Mitglied
- Beitritt
- 12.06.2002
- Beiträge
- 280
- Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:
- Kommentare: 6
Sternenkratzers Fantasy-Welt: Das Ende der Welt
1. Lissa
Lissa war zehn Jahre alt, sie war eine Hexe und sie war nicht glücklich darüber.
"Magie", predigten die Ältesten, "ist Macht! Und wer Macht hat, der will herrschen!"
"Die Gilde der Zauberer und der Magische Orden der Priesterinnen sind in ihrer Gier nach Macht und Reichtum unersättlich", sagte ihr Vater. "Wir können uns nicht auf ewig vor ihnen verstecken. Eines Tages werden sie kommen und dann wird unser Dorf das letzte freie Dorf gewesen sein."
Lissa wollte nicht herrschen. Sie wollte keine Macht und auch keinen Reichtum. Sie wollte so sein wie die anderen. Mehr nicht.
Einmal hatte Lissa ihren Vater im Gespräch mit einem Nachbarn belauscht. "Das Schlimmste, was uns passieren kann", hatte der Nachbar gesagt, "ist, wenn in unserem Dorf ein Kind mit magischen Fähigkeiten geboren wird. Sobald die verdammten Ratten der Gilde und des Ordens Magie auch nur riechen, kommen sie aus ihren Löchern gekrochen! - Wenn so ein Kind bei uns geboren wird, wir sollten es sofort nach der Geburt erschlagen!"
"Und wenn es dein Sohn ist?", hatte Lissas Vater sanft geantwortet. "Wenn es deine Tochter ist? Was machst du dann?"
Lissa war keine Hexe von Geburt an. Erst seit ein paar Wochen hörte sie in sich das magische Rauschen der Welt. Ihrer Mutter war Lissas aufkeimende Unsicherheit nicht entgangen. "Du wirst älter, das ist alles", hatte sie freundlich und verständnisvoll gesagt, sich zu Lissa gesetzt, ihr vertraulich den Arm um die Schulter gelegt und dem Mädchen Dinge erklärt, die es gar nicht hatte wissen wollen.
Das wirklich Wichtige erwähnte sie nicht und Lissa hatte sich nicht getraut, ihre Frage zu stellen.
2. Die Priesterin und der Zauberer
Lissa war zehn Jahre alt, sie war eine Hexe und sie hatte eine erbärmliche Angst davor, dass irgendjemand hinter ihr Geheimnis kam.
Das Schweigen fiel Lissa schwer. Sie sehnte sich danach, mit jemandem darüber zu sprechen, was es bedeuten mochte, wenn sie in sich hineinlauschte und ein Echo der ganzen Welt in ihr widerhallte.
Anstatt mit den anderen Kindern zu spielen, sonderte sie sich ab. Die meiste Zeit des Tages verbrachte sie im Wald, der das Dorf im Nordwesten begrenzte. Früher hatte sie sich vor dem Dunkel unter den dichten Kronen gefürchtet und war bei jedem Geräusch zusammengezuckt. Früher - jetzt liebte sie es, mit den Rücken an einem Baum zu lehnen, die Augen zu schließen und sich dem ruhigen Puls des Waldes hinzugeben.
Die Mittagszeit nahte und Lissa verspürte Hunger. Sie fragte die Welt, was zu tun sei, und erhielt eine Antwort. Sie bedankte sich und öffnete die Augen. Zielstrebig ging sie durch den Wald bis zu einer kleinen Lichtung. Am Rand stand ein wilder Apfelbaum. Von einem herunterhängenden Ast pflückte Lissa einen kleinen, verschrumpelten und noch grünen Apfel. Sie kniete nieder, strich das heruntergefallene Laub zur Seite und nahm frische, feuchte Erde auf, mit der sie die Frucht einrieb. Sie konzentrierte sich. Die Erde trocknete zu Staub, der Apfel in ihrer Hand wuchs und reifte. Lissa lächelte. Sie säuberte den Apfel und biss herzhaft hinein.
"Es kam von hier!", sagte eine weibliche Stimme.
"Ja", brummte ein Mann.
"Es war eine erstaunlich intensive Manifestation von Magie", sagte die weibliche Stimme. "So etwas habe ich noch nie erlebt."
