das langsame Zeigerkriechen, wartet den Stundenschlag ab.
Der Tee ist längst kalt geworden.
Lars macht die Augen zu, denkt an den Sommer.
Maria sagte einmal:
„Ich will eine Garten haben, der morgens nach Thymian und abends nach Jasmin duftet.“
Lars versucht sich zu erinnern, wie Lavendel, Thymian oder Jasmin riecht.
Hinter den Fenstern ist es dunkel geworden.
Lars legt sich auf die Couch, schaltet den Fernseher ein. Im Fernsehen kommt irgendeine Quizshow, in der lauter sinnlose Fragen gestellt werden. Die Antworten interessieren ihn nicht.
In der selben Nacht hat er einen Traum:
Barfuß läuft er über den Rasen, das Gras ist weich, kitzelt manchmal unter den Fußsohlen wie Moos.
Maria trägt ein blaues Sommerkleid, hält in einer Hand eine Gießkanne. Ihre blondes Haar glänzt im Sonnenlicht. Lars hört Bienen summen, und im Gras unter der Birke blühen kleine weisse Blümchen.
Neben der Birke hat er eine Schaukel aufgestellt, für Phillip.
Lars wirft sich auf der Couch hin und her, sagt etwas im Schlaf.
Als er aufwacht, hört er den Regen draußen, hört die Tropfen gegen die Fensterscheibe prasseln.
Es ist kalt im Zimmer.
Er hatte vergessen, die Heizung aufzudrehen.
Morgen hat er wieder seinen ersten Arbeitstag, erinnert er sich.
Sein Urlaub ist nun vorbei.
*
Die Kollegen sind alle sehr freundlich zu ihm.
Eine Mitarbeiterin hat ihm einen kleinen Blumenstrauß auf seinen Platz gestellt.
Lars starrt den ganzen Vormittag auf den Computermonitor. Er vertippt sich oft, löscht Geschriebenes wieder.
Manchmal verschwindet er in der Toilette, denn er will nicht, dass man ihn bei der Arbeit weinen sieht.
Am Mittag geht er zu seinem Chef ins Büro.
Der Chef sieht ihn mitfühlend an.
„Ich kann nicht mehr“, sagt Lars und geht.
Nachmittags läuft er ziellos durch die Stadt.
Er nimmt eine Strassenbahn, fährt von einer Haltestelle zur nächsten. Irgendwo steigt er aus.
Ein Stadtteil, wo er noch nie zuvor war.
Lars läuft eine Straße entlang, an Geschäften und Passanten vorbei, läuft dieselbe Straße wieder zurück -aber bald merkt er, dass er auf die Toilette muss.
Vor einem Museumseingang bleibt er stehen.
An der Kasse fragt er höflich, ob er kurz die Toilette benutzen könne.
Die Frau hinter der Kasse schüttelt den Kopf. Sie meint, das ginge leider nicht.
Stumm zahlt Lars den Eintritt.
„Die Waschräume sind oben“, sagt die Frau, „erster Stock.“
Die Luft im Museum ist abgestanden, staubig.
In der Toilette riecht es nach Putzmittel.
Lars wäscht sein Gesicht unter dem Wasserhahn. Aber den Hahn dreht er nicht mehr zu, sondern lässt es einfach weiterlaufen, schaut in den silbernen Wasserstrahl. Dabei denkt er an den Brunnen im Garten, wie Maria die Gießkannen mit Wasser füllt, über Azaleen und Fliedersträucher gießt, und schließlich das Rosenbeet.
Sein Gesicht im Spiegel erkennt er fast nicht wieder.
Ich sehe alt aus, denkt Lars, verbraucht.
Die Museumsräume sind mit lauter urzeitlichen Funden ausgestellt. Hinter Glasvitrinen ruhen Steinwerkzeuge, Tonvasen, Totenschädel.
In einem anderen Raum kauern Fossilien.
Lars geht an Ammoniten und Dinosaurierknochen vorbei, und mit versteinerter Mine schaut er sich die Fossilien an.
Hinten im Raum sieht er einen riesigen plattgedrückten Fisch. Das Tier füllt fast die ganze Wand aus, ist mindestens sechs Meter lang.
Unter dem Fossil ist ein Metallschild angebracht, auf dem der Gattungsname steht:
Stenopterygius quadriscissus.
So heißt du also, denkt Lars und wiederholt den lateinischen Namen für sich.
Er geht einen Schritt zurück.
Lars betrachtet die große Schwanzflosse, die Rückenflosse, und obwohl ein Verbotsschild es ausdrücklich untersagt, die Fossilien anzufassen, berührt er das Wesen, streicht über seinen steinernen Körper. Der Kopf ist lang und spitz und hat Zähne wie ein Krokodil.
