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Sternenfenster

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26.09.2006
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Sternenfenster

Die Kantine war ein trauriger Ort. Grau-weiß gemusterter Fliesenbelag auf dem Boden und die Neonbeleuchtung ließen das Ganze wie den Gemeinschaftsraum eines heruntergekommenen Gefängnisses erscheinen. Diese Tristesse vermochten auch die vergilbten Landschaftsbilder nicht zu durchbrechen.

Oliver saß vor seinem Essen und brachte keinen Bissen hinunter. Seine Gedanken kreisten einmal mehr um ein nach Monaten aus der Versenkung zurückgekehrtes Gerücht, das alle paar Jahre seine Runde machte, die Belegschaft zu wilden Spekulationen und mehr oder weniger peinlichen Geschichten inspirierte. Normalerweise verschwand das Getuschel genauso schnell wie es aufgekommen war, doch diesmal ertappte sich auch Oliver des Öfteren bei solchen Gedankenspielen.

Sein Freund Arthur war gerade beim Essen. Er machte einen müden Eindruck und stützte sich auf den Tisch.
Zufällig kam ein Roter vorbei und nutzte die Gelegenheit sich zu profilieren. Mit einer Miene aus der Oliver problemlos lesen konnte, dass sich der Kerl selbst für etwas besseres hielt, säuselte er los:
»Sag Oliver, warum treibst Du Dich immer wieder mit diesem gelben Gesindel herum?« Er deutete abfällig auf Arthur.
»Lass uns in Ruhe!«, sagte der.
»Vergiss bitte nicht, die machen ständig Ärger, der halbe Tag Stillstand letzte Woche war auch einem Gelben zu verdanken.«
Arthurs Faust donnerte auf den Tisch, sodass Oliver zusammenzuckte.
»Wenn Du nicht die Schnauze hältst, verpasse ich Dir eine ganze Woche Stillstand, also sieh zu, dass Du Dich verpisst!«
»Schon gut, ich bin dann mal weg, aber sei vorsichtig mit denen, Oliver, sonst gehörst Du bald dazu!«, näselte der Störenfried. Endlich suchte er das Weite.
»Was für ein Idiot!«
»Wie bist Du denn an den geraten?«, fragte Arthur.
»Man hat's eben nicht leicht«, seufzte Oliver.
Arthur klopfte auf den Tisch und ging.

Gerade als auch Oliver gehen wollte, schnappte er einen Gesprächsfetzen vom Nachbartisch auf.
»Und wo genau soll die Tür sein?«
»Jetzt fängst Du auch noch mit dem Quatsch an, das ist doch alles Blödsinn!«, mischte sich jemand ein.
»Aber man hört doch immer wieder davon, oder?!«
»Vergiss es, ist alles nur Geschwätz.«
Belustigt schüttelte Oliver den Kopf und trat auf den Flur hinaus. Bester Laune schlenderte er zu seinem Arbeitsplatz.

Die Architektur der Fabrikhalle glich einem Bahnhofsgebäude. Im Abstand von fünfzehn Metern war die Halle von durchsichtigen Rohren, die zur Anlieferung und zum Abtransport des Arbeitsmaterials bestimmt waren, durchzogen. Sie fanden ihren Ursprung in Schwaden roten Dunstes, hoch oben an der Halledecke. Förderbänder trugen dabei ihren Teil zum metallischen Konzert klickender Relais, zischender Ventile und schwirrenden Gesangs zahlloser Rollbänder bei, obwohl Leerlauf herrschte.

Allmählich ging die Mittagspause zu Ende und die Werkssirene kündete vom bevorstehenden Anlaufen der Produktion. Unter den Arbeitern machte sich Hektik breit - aus allen Richtungen eilten die Menschen im Laufschritt durch die Halle.
Kurz bevor Oliver seinen Arbeitsplatz erreicht hatte, überholte ihn Melissa auf einem Skateboard. Sie war vielleicht dreißig Jahre alt, genau wusste er das nicht.
»Hallo Oliver! Soll ich Dich mitnehmen?«, rief sie fröhlich.
»Lass gut sein,« schrie er. Die Rollbänder machten einen ungeheuren Lärm. »Ich bin doch schon da, wo ich hingehöre.«
»Alles klar, ich muss mich beeilen.« Sie winkte ihm zu und verschwand im Gedränge.
Ganz von Sinnen ging er an seinen Platz. Melissas Augen hatten ihn wieder einmal verzaubert.

Oliver begann sich langsam Sorgen zu machen; die Produktion lief in Kürze an, doch Arthur war nicht in Sicht. Ein langanhaltender Klingelton ertönte und die Geräusche in der Halle wurden um Maschinenlärm in tieferen Tonlagen erweitert. Die Bänder transportiert wieder Bauteile.