"Vielleicht eine magische Quelle", mutmaßte der Mann.
Die Frau lachte auf. "Bei allen Göttern! Erzähl mir nicht, dass die Zauberer der Gilde an das Märchen von den magischen Quellen glauben!"
"Vielleicht wissen wir mehr als ihr Priesterinnen", gab der Mann zurück.
"Aber auch nur vielleicht!", konterte die Frau.
Lissa drückte sich eng an den Stamm des Apfelbaumes. Ein einfacher Wunsch genügte und sie verschmolz mit der Rinde; sie wurde unsichtbar für die Sinne der Menschen. Zwei Gestalten traten auf die Lichtung hinaus. Die eine, größere war eine hoch gewachsene, schlanke Frau in einem langen weißen, in der Taille gegürteten Kleid. Die andere war ein gebückt gehender Mann in einer dunkelgrauen Kutte mit tief heruntergezogener Kapuze.
Die Priesterin beschattete ihre Augen mit der Hand und musterte die Lichtung. Sie runzelte die Stirn. "Hier ist nichts", stellte sie fest.
"Es ist bald Mittag", sagte der Zauberer. "Lass uns weitergehen. Das Dorf ist nicht mehr weit und ich möchte diese unangenehme Sache noch vor dem Essen hinter mich bringen."
Die Priesterin sah auf ihn hinunter. "Du hättest nicht mitkommen müssen. Es wird ein Mädchen sein. So weit draußen ist es immer ein Mädchen. Der Magische Orden wird sich um das Balg kümmern und die Gilde wird leer ausgehen. - Wie üblich."
Der Zauberer knurrte unter seiner Kapuze. "Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht."
Sie verschwanden im Buschwerk.
Lissa wagte nicht, sich zu rühren. Sie lauschte angespannt. Als sie sicher war, dass die Priesterin und der Zauberer weit genug weg waren, löste sie sich von dem Baum. Sie schenkte ihm einen raschen, aber ehrlich gemeinten Dank für den gewährten Schutz. Dann ließ sie den angebissenen Apfel fallen und rannte los. Der Weg ins Dorf hatte mehrere Biegungen. Wenn Lissa stattdessen den geraden Weg durchs Gebüsch nahm, dann wäre sie früher im Dorf als die Priesterin und der Zauberer und konnte die anderen warnen.
Atemlos lief sie zu ihrem Elternhaus und stürzte hinein.
"Mama! Mama!"
Lissas Mutter stand am Küchenfenster. Sie bedeutete dem Mädchen zu schweigen. "Nicht jetzt, Kind! Nicht jetzt!"
Lissa war zu spät gekommen. Durch das Fenster erblickte sie die zwei Gestalten auf dem Sandweg, der durch das Dorf führte. Beide erregten schnell Aufmerksamkeit. Im Nu zogen sie einen Schwanz neugieriger Dörfler hinter sich her.
Der Dorfälteste trat den Fremden entgegen. In den Händen hielt er eine Mistgabel. Die Zacken waren nach vorne gerichtet.
Die Priesterin des Magischen Ordens hob die Hand und berührte wie nebenbei die goldene, edelsteinbesetzte Kette an ihrem Hals.
Lissa kniff die Augen zusammen. Es war keine normale Kette. Die Edelsteine schimmerten in einem schwachen, farblich nicht bestimmbaren Ton. Die Priesterin nahm die Magie aus den Steinen und formt sie mit ihrem Willen. Ein Schlieren zog durch die Luft und hüllte die Forke ein. Sie löste sich auf. Mehrere Schritte entfernt fiel sie aus dem Nichts erscheinend zu Boden. Ein Raunen ging durch die Dörfler.
Lissa blinzelte überrascht. Sie hatte nicht gewusst, dass Magie auch so genutzt werden konnte.
Die Priesterin betrachtete den alten Mann. "Wir kommen wegen dem Kind", sagte sie. "Gib es heraus und wir werden wieder gehen." Ihr Blick schweifte über die Häuser und die herumstehenden Dörfler. "Allerdings werden wir berichten, dass dieses Dorf noch keinen Verwalter hat."
Murmelnd fügte der Zauberer hinzu, ohne den unter der Kapuze versteckten Kopf zu heben: "Die Gilde wird einen Vertreter schicken."