Mit einem Finger fährt er die Silhouette des Sauriers entlang, zeichnet seine delphinartige Körperform nach.
Lars stellt sich vor, wie der Fischsaurier durch ein urzeitliches Meer schwimmt, tief unten im Wasser, an Haien und Riesenkraken vorbei, vor Millionen von Jahren. Er malt sich aus, wie kleine Fische in sein offenes Maul schwimmen, dann im dunklen Saurierbauch verschwinden.
Aber irgendwann war der Fisch alt geworden, denkt Lars, der Saurier aß keine kleinen Fische mehr, sank auf den Grund des Ozeans und starb dort.
Nach und nach legten sich andere Meerestiere über ihn, Muscheln, Krebse, Plankton.
Der Fisch wurde plattgedrückt mit der Zeit.
Und irgendwann wurde er zu Stein.
„Schade“, sagt er zu dem Fisch, „warum bin ich nicht aus Stein, so wie Du - Keine Gefühle, keine Schmerzen mehr.“
Zuhause legt sich Lars auf die Couch.
Er beschließt, nicht mehr in die Stadt zu gehen.
Am selben Abend zieht er den Netzstecker vom Fernseher heraus, nimmt das Gerät in beide Arme, trägt es hinunter in den Keller.
Die Zeitung, die jeden Morgen im Briefkasten liegt, wirft er gleich in die Mülltonne.
*
Abends wurde es schon früh dunkel und die Nächte wurden kalt und frostig.
Während Lars auf seiner Couch liegt und einschläft, hört er das Ticken der Wanduhr.
Nachts geht er manchmal zum Fenster.
Dann schaut er hoch zu den Sternen.
Von Tag zu Tag wacht Lars immer später auf. Meistens um die Mittagszeit. Anfangs hatte er noch seinen Wecker gestellt, auf halbsieben, so wie er es all die Jahre immer gemacht hatte. Aber den Wecker überhörte er um diese Zeit. Es machte keinen Sinn mehr, ihn zu stellen, denn der Wecker störte ihn nur, wenn er auf der Couch lag und schlief - wenn er von Maria und Philipp und dem Haus träumte.
Nach dem Aufwachen bleibt er noch eine Weile auf der Couch liegen, schwer und müde, dann geht er hinaus an die frische Luft, läuft zum See, setzt sich auf eine Bank oder füttert die Enten.
Manchmal geht er auch zum Friedhof, obwohl ihn das einige Überwindung kostet, denn gerne geht er nicht dorthin.
Aber jemand muss doch nach den Gräbern sehen, denkt er, und nachschauen, ob alles in Ordnung ist.
*
Als Lars eines Morgens gegen elf Uhr aufwacht, sieht er Schneeflocken hinter der Fensterscheibe herunterschweben.
Der erste Schnee in diesem Winter.
Lars geht in die Küche und sucht den Kalender.
In den letzten Wochen hatte er das Zeitgefühl völlig verloren, schon lange hatte er nicht mehr auf den Kalender geschaut. Er hatte den Kalender sogar von der Wand abgerissen und irgendwo auf die Küchenkonsole gelegt, dort, wo sich das gebrauchte Geschirr mittlerweile zu kleinen schmutzigen Türmchen angesammelt hatte.
Lars nimmt Teller, Tassen, Besteck von der Konsole herunter, stellt das Geschirr in den Ausguss. Schimmelige Essensreste fallen dabei auf den Fußboden.
Der Kalender war schmutzig geworden.
Lars wischt mit einem Tuch darüber, rechnet das Datum aus: Heute musste der 24. sein. Der 24. Dezember 2003.
Lars geht zum Fenster und öffnet es.
Unten im Vorgarten liegt bereits eine Schicht Neuschnee. In den Wochen zuvor war der Rasen braungrün und matschig gewesen, jetzt aber ist alles weiß.
Es hatte schon lange keine weißen Weihnachten mehr gegeben, denkt Lars, und als er die kühle Luft spürt, die von draußen in die Küche weht, glaubt er, dass der Schnee sich halten könnte. Der Schnee würde nicht schmelzen und abtauen - nicht heute, und auch die nächsten Tage nicht.
Vielleicht würde der Schnee einfach liegen bleiben, denkt Lars: Es würde immer weiter schneien und die Welt würde unter einer großen Schneedecke begraben werden.
Dann wäre alles vorbei. Es würde eine große Eiszeit geben, und alle Menschen würden erfrieren, irgendwann.
Sein Haus aber wäre ein einziger Eispalast.
Ein gläserner Tempel, mit versiegelten Erinnerungen darin.
Es wäre still dort.
