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Sternennebel
Mark-Viktor Büssing, 30, ein hübscher Kerl, belockt und üppig tätowiert, ist eigentlich kein gelernter Koch, denn sein Lebensentwurf sah anderes vor. Doch unglückliche und verunglückte Liebschaften, eine gescheiterte Ehe, abgebrochenes Studium und ein Totalschaden auf der Stadtautobahn bohrten ihre tausend Stachel in ihn, in die durch Tattoo-Tinte gefüllten Poren. Er bekam einen bösen Burn-out, weil er sich durch all die Schulden, Anwaltsrechnungen, Missgeschicke und oft widersprüchlichen Aussagen aus seinem und dem Munde Anderer in einer Art Fischreuse befand, bei der die nächste Kammer spürbar kleiner war als die vorige. Es strömte und strömte, ständig negativ – und es bestand keine Hoffnung, wieder herauszufinden aus der vertrackten Reuse und am besten natürlich aus diesem ganzen Scheißfluss.
Wenn er sich beim Rasieren im Spiegel sah, dann fand er sich ganz attraktiv. Seine Eltern hatten das gut gemacht. Ihnen konnte er nichts vorwerfen.
Und ihn Viktor, den Sieger, zu nennen, war auch gut gemeint und wäre ein Ansporn für jeden jungen Mann. Doch wenn Karma und Chakra und die Sterne nicht wissen, was sie wollen und einander widersprechen, dann entsteht eben Chaos im Leben des Einzelnen.
Leider ist er momentan – eigentlich schon längere Zeit – Viktor, der Loser.
M.-V. Büssing ist seit Jahren Küchenchef leicht schräger, aber total angesagter gastronomischer Kleinbetriebe. Ein Vierteljahr hier, dann Neueröffnung dort, ein halbes Jahr im veganen Bistrot „EN VOGUE“ und sieben Monate im Homöo-Restaurant „LE SAUVAGE“ (13 Plätze). Leider nur vier Monate im VEGI-YAKITORI, wg. Insolvenz.
Anstellungen dieser Art funktionieren nur bedingt, weil die Innovatoren, seine Chefs, stets branchenfremd sind. Villenbewohner, die Lieferservice und Kartoffelsalat Lebewohl sagen wollen, reichgewordene Kleinkarierte, die mit Beaujolais und Coq au Vin nicht mehr zufrieden sind, unterschiedlich begnadete Künstler und Medienstars. Ein eigenes, unverwechselbares Restaurant zu gründen ist einfacher, als einen Miró zu erwerben. Der allerdings wäre beständiger.
Viele von diesen Gebenedeiten setzen ihr Geld auch mit einem Traumhotel in den Sand. Es muss wohl die Faszination der Worte „Restaurant“ und „Hotel“ sein.
Zur Zeit fasziniert Viktor abenteuerlustige Avantgarde-Esser im „PEARL IN THE MUSSEL“. Fünf intime Tische, deren Platten, wie auch Wände und Decke, von einer bretonischen Glaskünstlerin gestaltet wurden mit unglaublich schönen Seafood-Motiven und Farben. Wasser rinnt, an die Vergänglichkeit des Lebens erinnernd, über die Wände, bildet kleine Kaskaden – viele Damen müssen wegen der rieselnden Geräusche ihr Menü unterbrechen, ältere Herren ebenfalls.
Ein Störfaktor, der das gesamte Geschäftsmodell in Frage stellt. Doch noch floriert es. Viktors Kreationen sind einfach umwerfend. Zwischen Toronto und Barcelona wird man solches kein zweites Mal finden!
Taubenhoden auf Gnocchi von Macadamiamehl in reduziertem Algenfond und mit Seetang gepiercte Austern – oder Hickory-geräucherte Bucheckern auf japanischem Yubari-Chutney. Auch sensationell: Squirdquallajla! Ein Eskimorezept, man könnte auch sagen: eine Nordpol-Bouillabaisse, nur aus Krill zubereitet, im Thermo-Mix modernisiert und mit Sechzehnteln eines gespaltenen Kabeljaus angereichert, illuminiert mit Analog-Nordlicht. Es könnte sein, dass dieses Restaurant Bestand hat – wenn das rinnende Wasser vereist würde.
Alkohol in der Küche ist nicht gern gesehen.
Früher, da tranken die Köche jeden Tag ihr Deputat, wie es auch die Bierkutscher von ihrer Brauerei bekamen. Haustrunk nannte man das. An jedem Posten - also Arbeitsplatz in der Küche - stand ein dickes Halbliter-Glas mit dem Bier des Hauses.
Das war normal und legal, die Direktion hatte Kenntnis davon und auch von der guten Eigenschaft des Haustrunks, die Arbeitsleistung steigern zu können und die besonders im Hochsommer höllischen Hitzegrade in den Küchen zu ertragen.