Die Priesterin verzog unwillig das Gesicht. "Der Orden natürlich auch", betonte sie.
Der Älteste verschränkte die Arme vor der Brust. "Zwei nutzlose Esser", sagte er abschätzig. "Darauf können wir verzichten. Wir wollen euch nicht."
Die Priesterin winkte ab. "Was ihr wollt, alter Mann, ist in keinster Weise von Bedeutung. Jetzt geh zu Seite, lass uns durch und übergib uns das Kind!"
Lissa schielte am Rocksaum ihrer Mutter vorbei. Einige Männer schlichen heran. Sie trugen Knüppel, Spaten, Mistgabeln oder auch nur Steine.
Der Zauberer fuhr plötzlich herum. "Was bei allen ..." Ein Stein traf ihn am Kopf. Er verstummte und taumelte.
Auch die Priesterin zögerte einen Augenblick zu lange. Sie griff zu der Kette an ihrem Hals ohne die Bewegung vollenden zu können. Zu schnell waren die Männer mit den Knüppeln über ihr.
Lissa vergrub ihr Gesicht in der Schürze ihrer Mutter.
*
"Wir mussten es tun", rechtfertigte ihr Vater das Handeln der Männer. "Sollen wir ihnen einfach so unsere Kinder geben? Damit sie sie mitnehmen und aus ihnen Zauberer und Priesterinnen machen? Und wenn sie erst einmal in unserem Dorf Fuß gefasst haben, dann haben wir unsere Freiheit für immer verloren."
Ihre Mutter flüsterte: "Aber sie werden wiederkommen, nicht wahr?"
"Ja", antwortete ihr Mann ernst. "Es werden weitere kommen. Aber wir werden unsere Freiheit so lange es geht verteidigen."
Nach kurzem Zögern fragte Lissas Mutter leise: "Welches Kind mag es ein, das sie suchen? Welcher der Jungen ist ein Zauberer? Welches der Mädchen ist eine Hexe?"
Lissa saß bewegungslos und mit hängendem Kopf am gemeinsamen Tisch. Sie starrte auf die Bohlen des Fußbodens. Sie wagte nicht aufzuschauen, denn die vorwurfsvollen Blicke ihrer Eltern hätte sie nicht ertragen.
3. Der Kampf
Der Frieden dauerte zwei Wochen.
Die Wachen, die die Dorfbewohner im Wald aufgestellt hatten, rannten durch das Dorf und brüllten ihre Warnungen. Die Männer und Frauen bewaffneten sich. Die Kinder wurden ermahnt und in vorbereitete Verstecke geschickt. Lissa gab sich willig, um sich dann in einem unbeobachteten Moment in die Büsche zu schlagen.
Diesmal kamen die Priesterin und der Zauberer nicht allein. In ihrer Begleitung befanden sich ein gutes Dutzend Soldaten. Und eine Handvoll in starke Ketten gelegte Bestien, - Mischlinge, dessen einer Elternteil ein Mensch gewesen war.
Die Dörfler gingen ihnen entgegen.
Lissa schlich ihnen nach. Sie wählte einen Umweg durch den Wald und verbarg sich hinter einem Busch auf einer kleinen Erhebung. Sie sah, wie der Dorfälteste mit der Priesterin und dem Zauberer sprach. Währenddessen standen die Soldaten gelangweilt im Hintergrund und bändigten die unruhigen Mischlinge. Die Front der notdürftig bewaffneten Dorfbewohner schien sie nicht zu beeindrucken.
Der Zauberer verlor als erster die Geduld gegenüber den widerspenstigen Dörflern. Er gab den Soldaten ein Zeichen.
Allein mit ihrer Zahl hätten die Dörfler die Zauberer, die Priesterin und die Soldaten besiegen können. Gegen die Mischlinge jedoch waren sie wehrlos. Als die Soldaten den Bestien die schweren Ketten abnahmen, verwandelten sie sich in Schemen, die zwischen den Männern und Frauen des Dorfes nach Belieben wüteten.