Niemand würde den Schlaf stören, den versteinerten Frieden wecken.
Durch das offene Fenster wehen Flocken herein, verfangen sich in seinem Wollpullover, in seinen Haaren. Die Kristalle sterben in der Körperwärme.
Lars schließt das Fenster wieder.
*
Erst am Abend hörte es auf zu schneien.
Lars geht auf seinen Balkon.
Die Rasenfläche unten, die Straße und die Dächer der Häuser, alles ist verschneit. Es schimmert mattweiß gegen den schwarzen Abendhimmel, heller als sonst.
Lars sieht, dass die Venus schon aufgegangen ist und im Norden sieht er den großen Wagen.
Das wird eine sternklare Nacht, denkt er und geht wieder herein.
Aus dem Wohnzimmerschrank holt er jetzt einen Baukasten. Lars setzt sich an den Tisch, und mit dünnen Holzleisten, Leim und Pergamentpapier bastelt er ein kleines Flugzeug.
Als er fertig ist, faltet er Blumen aus buntem Seidenpapier. Am Schluss bleibt nur noch ein einziger roter Bogen übrig. Auf den Bogen schreibt er:
Für Maria und Phillip. Schöne Weihnachten. Euer Lars.
Mit einer Schere schneidet er vorsichtig um die Schrift herum, bis das Papier eine Herzform annimmt. Das Herz legt er in einen Briefumschlag. Das Flugzeug und die Blumen packt er in Weihnachtspapier ein.
Unten im Wohnzimmerschrank steht noch die Flasche Rotwein. Die Flasche hatte er für die Einweihung vom neuen Haus aufgehoben, wollte mit seiner Familie darauf anstoßen.
Ansonsten trank Lars keinen Alkohol. Alkohol hatte er noch nie besonders gemocht, weil er den Rausch sinnlos fand.
Die Rotweinflasche steckt er zusammen mit den Geschenken in einen Rucksack, geht zur Garderobe, zieht seine dicke Jacke an, Stiefel, Handschuhe, Mütze.
Lars schultert den Rucksack auf, löscht das Licht in Küche und Flur und verlässt seine Wohnung. Beim Hinausgehen schaut er nochmals auf das Namensschild an der Tür: Familie Körner.
Jetzt gibt es nur noch Herrn Körner, denkt Lars.
Die Straßen der Siedlung sind weiß verschneit, die Fenster hell erleuchtet. Dort sitzen Familien an ihren Tischen, essen in warmer Gemütlichkeit beisammen.
Lars sieht geschmückte Tannenbäume in den Wohnzimmern stehen, mit brennenden Kerzen, und Kinder, die zwischen bunt eingepackten Geschenken hin und herlaufen.
Hinter dem Neubaugebiet liegt der See, wo er im Herbst immer die Enten gefüttert hatte.
Der See ist jetzt mit einer dicken Eisschicht überfroren.
Lars geht noch ein wenig am Seeufer entlang, dann durch die Grünanlage, und von dort aus gelangt er zum Friedhof.
Der Friedhofspforte ist schon abgeschlossen.
Lars klettert über die Mauer.
Auf manchen Gräbern stehen rote Lichter. Die Kerzen züngeln in der Dunkelheit, beleuchten den Schnee, rot funkelnde Eiskristalle.
Lars ist froh über die kleinen Lichtlotsen, denn der ganze Friedhof ist verschneit und der Weg von den angrenzenden Gräbern kaum mehr zu unterscheiden.
Auch über dem Grab seiner Frau liegt eine dicke Schneeschicht, und obwohl das Grab von Phillip ebenfalls zugeschneit ist, sieht er noch ein paar gefrorene Blumen, die aus dem Schnee herausschauen, so, als ob sie am nächsten Morgen wieder aufblühen und zum Leben erwachen wollten.
Aus der Ferne hört er Glockenläuten.
Lars zündete auf jedem Grab eine Kerze an.
Seine Geschenke vergräbt er im Schnee.
Auf dem Rückweg sieht er wieder die roten Lichter. Auf den Schneegräbern. Vorsichtig klettert er über die Friedhofsmauer.
Lars geht weiter, am Golfplatz vorbei, geht ein Stück die Landstraße entlang, biegt in einen Feldweg ein. Der Feldweg führt in einen Wald hinein.
Von dort an geht es steil bergauf.
*
Nachdem er eine Viertelstunde gelaufen war, dreht Lars sich um: Um ihn herum stehen hohe Tannen, über ihm die Sterne.
Den Waldweg hinunter führt die Spur seiner Stiefel. Lars sieht die Abdrücke, die ihm gefolgt sind, bis hierher. Die Spur verliert sich in der Dunkelheit.