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich an seine Maschine zu stellen und die Sorgen um seinen Freund beiseite zu schieben. Er steckte einen roten Schlüssel in den dafür vorgesehenen Schlitz und wartete auf das erste Bauteil. Sekunden später rollte auch schon die erste Kugel heran und die Maschine verrichtete ihr wundersames Werk, lötete, presste und schraubte elektronische Elemente an das Gebilde und ließ sie schließlich in die Abwurfbox fallen. Oliver griff in die Kiste neben sich und holte zwei gelbe Halbkugeln heraus, mit denen er die Kugel aus der Abwurfbox umschloss. Das war sein Arbeitsschritt, seine wichtige Aufgabe. Denn an der gelben Farbe erkannte man ein frisches Filtersystem. Mit steigender Benutzungsdauer würden sie sich zunehmend dunkler verfärben. Sobald sie ein sattes Braun erreicht hatten, waren sie unverzüglich auszutauschen. Er steckte das Endergebnis in eine Öffnung der Maschine nebenan. Beinahe hatte er dabei ein schlechtes Gewissen, denn eigentlich war die Reihe nun an Arthur. Der Stand aber noch immer nicht an seinem Arbeitsplatz.

Mit einem Knall blieben sämtliche Bänder stehen. Entsetzt sahen sich die Arbeiter um. Jeder prüfte, ob nicht er die Verantwortung für die Misere trüge, doch niemand hatte sich etwas zu Schulden kommen lassen. Oliver plagten Gewissensbisse - stellvertretend für seinen Freund. Das Licht in der Halle wurde dunkler und ein Wächter stürzte aus den Höhen der Halle herab, bis er sich über Arthurs Maschine einpendelte. Dieses autonome Überwachungssystem, bestehend aus Antenne, Kameraauge mit Scheinwerfer und Lautsprecher, deren Bodenplatte mit drei handtellergroßen Triebwerken versehen war, hatte nicht eben legendäre Flugeigenschaften, sodass Oliver sicherheitshalber auf Abstand ging. Die Scheinwerfer des Roboters präsentierten die Stelle an welcher der Stillstand der Bänder verursacht worden war und die elektronische Stimme der Wächters krächzte Arthurs Personalnummer vor sich hin; damit auch wirklich jeder erfuhr, wer der Übeltäter war, projizierte er schließlich Arthurs Konterfei in die Luft.

Nach einer Weile verschwand die Projektion wieder und der Wächter zog sich zurück. Die Angst, für die repräsentative Bestrafung ausgewählt werden, ließ nun die Arbeiter erstarren. Zwanzig Meter von Olivers Platz entfernt brach einer von ihnen zusammen. Er kniete, die Hände vors Gesicht geschlagen am Boden und heulte hysterisch.
Oliver lief zu ihm hin und versuchte ihn aufzurichten. Eigentlich besagten die Vorschriften, dass man einem auf diese Weise behandelten Arbeiter nicht zu nahe kommen durfte, aber es war ihm egal. Man wird sich ja wohl noch kümmern dürfen, dachte er, beugte sich zu ihm hinunter und erschrak. Es war Melissa. Hilflos mussten er und die umstehenden zusehen, wie sich die Gelbe die Seele aus dem Leib schrie.
»Vergiss es, die kann Dich sowieso nicht hören, die pfuschen in ihrem Gehirn herum«, sagte jemand.
»Kann schon sein, dass sie mich nicht hört, aber wenn doch?«
»Ach, Scheiß drauf, Du bist ein roter und sie ist eine Gelbe; hat genau die Richtigen erwischt.«
In Gedanken musste Oliver ihm Recht geben. Arthur war ein Gelber und es war mehr als gerecht, dass es jemanden von seiner Sorte erwischt hatte. Er hasste sich für diesen Gedanken. Melissa war alles für ihn.
Erbost stand er auf und tat einen Schritt in Richtung seines Gegenüber.
»Und Du bist ein grüner, was habe ich mit Dir zu schaffen?«

*

Endlich kam Arthur. Oliver sah ihn aus dem Kantinenkorridor kommen und befürchtete Ärger. Es konnte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis sich die Gelben auf ihn stürzten. Es schien fast, als hätten sie Oliver denken gehört, denn plötzlich näherten sich Arthur ein paar Kerle und begannen damit, ihn herum zu schubsen. Nach einem kräftigen Schlag fiel er zu Boden. Einer schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Die Anderen traten ihn mit Füßen und schimpfen auf ihn ein. Schaulustige gesellten sich zu dem prügelnden Mob und feuerten ihn an.
»Hört verdammt nochmal auf, Ihr Idioten!«, schrie plötzlich Melissa, die sich gerade wieder gefangen hatte.
Abgesehen von den leer laufenden Bändern, herrschte mit einem Mal absolute Stille. Oliver sah sie entgeistert an und auch die anderen Arbeiter wandten sich ihr zu. Er bewunderte dieses Frau.
Endlich wagte sich auch Oliver nach vorne zu seinem Freund und half ihm auf die Beine. Er musste ihn stützen. Arthurs Gesicht wie auch der Overall waren blutverschmiert, an seinem Kopf klaffte eine Platzwunde.
»Bitte verzeih, dass ich nicht eingegriffen habe«, flüsterte Oliver.
Sein bester Freund sagte nichts.
Zwei Maschinenarbeiter, von denen einer Arthurs Arbeitsplatz einnahm, waren herzu gerollt und eine Arztmaschine mit Pritsche, Befestigungsgurten für den Oberkörper des Patienten, parkte neben Arthur und verkündete über Lautsprecher, dass die verletzte Person auf die Pritsche zu legen sei. Während Oliver sich damit abmühte, ihn darauf zu bugsieren, erklärte Melissa der Arztmaschine über diverse Symboltasten, um welche Verletzungen es sich handelte. Mit einem piepen quittierte die Maschine ihre Eingaben. Wortlos ging Melissa zurück an ihren Arbeitsplatz.