Lissa hielt den Anblick nicht lange aus. Voller Entsetzen krümmte sie sich zusammen und presste die Fäuste so fest auf ihre Lider, dass es schmerzte. Aber umso deutlicher und grausamer klangen die Geräusche in ihren Ohren. Da war das Schreien der Menschen, wenn sie von den scharfen Klauen der Bestien zerfetzt wurden. Da war das Brechen von Knochen, wenn die spitzen Fänge ihre Opfer im Nacken packten und wild herumschleuderten. Da war das Brüllen, das jeden einzelnen Tod wie einen großen Sieg feierte.
Der Widerstand war schnell gebrochen. Die Dörfler flüchteten in alle Richtungen. Die Bestien setzten ihnen blutdürstig nach.
Es war ihre Schuld. Lissa hatte keinen Zweifel. Es war ganz alleine ihre Schuld. Sie war die Hexe. Sie war diejenige, die das Unglück über das Dorf gebracht hatte.
Das wollte ich nicht!, hämmerten ihre Gedanken. Das wollte ich nicht!
Wenn ihre Eltern, ihre Geschwister und ihre Freunde in Sicherheit wären ... Wenn sie alle, die Menschen, die Tiere, die Häuser, die Pflanzen, - wenn das ganze Dorf irgendwo anders wäre, weit weg, am anderen Ende der Welt, dort, wo niemand, weder die Zauberer noch die Priesterinnen noch irgendjemand anderer es jemals würde finden können.
Bringt euch in Sicherheit!, dachte sie. Lauft, rennt, verschwindet! Bringt euch in Sicherheit - am anderen Ende der Welt!
Ihr Wunsch durchbrach den Damm, der die magische Welt von der realen trennte. Eine Woge reinster Magie überschwemmte Lissa. Das Mädchen verlor das Bewusstsein.
Die Priesterin und der Zauberer taumelten benommen unter dem Ansturm der magischen Flut. Die Soldaten ließen verwirrt ihre Schwerter sinken. Die Mischlinge irrten umher.
Nachdem sie sich gefangen hatten, durchsuchten sie das, was einmal das Dorf gewesen war.
Magie, soviel erkannten sie, war die Erklärung. Aber verstehen taten sie es nicht. Niemals zuvor war etwas Vergleichbares geschehen.
Schließlich fingen die Soldaten die herumstreunenden Bestien ein und legten ihnen die schweren Ketten um. Dann marschierten sie den Waldweg zurück.
Das kleine Mädchen, das zu Tode erschöpft abseits unter einem Strauch lag, fanden sie nicht.
4. Das andere Ende der Welt
Lissa erwachte früh am nächsten Morgen von der feuchten Kühle des Taus und dem hellen Gezwitscher eines einzelnen Vogels. Sie zwang sich auf und stolperte den Hügel hinunter.
Sie fühlte sich entsetzlich leer. Das Rauschen der Magie, das sie in den letzten Wochen ohne Unterlass begleitet hatte, war verstummt. Sie versuchte sich darüber zu freuen. Ohne Magie war sie keine Gefahr mehr für das Dorf und konnte ihr altes Leben wieder aufnehmen. Dennoch empfand sie den Verlust als bedrückend, als ob ein Teil von ihr gestorben wäre.
Benommen taumelte sie den Sandweg entlang. Erst spät nahm sie die Veränderungen wahr.
Das Dorf war verschwunden. Die Häuser, die Ställe, die Menschen, die Tiere, die Bäume - alles war fort. Wo die Häuser gestanden hatten, waren nur noch dunkle Flecken; wo Mauern und Bäume in der Erde gesteckt hatten, waren nur noch tiefe Löcher. Das Dorf war verschwunden und hatte eine große, einsame Fläche hinterlassen.
Lissa erinnerte sich an ihren Wunsch. Sie verstand, was er bewirkt hatte. Eine Frage lohte in ihrem Inneren auf.
Wo ist das Ende der Welt?
Das war nicht die richtige Frage. Lissa sank auf ihre Knie und starrte betäubt vor sich hin.
Selbst wenn sie das Unmögliche schaffte und das Ende der Welt fand, würde es ihr nichts nützen. Tränen rannen ihre Wangen hinunter.
Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und schluchzte auf. Von jetzt an war sie allein und sie hatte keine Möglichkeit, jemals etwas daran zu ändern. Denn die richtige Frage lautete:
Wo ist das andere Ende der Welt?
---
(c) by Sternenkratzer, August 2003