Es ist still im Wald.
Das leise Rascheln, wenn der Schnee durch die Tannenzweige rieselt, das hört er nicht.
Lars sieht zu den Sternen hoch. Er denkt an das Sterntalermärchen, das er als Kind so geliebt hat. Das Märchen hatte ihm seine Mutter oft vorgelesen, wenn er abends im Bett lag und die Augen zumachte. Als er dann älter und ein junger Mann wurde, hatte er davon geträumt, später einmal ein eigenes Haus zu haben.
Er wollte es besser haben als seine Eltern.
Lars wollte einen guten Beruf erlernen, eine liebe Frau finden, mit ihr Kinder haben. Eine richtige Familie gründen. Daran hatte er sein Leben lang geglaubt.
Obwohl seine Eltern es nicht befürworteten, hatte er als einziger in der Familie Abitur gemacht, danach zog er in eine andere Stadt und studierte.
In der neuen Stadt fand er eine günstige Kellerwohnung: Er hatte ein Bett, eine Herdplatte, ein Lichtschacht über dem Schreibtisch. Und das war viel damals - für Leute aus armen Verhältnissen wie ihn. Vier Mal in der Woche arbeitete er in einer Metallfabrik und am Sonntagmorgen trug er die Zeitung aus.
Lars las Bücher, saß unten in der Kellerwohnung, und im Licht seiner Schreibtischlampe lernte er abends chemische Formeln auswendig.
Mehr verlangte er vom Leben nicht.
Später fand er eine gute Arbeitsstelle und sparte Geld.
Irgendwann lernte er Maria und Philip kennen. Philip war damals erst zwei Jahre alt und Lars zog ihn auf wie seinen eigene Sohn.
Irgendwo im Wald hört er einen Kauz schreien. Lars mochte die einsamen Rufe dieser Nachtvögel, weil niemand ihnen Antwort gab.
Der Schnee unter seinen Stiefeln knirscht trocken, während er weiter durch den Wald läuft.
Das Sterntalermärchen, denkt er wieder...
Ein Kind, irgendwo im Wald in einer sternklaren Nacht. Es läuft barfuß über den Schnee, trägt ein weißes Leinenhemd, sonst hat es nichts. Das Kind ist bettelarm. Es weiß nicht, wohin es soll, denn ein Zuhause hat es nicht mehr. Es wird erfrieren.
Das Kind blickt zu den Sternen hoch, und auf einmal fällt ein Stern vom Himmel, ein silberner Taler fällt in den Schnee. Dann fallen immer mehr Sterne, es regnet Sterntaler, so viele, dass das Kind sie kaum in sein Hemdchen packen kann.
Das Kind läuft zurück in die Stadt und wird glücklich.
Lars geht weiter den Wald hoch, sieht die Lichter seiner Stadt.
Am Horizont sind auch Städte, weit entfernt, wie leuchtende Inseln in der Nacht.
Irgendwo dahinten ist auch Saverne. Das Dorf, wo er das alte Bauernhaus gekauft hatte.
Als er den Berg hochgewandet ist, nimmt er den Rucksack ab. Lars setzt sich in den Schnee, holt die Flasche heraus.
Baron Rotschild, Jahrgang 1974, steht auf dem Etikett.
Die Flasche öffnet er mit seinem Taschenmesser.
Der Wein tut ihm gut, wärmt seinen Magen.
Lars schaut über die Rheinebene nach Frankreich, sieht die Lichter von Straßburg.
Wieder muss er an den Sommer denken.
Seine Daunenjacke hält ihn warm, auch, als er sich rücklings in den Schnee legt.
Lars verschränkt die Arme hinter seinem Kopf, schaut zu den Sternbildern hoch, sieht Kassiopeia, Orion, den Polarstern.
„Es gibt keine Sterntaler in dieser Welt“, sagt er zu sich.
Schon als Kind hatte er sich immer gefragt, ob es dort draußen eine zweite Erde gibt, ein Planet, irgendwo ganz weit weg, von wo aus man unsere Sonne ebenfalls sieht: als kleiner bedeutungsloser Lichtpunkt.
Vielleicht ist dieser Planet ja noch jünger als unsere Erde, denkt Lars, und vielleicht leben dort noch Dinosaurier.
*
Lange schaut Lars zum Sternenhimmel.
Er merkt nicht, wie die Kälte langsam durch seine Jacke kriecht.
Irgendwann sieht er eine Sternschnuppe aufleuchten:
Ein heller Schweif in der Nacht.
Jetzt hab ich einen Wunsch frei, denkt er, und macht die Augen zu.
Er möchte mit seiner Familie in das Haus einziehen, spätestens bis zum Ende des Jahres.
Wolf W.