Demnach hätte es an den Hochöfen, in den Gießereien und Schmelzen auch einen Haustrunk geben sollen?
Aber nein, wieso denn? Sicher, es ist mörderisch heiß dort, die Männer mit ihrer Schutzkleidung haben aber ein überschaubares Arbeitspensum zu leisten. Die Arbeitsgänge wiederholen sich und es stellt sich trotz der Hitze Monotonie ein.
Nicht so in der Küche! Hundert Bestellungen zur gleichen Zeit, davon fünf Chateaubriand (das doppelte Rinderfilet), eins für Konsul Meyer, also extra soignée und trotzdem fast durch, weil dessen Gattin kein warmes Blut sehen, geschweige denn genießen kann; kaltes Blut hingegen macht ihr nichts - sie ist Ärztin in der Forensik. Das zweite für den englischen Botschafter, also rarer als rare, das dritte für einen Maharadscha, der dieses edelste Stück vom Rind aus Glaubensgründen als Schweinefilet deklariert und am liebsten gut durchgebraten isst, dann noch eines total bleu, fast im Rohzustand, für extraordinaire Gäste aus Australien und das fünfte in besonders feinen Scheiben und Teri-Yaki-Sauce für Gäste aus dem Lande der aufgehenden Sonne. Zeitgleich dazu achtzehn verschiedene Beilagen, Sauce Choron, Steinbuttfilets in Verjus, Wachteln mit Steinpilzen und Mandelpolenta, Hasenroulade mit Maronenmousse und Spitzkohl, Artischocken mit äußerst pikanter Sardellensauce und gebackenen Austern und unzähligen Details, damit alle einhundert Bestellungen zeitgleich, heiß, mit dem richtigen Garpunkt und der notwendigen Sorgfalt die Gäste erreichen. Wenn dann alles gut läuft, also ungefähr halb fertig ist, werden schon die nächsten Kommandos in die Küche geschrien. Und so geht das immer weiter und ohne den Haustrunk würde alles zusammenbrechen.
Bei Mark-Viktor Büssing ist die Küchensituation etwas anders, denn in diesen kleinen Szene-Restaurants gibt es zwar weniger Gäste, doch extrem hohen Anspruch.
Hier möchte das extravagante Publikum keinen Steinbutt, sondern Seefenchel zu sich nehmen, nur fünfzehn Sekunden mit einer Spur Aonoriko gegrillt, mit blauem Sesam und Schnee von pulverisierten Tamarinden besprenkelt. Sie möchten auch keine anderen Tiere essen, gern aber die seltenen Darrh-Errh-Wurzeln mit koreanischen Enokipilzen in Eukalyptussirup geschmort. Ebenfalls ganz großartig und stark sterneverdächtig: ein salziges Baiser von weißen Bohnen und gepufftem Amaranth mit kaltem veganen Spiegelei (das „Eiweiß“ ist gelierte Reismilch und das „Eigelb“ besteht aus Arganenöl und Sumpfdotterblütenstaub).
Die hier aufkreuzenden Paradiesvögel mit ihren hochgeschobenen Sonnenbrillen, weil es abends dunkel ist, und den unentbehrlichen Schals, ungeachtet der hohen Raumtemperatur, sind ständig auf der Suche nach dem letzten Kick, hauptsächlich aber nach dem Thema, das man am nächsten Tag, beim Fünf-Uhr-Tee nach dem Golf, locker ins Gespräch einbringen kann. Erwähnenswert auch, dass man mit diesem großen Küchenchef, der kurz vor seinem ersten Stern steht, per Du ist und dass der sie als reizender und liebenswürdiger Mensch an ihrem Tisch begrüßt und später dann mit Handschlag verabschiedet.
Der Küchenchef M.-V. Büssing ist arbeitsvertraglich verpflichtet, so oft wie möglich an die Tische zu treten und mit den Gästen zu parlieren, Ungewohntes zu erklären, Kundenbindung zu betreiben, hier vielleicht ein philosophisches Zitat einzustreuen und dort einen Scherz. Bei dieser Gelegenheit kann er auch gleich Unverträglichkeiten und Sonderwünsche entgegen nehmen. Nur die Weinempfehlung kommt nach wie vor vom Sommelier.
Bei seiner Rückkehr in die Küche ist dann meist ein kleines Malheur passiert, meist haben die zarten Vegetabilien etwas zuviel Hitze abbekommen, sind also angebrannt oder fast verschmort.
Man wird es trotzdem servieren; diese exotischen Materialien sind exorbitant teuer, und er wird es bei seiner nächsten Runde durchs intime Restaurant als gewollte Karamellisierung deklarieren. Die Resonanz des elitären Publikums liegt dann meist zwischen „Einfach genial“ und „Wirklich meisterlich“.