Wieder dröhnte das Klingeln durch die Halle, und die Bänder liefen an. Noch während Oliver die Gurte prüfte, fuhr die Maschine los. Schließlich hastete auch er zurück an seinem Platz und konnte noch rechtzeitig mit der Arbeit beginnen.

*

Über sich sah Arthur eine Infusionsflasche hängen. Das Licht in dem Raum kam von den Wänden selbst, blendete ihn aber nicht. Außer eines regelmäßigen Piepsens und Klickens war es ruhig.
Er versuchte sich vorsichtig aufzusetzen, wurde aber nach ein paar Zentimetern von einem stechenden Schmerz im Schultergelenk gestoppt. Langsam ließ er sich wieder auf das Kissen sinken.
»Mahlzeit«, sagte Melissa. Sie saß außerhalb seiner Sichtweite am Fußende des Bettes.
Arthur hatte nicht mit Gesellschaft gerechnet und zuckte gehörig zusammen.
»Melissa, was machst Du denn hier?«
»Ich schaue mir den Mistkerl an, dessen Strafe ich abbekommen habe.«
»Es tut mir wahnsinnig leid, dass es so gekommen ist, bitte glaub mir. Ich habe eine großartige Entdeckung gemacht und ich musste einfach nachprüfen, wo ich landen würde.«
»Und das konnte auf keinen Fall bis zum Ende der Schicht warten?«, fragte sie.
Er konnte ihren Groll spüren.
»Ich weiß, ich hätte es auch morgen machen können, aber ich war zu neugierig. Dass es Dich erwischen würde, hätte ich mir im Traum nicht gedacht.«
»Jetzt bin ich um eine krasse Erfahrung reicher; welche Entdeckung überhaupt?«
»Im Waschraum vor der Kantine gibt es eine Toilette mit einem unscheinbaren Gitter an der Wand.«
»Und wegen so etwas kommst Du zu spät? Soll das ein Witz sein?«
»Nach dem Essen bin ich nochmal kurz aufs Klo und da ist mit das Gitter aufgefallen. Ich habe ein wenig daran gerüttelt und es fiel heraus. In letzter Zeit häufen sich ja wieder die Gerüchte und ich dachte mir, ich gucke kurz nach. Was soll ich sagen, es hat geklappt. Zuerst befürchtete ich, stecken zu bleiben, aber ich bin tatsächlich durchgekommen.«
»Wo führte der Schacht hin?«
»Ich habe keine Ahnung, es war ein System von Schächten und Rohren. Schließlich bin ich auf eine Tür gestoßen, aber sie war verschlossen.«
»Hättest Du sie nicht eintreten können?«
»Die Tür war aus Metall. Sie hatte aber drei Schlüssellöcher und erstaunlicherweise passte mein Maschinenschlüssel.«
Aus der Ferne ertönte eine Sirene.
»Ich muss jetzt los; Hast Du den Schlüssel in allen drei Schlössern versucht?«, fragte Melissa. Sie stand auf.
»Ja, aber gepasst hat er nur in einer.«
Minister hatte die Tür fast schon hinter sich geschlossen, als Arthur endlich eine Idee hatte, wie er die unangenehme Situation noch herumreißen könnte.
»Vielleicht sollten wir das gemeinsam untersuchen«, rief er. Ob sie das wohl gehört hatte?
Einen Augenblick später öffnete sich die Tür wieder und Melissa schaute ihn fragend an.
»Ich hatte gefragt, ob wir uns diesen Gang noch einmal gemeinsam ansehen wollen.«
Melissa winkte ab. »Nein, eigentlich nicht, das ist wahrscheinlich verboten und ich will keinen Ärger.«

