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Sternenkilometer

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Sternenkilometer

Sternenkilometer


Ein heller Lichtschein durchflutete die Finsternis, als er seine Zigarette an der Flamme der kleinen, fast nicht erkennbaren Kerze entzündete. Der Lichtschein ließ für einen Moment einen Blick auf sein verzerrtes Gesicht zu: Die Augen, trotz der eigentlichen Farbe eines strahlenden Sommerhimmels so schwarz wie Teer, seine vollen Lippen zu einem schmalen, harten Strich erstarrt.
Mehr konnte sie in diesem kurzen Augenblick nicht erkennen. Doch in ihrem Kopf entwickelte sich das ganze Bild von ihm, wie er da saß. Da saß und nichts sagte. Da saß und keine Bewegung, nicht das kleinste Zucken seines Körpers zuließ.
Erstarrt vor; wovor?
Angst, Verzweiflung oder Erschrecken?
Sie nahm sich selbst eine Zigarette aus der Tasche ihres dicken Pullis, den sie vorsorglich mitgenommen hatte auf die Brücke. Denn obwohl es eigentlich noch Sommer war, man sich am Tage nach jedem Tropfen Wasser sehnte, waren die Nächte schon kühl.
Sie wollte noch einen Blick auf sein Gesicht erhaschen.
Sie schrak zurück, als nun ihre Zigarette einen Lichtkegel auf sein Gesicht warf: Tränen rannen ihm die Wange herunter. Langsam kullerten sie, tropften herunter auf sein neues Sweatshirt. Vor zwei Tagen kam er noch strahlend damit bei ihr an und war fast beleidigt, als ihr nach fünf Minuten immer noch nicht dieses „unglaubliche Teil“ aufgefallen war.
Was für Nichtigkeiten, Unsinn.
Sie schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken zu verscheuchen, nach einer Möglichkeit suchend ihn zu trösten. Nicht mit der Weisheit, wie ihre Mutter es jetzt versucht hätte, nicht mit irgendeiner klugen Halbwahrheit.
Sie atmete tief aus, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, das seinen Schmerz lindern würde. Sie schloss ihn wieder, zog ihre nur mit einem Sommerrock bekleideten Beine an ihren Körper und schaute in den Himmel: Er war übersät von unzähligen Sternen, einer heller als der andere. Einer schöner als der andere, jeder einzigartig. Alle so weit weg. Weg von ihr, weg von einander.
Sie streckte ihre Hand aus, suchte seine. Berührte sein Knie, sah und spürte seine erste Bewegung an diesem Abend. Sah zum ersten Mal an diesem Abend, in dieser sternenklaren aber auch finsteren, kalten Nacht seine Augen; zog ihre Hand zurück.
Denn er war weiter weg, weiter entfernt als jeder einzelne Stern über ihr.

 

Hallo Martina

eine kurze, schön erzählte Geschichte über die Hilflosigkeit, die einen manchmal befällt, wenn man versucht einem anderen Menschen zu helfen, hast du da geschrieben.:)

Eine Unstimmigkeiten ist mir aufgefallen:

Sah zum ersten Mal an diesem Abend, in dieser sternenklaren aber auch finsteren, kalten Nacht seine Augen
Nicht zum ersten Mal. Am Anfang schreibst du ja, dass seine Augen schwarz wie Teer wären, als sie im Schein der Zigarette zu sehen waren.

Schade, dass du nur angedeutet hast, wieso sich der Mann in deiner Geschichte so verhält.

Den Vergleich der Entfernung mit den Sternen am Schluss ist passend und schön.

Grüße
Morticinus

 

Servus Martina!

Was sich mir erst aufdrängte war die Vermutung, dass die Frau vor einem Komapatienten sitzt. Einem Menschen der selbst keiner tatsächlichen Regung mächtig ist. Die Tränen sprechen dagegen, ebenso das erst vor zwei Tagen gekaufte Shirt. Also zwei Menschen die etwas erlebt haben, erkannt haben, das jetzt unausweichlich, unüberbrückbar zwischen ihnen steht?
Du hast es wunderbar beschrieben, wie weit dieser Mensch, trotzdem sie ihn berühren kann, von ihr entfernt ist - Sternenkilometer. Aber mir fehlt ein bisserl ein warum. Das Gefühl ist sehr gut spürbar gemacht, aber die Protagonistin ist sich in ihrem Wissen selbst genug, lässt mich nicht Einsicht nehmen.

Lieben Gruß schnee.eule

 

Hallo!

Ich finde es schön, dass nicht gesagt wird, warum der Mensch so regungslos ist. Das lässt wunderbar viel Raum zum Überlegen, sogar zum Träumen. Zu letzterem lädt deine Geschichte mich ein. Vor allem, weil ich mich in die Frau, aufgrund der Hilflosigkeit, die auch Morticinus angesprochen hat, hineinversetzen kann, und auch, weil ich ähnliche Sachen sowieso gerne tagträume, dann mit Menschen meines Umfelds in den Gedanken... Deine Geschichte hat etwas so tragisches - und es kann alles sein. Das finde ich toll. Dass du die Sterne als Vergleich für die Entfernung nimmst, finde ich auch sehr sympathisch... Die letztliche Wirkung auf mich: Bedrückende Melancholie und mich-selbst-wiederfinden.

Gruß,
Mario

 

Hallo Martina,

sehr rührend, wirklich. Sterne als Spiegelbild für die Ferne oder Distanz zu einer Person, an die man nicht rankommt. Du kommst ohne große Übertreibungen zurecht und beschreibst in einem sprachlich überzeugenden Stil.
Es ist zwar nicht so ganz mein Genre, weil ich etwas Spannung vermisse, aber trotzdem gut gemacht. Ein gutes Konzept.

Lukasch

 

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