An dieser Stelle ist ihm nach dem Haustrunk der alten Meister zumute, aber in diesem schicken Laden gibt es kein Bier, weder vom Fass noch in Flaschen.
Körperliche Arbeitsleistung in seinem Alter wäre nicht der Rede wert – jedoch ist auf diesen kleinen Bühnen der Selbstbewunderung überbordende Kreativität gefragt – die wiederum braucht Stimulation. Das allgegenwärtige flaue Gefühl will vertrieben werden.
Er leidet unter diesem Kasperletheater der Tricks und des Scheins. Er hat keine vernünftige Ausbildung und trägt Weiß wie kriminelle „Heiler“, die sich als Ärzte ausgeben.
Er könnte seine Klientel mit dem Kopf in die Saucenreste auf ihren Tellern tunken, wenn sie ihn beklatschen für den Pfusch, den er angerichtet hat, wenn sie auf seine optischen Bluffs hereinfallen, mit Spray und Schaum und Glamour und Privatfeuerwerk. Mit all den bunten Tupfen aus den gekauften Saucenspendern und einem gebackenen oder gedörrten Gebilde ohne Geschmack. Oh, diese Optik! Overwhelming. Oft kommt es so heraus, dass die deutschen Gäste nur englisch sprechen, obwohl der einzige Ausländer am Tisch Mr. Yosenabe ist, der in Karlsruhe Germanistik studiert hat und mit einer Deutschen nicht nur verheiratet ist, sondern auch drei sehr gelungene Kinder hat – mit denen er ganz gut deutsch spricht.
Also trinkt M.-V. Büssing Apfelsaft, korrekt gesagt ein Getränk, das ungefähr so aussieht wie der Saft gepresster Äpfel. Leider mit verheerender Wirkung, denn seit er sich einmal mit dem streunenden Hervé aus Toulon besoffen hatte, kommt er von diesem Drecksabsinth nicht mehr los. Ein verhextes Fusselzeugs aus gebranntem Wermut! Schlimmer geht’ s nicht.
Wie in Trance verabschiedet er gemeinsam mit seinem Arbeitgeber die letzten Gäste und knipst das Küchenlicht aus. Die Grüne Fee hat ihn wieder in ihrer Gewalt. Er muss noch ins Bordell, danach noch irgendetwas trinken, und rauchen, und neuen Absinth kaufen.
Er ist fertig. Doch hellwach, dass es eine Qual ist. Er hasst seine überdrehte Kundschaft, diese Parvenüs, diese Nervensägen, die heute unbedingt alles wissen müssen und das von gestern schon wieder vergessen haben.
Er möchte gescheite Leute treffen, mit denen er einmal richtig reden kann, über all das, was ihm im Magen liegt und auf der Seele. Über Politik, über Frauen, Geschäft, Gerechtigkeit, Notwehr und Aufrichtigkeit – und Fairness.
Er will reden und nimmt sich zu dieser schlecht gewählten späten Stunde seinen Laptop vor, er muss alles aus sich heraushämmern, sonst erlebt er den nächsten Tag nicht mehr.
Je mehr er trinkt, umso trockener wird sein Mund. Der konzentrierte Wermut wütet in seinem Inneren wie Napalm. Und in seinem Hirn wie Crack.
Sein Text wütet ebenfalls und jammert. Dort die Künstler, die Intellektuellen – und hier die Leute, die bei der Maloche schwitzen wie Sau und fast verrückt werden bei diesem Druck von Höchstleistung und Tempo.
Leben und Tod, Luxus und Neid, Falschheit und verschmähte Liebe – alles schäumt über.
Und so schreibt der Galgenkandidat einfach das, was er weiß und denkt, vor allem, was er fühlt und über das, was er sich sehnlich wünscht. Plötzlich überfällt ihn irrsinniger Hunger, er reißt eine Dose Ravioli auf und schaufelt den Inhalt, ohne den Blick vom Schirm zu nehmen, in sich hinein. Tomatensoße tropft auf die Tasten, zu jedem Gedanken fallen ihm tausend Worte ein, es trägt ihn fort in bläuliche Gefilde, deren wunderliche Vegetation mit noch nie gesehenen Früchten, mit bizarren Blättern und seltsamen Sprossen ihm neue Möglichkeiten eröffnet. Vielleicht kann er diese ellipsenförmigen taubengrauen Beeren einbetten in eine Royale von Fliedersaft und Maulbeermus, die fast transparenten, rosascheinenden Blätter mit Tatar von gepökelten Flechten füllen und die Orchideensprossen rösten und anrichten auf einer Fondue von Wicken und Gänselebertran.
Es ist kein leichter Job, der Zeit immer einen Tag voraus zu sein; die Kundschaft glauben zu machen, man könne das.