*

Beim Aufwachen hörte er dasselbe Zischen, das er kurz vor dem Einschlafen gehört hatte. Arthur hatte ein schlechtes Gefühl dabei, wie auf Knopfdruck schlafen gelegt worden zu sein, doch er fühlte sich ausgeruht. Am Fußende seines Bettes stand ein in Nadelstreifen gekleideter Herr mit breiten Schultern und vorwurfsvoller Miene, die Arme verschränkt, abwartend, ob ihn sein Gegenüber wohl erkannte. Arthur versuchte sich zu erinnern; er hatte den Mann schon einmal gesehen, aber sein Name wollte ihm nicht einfallen. Schweigend sahen sie einander an, bis der Mann im feinen Zwirn schließlich einen Schritt näher kam.
»Wir haben hier eine große Verantwortung«, hob er an. »Hunderttausende sind auf unser Produkt angewiesen, ihr Leben hängt davon ab. Darum können wir es uns nicht leisten, länger als nötig mit der Herstellung befasst zu sein.«
Er sprach langsam.
»Es ist von entscheidender Bedeutung, dass alle ihr Bestes geben und nicht durch die Verfolgung ihrer persönlichen Interessen vom Kurs abweichen.«
Wie ein Vater, der sein Kind sorgfältig zudeckt, zog er Arthurs Decke etwas ordentlicher über dessen Schultern, strich die Falten heraus und lächelte ihn freundlich an. Arthur wusste nicht, was er davon halten sollte.
»Jahrzehntelang ist in unzähligen Gremien diskutiert worden, hunderttausende gingen tagein tagaus auf die Straßen dieser Welt, demonstrierten, protestierten, und forderten Vernunft. Ein paar wenige Länder versuchten ernsthaft, etwas zu verändern, aber die Mehrheit blieb untätig, forderte ihr Recht.«
Er blickte Arthur in die Augen und faltete die Hände. »Vor einigen Tagen hast Du wie sie gehandelt.«
Arthur verstand nicht, was ihm der Alte sagen wollte und hob an, eine Frage zu stellen, doch der Mann hieß ihn mit einer Handbewegung zu schweigen.
»Auch du kanntest die Konsequenzen, wusstest, was auf irgend jemand in der Fabrik zukommen würde, solltest du zu spät erscheinen. Du wusstest es und nahmst Dir dennoch das Recht, die Interessen der Allgemeinheit zu missachten.«
Bedächtig setzte er sich auf einen Stuhl.
»Du brauchst gar nicht so verwundert dreinzublicken, ich weiß, dass ich recht habe.« Er machte eine kurze Pause. »Du weißt es auch.«
»Es tut mir Leid.« Arthurs fühlte sich ertappt. »Ich wollte doch nur ...«
»Was Du getan hast ist mir gleichgültig«, unterbrach er Arthur. »Auch, warum Du es getan hast, interessiert mich nicht. Was mich aber interessiert ist, ob du meine Worte verstanden hast, ob Du wirklich begriffen hast. Wenn jeder nur das tut, was ihm gefällt, können wir einpacken.«
Was willst du überhaupt, dachte Arthur.
»Eine Koexistenz gelingt nur, wenn alle am selben Strang ziehen. Früher oder später wirst auch Du am eigenen Leib erfahren, was administrative Bestrafung bedeutet«, sagte er freundlich.
Er stand auf.
»Wir stellen das wichtigste Produkt überhaupt her, erweise Dich dessen würdig.«
Arthur war sprachlos.
Der Mann drehte sich um und verließ das Zimmer.

*

Nach der Spätschicht trafen sich Oliver und Melissa in ihrer Parzelle. Lange saßen die beiden schweigend zusammen, bis sie endlich die Stille durchbrach.
»Arthur hat es ganz schön erwischt, was?« Sie lächelte gekünstelt.
Er hielt eine Bierdose in der Hand und sah Melissa an. Ihre glasigen Augen wirkten, als würde sie jeden Moment zu weinen beginnen. Oliver verspürte den Drang weg zu schauen, denn dieser Anblick trieb ihm selbst die Tränen in die Augen. Reiß dich zusammen, ermahnte er sich.
»Geschah ihm eigentlich recht. Letztes Mal hatte er sich selbst noch aufgeregt und war mit von der Partie, als sie den Grünen vermöbelt haben«, sagte er.
»Aber den Verursacher zu verprügeln ändert auch nichts mehr.«
»Ich kann sowieso nicht mitreden; hab noch keine Repräsentative erlebt,« sagte Oliver.
Melissa trank ihre halbvolle Dose mit einem Zug leer und sah ihn an.
»Kein Kindergeburtstag.«
»Glaub ich sofort.«
Sie machte sich eine weitere Dose auf.
»Ich hätte ihm seine Entschuldigung abschlagen sollen.«
»Aber Du selbst hättest das größte Problem damit gehabt«, sagte er.
»Aber es wäre gerecht gewesen.«
»Heute Nachmittag hatte ich eine Idee. Wir könnten uns den Gang doch einmal ansehen, was meinst Du?«
»Nein, eigentlich nicht, das ist wahrschei...« Sie stutzte. »Das ist wahrscheinlich verboten und ich will keinen Ärger.«
Nachdem sie das ausgesprochen hatte, liefen ihr Tränen über das Gesicht.
Oliver setzte sich neben sie, nahm sie in den Arm.
»Ich glaube du solltest Dich hinlegen und schlafen.«
»Verdammt nochmal, das geht schon seit Tagen so. Schlafen kann ich sowieso nicht, weil ich immer davon träume.«
»Versuche es, ich werde hier bleiben und wenn Du unruhig wirst, wecke ich Dich.«
Er rückte an das Ende des Sofas, nahm ihre Beine und legte sie auf seinen Schoß. Augenblicke später war sie eingeschlafen.

*

Melissa, Oliver und Arthur saßen gemeinsam in der Kantine. Sie hatte sich von der repräsentativen Bestrafung erholt. Die Arztmaschine hatte an Arthur ganze Arbeit geleistet. Nichts erinnerte mehr an die Schlägerei.
»Haben wir jetzt alles zusammen?«, fragte Oliver.
Arthur flüsterte Melissa etwas zu.
»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich nur dann mitkomme, wenn ihr alles organisiert? Die Raubzüge macht ihr oder keiner.« Sie warf ihm einen giftigen Blick zu.
»Dann kannst du genauso gut hier bleiben.«
»Als wenn mir das nicht klar wäre.«
»Was stellst Du dich dann so an.« Arthur stichelte noch weiter. »Jeder hat seinen Beitrag zu leisten.«
»Da redet genau der richtige.«
»Mein Ausflug durch das Gitter war im Grunde genommen Beitrag genug, behaupte ich.«
»Wenn Du nicht bald die Klappe hältst«, bebte Melissa. Sie kämpfte mit Tränen der Wut. »Ihr könnt euren Scheiß gleich allein machen!«
Oliver stützte sich mit beiden Ellenbogen auf den Tisch. Er musste etwas unternehmen, bevor die Situation vollständig eskalierte. Leise begann er zu sprechen.
»Ihr solltet euch langsam überlegen, was Ihr wollt. Wenn wir gegeneinander arbeiten, werden wir nicht weit kommen. Arthur, Du solltest endlich mal einsehen, dass Dein Handeln, so interessant Deine Entdeckung auch sein mag, für Melissa schwerwiegende Folgen hatte.«
Er blickte sie einen Augenblick an. »Und Du ... lass Dich nicht immer provozieren!«
sie holte Luft und wollte etwas sagen, doch Oliver sprach ungeniert weiter: »Heute Nacht werden wir aufbrechen und uns den Gang ansehen. Wir halten es wie vereinbart: Um viertel nach zwei bei mir. Wenn Ihr nicht mitkommen wollt - ich gehe auf jeden Fall.«
Er nahm sein Tablett, stand auf und ging.

Um 2:20 Uhr saß Oliver noch immer alleine auf den Stufen zu seiner Parzelle. Tief im Inneren hatte er damit gerechnet. Schweren Herzens stand er auf und hängte sich seinen bereitstehenden Rucksack um.
Zu dieser Uhrzeit waren die Straßen wie leergefegt und aus den wenigsten Parzellen drang noch Licht nach draußen. An der letzten Kreuzung vor der Fabrik stieß Arthur zu ihm.
»Tut mir Leid, mich hat gerade eine Patrouille aufgehalten.« Er atmete schnell.
»Ausgerechnet heute sind so viele Kontrollmaschinen unterwegs; da muss irgend etwas passiert sein.«
Oliver blickte ihn nervös an. »Haben sie Dich überprüft?«
Er schüttelte den Kopf.
Oliver schob ihn weiter.
»Wir haben nicht viel Zeit. Hast Du eine Ahnung was mit Melissa ist? Kommt sie noch?«
Arthur schien nachzudenken.
»Sie hat nichts mehr gesagt. Aber nach ihrem Blick zu urteilen ...«
»Sie kommt also nicht?«
»Würde mich wundern.«
Oliver ging an ihm vorbei und setzte seinen Weg fort.
»Dann ziehen wir es zu zweit durch.«
Er bemerkte, dass Arthur ein paar Schritte zurückgefallen war, blieb er stehen.
»Kommst Du, oder was ist?«
»Ja, ja.«

Schweigend legten sie den Rest des Weges zurück. Dass Melissa nicht zu ihnen gestoßen war, wurmte Oliver. Im Grunde konnte er sie verstehen, aber mit der heutigen Aktion hätte sie der administrativen Bestrafung wenigstens einen tieferen Sinn geben können. Sollten sich die Gerüchte bewahrheiten, wäre ohnehin nichts mehr wie es war.

Der Vorplatz, hinter dem das Verwaltungsgebäude der Fabrik lag, war nur spärlich beleuchtet. Unzählige Fahrräder standen dort in Reih und Glied. Die Nachtschicht war in vollem Gang.
Die Drehkreuze für die Erfassung der Arbeiter befanden sich hinter der Verwaltung. Sie waren von flackernden Neonröhren beleuchtet. Plötzlich fielen sie aus.
»Schnell, die springen gleich wieder an«, rief Melissa.
Am Liebsten hätte Oliver einen Freudenschrei ausgestoßen. Sie schien auf der anderen Seite der Absperrung auf sie gewartet zu haben.
Geistesgegenwärtig rannten sie los. Oliver steckte die Chipkarte in den Automaten und ließ sie beinahe fallen. Er hob sie auf und steckte sie in den dafür vorgesehenen Schlitz. Das grüne Lämpchen leuchtete auf und der Durchgang war frei. Sekunden später war auch Arthur bei ihnen.
»Kommt mit, die Lampen gehen jeden Moment wieder an.«
Hinter einem Schuppen angekommen legte Oliver die Hand auf ihre Schulter und sah sie freundlich an. Er hätte sie am liebsten geküsst.
»Haben wir alles?«, flüsterte er. »Sind die Schlüssel da?«
Arthur nickte.
»Werkzeug?«
»Alles da.«
»Gut, dann los.«
Arthur schlenderte betont lässig auf den Werkseingang zu. Augenblicke später war er in der Fabrik verschwunden.
»Willst du wirklich mitkommen?«, fragte Oliver.
Sie bekam feuchte Augen.
»Ich weiß nicht, ob das so gut ist«, sagte er.
Er versuchte sie einerseits heraushören zu lassen, dass sie nicht mitgeben musste, wollte ihr aber andererseits zeigen, dass er es sich eigentlich wünschte.
»Keine Ahnung.« Sie hatte einen Klos im Hals. »Meine Gedanken drehen sich ständig im Kreis, andauern habe ich diese idiotische Stimme im Kopf.«
»Was meinst du?«
»Du hast doch mitbekommen, dass ich in den letzten Tagen ständig davon geredet habe, dass dieses und jenes verboten sei. Ich bin mir schon total blöd vorgekommen, weil ich fast zu jeder Frage diesen Scheiß losgelassen habe.«
»Stimmt ja eigentlich auch«, bestätigte Oliver. »Ich möchte lieber nicht wissen was passiert, wenn die uns erwischen.«
»Na toll!« Es klang vorwurfsvoll und er bereute seinen Satz.
»Mir ist schon ganz schlecht von dem Gedanken, dort reinzugehen, aber wenn ich es nicht tue ... ach verdammt, ich wünschte, ich könnte ihnen das heimzahlen.«
Olivers Nervosität steigerte sich von Sekunde zu Sekunde.
»Am besten versuchen wir es einfach«, sagte er.
Wie sollte er sie nur ermutigen? Schließlich fiel ihm doch noch etwas Vernünftiges ein.
»Wenn du es doch nicht schaffst, kannst du ohne weiteres umkehren.«
Sie wischte sich verstohlen eine Träne ab.
»Entschuldige.«
Er schloss sie fest in seine Arme.
»Mach dir keine Gedanken, es wird schon alles werden.«
Dann gab er ihr einen Kuss auf die Wange. Warum, verdammt nochmal, hatte er wieder nichts gesagt?Zögerlich ging sie auf die Tür zu.

Auch Oliver schlich jetzt vorsichtig durch den Eingang und fand sich in dem Korridor, der die Wasch- und Umkleideräume mit der Werkshalle, und der Kantine verband. Der bloße Gedanke daran, dass ihm jemand begegnete, verursachte ihm Unbehagen. Vorsichtshalber legte er sich eine halbwegs glaubwürdige Ausrede zurecht.
Vor jeder der Türen blieb er einen Moment stehen und lauschte. Meine Begründung, warum ich mich hier herumtreibe ist gut genug, dachte er. warum benehme ich mich, als sei ich ein gesuchter Schwerverbrecher? Er atmete tief durch, und betrat die Herrentoilette.

Arthur hatte alles vorbereitet und das Gitter zur Seite gestellt. Er lächelte zufrieden.
Melissa kroch in den Schacht.
»Wie bekommen wir das Gitter wieder zu?«, fragte Oliver.
»Ich habe mir da was ausgedacht. Nun geh schon.«
Er gehorchte und zwängte sich durch die schmale Öffnung. Arthur folgte ihm mit den Beinen voran.

Melissa und Oliver sahen sich die Umgebung im Licht ihrer Taschenlampen an. Sie bewegten sich in einer Röhre mit einem Durchmesser von knapp zwanzig Metern. Unmittelbar vor dem Schacht, durch den sie gekommen waren, befand sich ein mannshoher Absatz, gerade breit genug, um ohne Mühe darauf zu laufen. An der Kante fiel er senkrecht ab und bildete die Außenwand eines seichten Kanals. Über dem Kanal hing eine weitere Röhre. Sie war wesentlich dünner und wurde in regelmäßigen Abständen durch kreisrunde Öffnungen unterbrochen. Genau darunter befand sich ein Sockel von mehreren Meter breite, der den Kanal über seine gesamte Länge in zwei teilte. Der Sockel war alle fünf Meter von Wänden unterteilt, die auch als Stützpfeiler für die darüberliegende Röhre fungierte.
»Ist das Wasser?«, fragte Melissa. »Das rauscht ganz schön durch. Beachtliche Strömung.«
Arthur schulterte seinen Rucksack und folgte dem Kanal zielstrebig.
»Keine Ahnung, ob das Wasser ist. Los, weiter«.
»Kann ich mir nicht recht vorstellen, besonders wenn man bedenkt, dass Wasser so knapp ist«, beantwortete Oliver Melissas frage. Dass der Kerl immer so einen Stress machen musste, dachte Oliver. »Nur mit der Ruhe, Kumpel, man wird sich doch noch orientieren dürfen.«
»Hier gibt es nicht viel zu orientieren. Um die Ecke ist die Tür, danach betreten wir unbekanntes Terrain.«
»Alsdann«, sagte Melissa und Oliver freute sich darüber, dass ihre Ressentiments offenbar verflogen waren.

*

Die Metalltür war gerade so breit, dass eine Person bequem hindurch passen mochte.
»Werte Kollegen, die Schlüssel bitte.«
Arthur sah sie an, als wüsste er, was sie hinter der Tür erwarten würde.
Wie auf Knopfdruck schnellte Melissas Hand nach vorne und sie legte ihren Schlüssel in seine Hand. Seit sie dem Schacht entstiegen war, hatte sie den Schlüssel fest in ihrer Hand gehalten.
»Was ist mit Deinem?«
Oliver klopfte seine Kleidung ab.
»Du hast ihn aber hoffentlich nicht vergessen, oder?!«
»Rede kein Blech, natürlich habe ich ihn dabei. Halt mal deine Taschenlampe hierhin, Melissa.«
Sie leuchtete seinen Rucksack an.
»Mann, Mann, das sieht dir wieder ähnlich«, seufzte Arthur.
Nach einer Weile wurde es Oliver zu bunt und er schüttete den Inhalt seines Rucksacks auf den Vorsprung. Flink hechtete er nach dem Maschinenschlüssel, und auch Melissa versuchte ihn zu stoppen, doch es war zu spät. Mit einem unscheinbaren Platschen versank er im Kanal.
»Toll!«, rief sie.
Arthur stöhnte.
»Den könnt Ihr jetzt wieder holen.«
Oliver rieb sich den Nacken.
»Moment mal, was heißt da ihr?«, protestierte Melissa.
»Mein Gott, ich hole ihn wieder«, sagte Oliver. »Wo ist das Problem?«
»Das fängt ja schon gut an!«
Oliver setzte sich an die Kante des Sockels, doch er hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache. Er hatte keine Ahnung, was in dem Kanal floss, aber mit langem Überlegen holt sich der Schlüssel auch nicht, dachte er.
»Was soll's«, sagte er und sprang die anderthalb Meter nach unten.
Die Flüssigkeit klatschte auseinander. Olivers Herz vergaß den nächsten Schlag. Kälte umklammerte ihn, sickerte träge durch seine Kleidung, ließ ihn hilflos zusammenkrampfen. Heiseres Entsetzen. Er versuchte auf die Beine zu kommen, scheiterte aber an der starken Strömung. Der Schlüssel, ich brauche den Schlüssel, hämmerte es in seinem Kopf. Er spürte an seiner Hand einen Vorsprung. Der erste Versuch ihn zu packen, scheiterte, der zweite hatte Erfolg. Krampfhaft klammerte sich Oliver daran. Endlich wieder an der Oberfläche, wollte er atmen, doch nicht Luft, Eis füllte seinen Mund. Saures Brennen ließ seine Zunge erstarren. Der Hustenreflex befreite seine Atemwege. Sein Mund war taub, er spuckte, würgte, sog die Luft in seine Bronchien, fühlte einen neuen, unerwarteten Schmerz. Heiß durchströmte die Luft seinen eisigen Rachen. Bis zu den Knien stand er in einer entsetzlich kalten Substanz, die wie Kleister von ihm herab tropfte. Einige Meter weiter vorne konnte er Melissa auf dem Absatz hin und her tigern sehen. Das Licht ihrer Taschenlampe zappelte durch das Halbdunkel. Melissas hysterisches Geschrei hallte durch die Röhre, während Arthur unbeholfen versuchte, sie zu beruhigen.
»Ich bin hier«, wollte Oliver rufen. Er hörte nur sein undeutliches Stöhnen.
»Hey!«, brüllte er.
Melissas Geschrei brach ab und das Licht der Taschenlampe huschte über die Wände, bis es Oliver schließlich blendete.
Sie rannte zu ihm.
»Mein Gott, ich dachte, ich würde Dich nie wieder sehen«, rief sie von oben. Ihre Stimme klang erleichtert.
Stöhnend watete er zu ihr, tastete mit tauben Füßen vorsichtig nach sicherem Halt. Würde er nicht sofort aus dem Kanal gerettet, müsste er sterben, da war er ganz sicher.
Sie streckte eine Hand aus, doch Arthur stieß sie zur Seite.
»Bist Du verrückt geworden?«
»Wir brauchen den Schlüssel!«, sagte er ruhig. »Ohne den Schlüssel kommen wir nicht durch die Tür, also nimm Dich zusammen und hol ihn.«
Melissa starrte ihn entsetzt an.
»Du bringst ihn noch um!« Ihre Hände zitterten. »Wie kannst Du nur so berechnend sein?«
Oliver musste Arthur Recht geben. Ohne den Schlüssel konnten sie nichts ausrichten.
»Er hat Recht, ich werde ihn holen.«
Nach diesen Worten eilte er zurück zu der Stelle, wo der Schlüssel ins Wasser gefallen war. Er konnte sich kaum bewegen, spürte jeden Knochen, jeden einzelnen Muskel. Arthur hatte in weiser Voraussicht seine Taschenlampe an der entsprechenden Stelle stehen gelassen. Sie leuchtete an die Decke und markierte den fraglichen Punkt.
Jede Bewegung bereitete Oliver Schmerzen. Er fühlte sich steif, fühlte, wie der eiskalte Schleim ihm die Wärme zu entreißen suchte. Seine Beine waren ihm nur noch undefinierbare Stümpfe, seine Hände ungelenke Anhängsel. Wie soll ich den Schlüssel überhaupt an mich nehmen?, dachte er. Ein mulmiger Druck machte sich auf seinen Schultern breit. Er kannte das Gefühl, es überkam ihn, wenn er über den Tod nachdachte, an seine eigene Entbehrlichkeit und daran, wie es war, zu wissen, dass danach nichts mehr sein konnte. Entschlossen stemmte er sich gegen die Strömung. Melissa wartete auf ihn, winkte ihn aufmunternd herbei und mühte sich, ihre Tränen zu unterdrücken.
»Gleich hast Du es geschafft, nur noch ein paar Schritte.«
Er ächzte vorwärts, atmete stoßweise.
»Dort muss es sein, Oliver, genau dort wo Du stehst!«
Entschlossen, seine Aufgaben zu erfüllen, stürzte er sich in die Kälte. Sein Gesicht schien ihm nicht mehr zu gehören, die Kälte schnürte seine Kehle zu. Er konnte nichts sehen, zu sehr brannte das Zeug in seinen Augen. Es ist ein Wunder, wenn ich ihn überhaupt finde, dachte er.
Olivers Lungen verlangten nach Luft und als er es schon nicht mehr aushalten konnte, fühlte er einen Widerstand, der nachzugeben schien. Mit letzter Kraft umschloss er das Ding und tauchte auf. Er streckte die Hand mit dem Schlüssel nach oben und Arthur nahm ihn entgegen.
»Mann, ist das kalt«, rief Arthur. Er wedelte den Schleim von seinen Fingern und schickte sich an, Oliver aus dem Kanal zu ziehen.
»Jetzt hilft ihm doch, er stirbt sonst!«
»Ich bin doch dabei.«, schnauzte er. »Hilf mir lieber!«
Oliver konnte nicht mehr spüren, was mit ihm geschah, die Kälte betäubte seine Sinne.

Endlich lag er auf dem Vorsprung. Hier war es angenehm warm.
»Das muss irgend ein Kühlmittel sein, meine Finger sind ganz steif«, stellte Arthur fest.
»Meine auch.« Sie blitzte ihn giftig an.
»Hör endlich auf, glaubst du ich habe Oliver aus Spaß dazu angehalten, den Schlüssel zu holen? Wenn er ihn nicht fallen gelassen hätte, wäre diese Diskussion jetzt überhaupt nicht notwendig.«
»Das vielleicht nicht, aber Du hast nicht gründlich genug nachgedacht. Eigentlich ...«
»Vielleicht? Du bist Dir nicht sicher, oder was willst Du damit sagen?«, warf Arthur ein. Er war verärgert.
»Ach vergiss es, eigentlich war es dieselbe Situation wie letzte Woche. Du musstest eine Entdeckung unbedingt während unserer Schicht überprüfen. Wo kämen wir hin, wenn der Herr auf einen günstigeren Zeitpunkt warten müsste? Du musst immer alles sofort haben. Oliver hat es am eigenen Leib erfahren, womit wir es in dem Kanal zu tun haben, aber nein, du musst ihn noch einmal nach vorne jagen, anstatt ihm hoch zu helfen.« Sie geriet langsam in Fahrt. »Es wäre viel klüger gewesen, ihn herauszuziehen und du oder ich hätten direkt beim Schlüssel noch mal kurz in den Kanal steigen können. Rein, raus und fertig. Es konnte dir wieder nicht schnell genug gehen.« Ihre Stimme kippte. »Den Schlüssel, den Schlüssel, es gibt wichtigeres als den Schlüssel!«
So kalt ist ihm auch war, fühlte er langsam die Wärme in sein Herz zurückkehren; Melissa machte sich Sorgen um ihn, also musste da mehr sein.
»Ich weiß«, sagte Arthur Kleinert.
»Er hatte aber recht«, stieß Oliver hervor. »Es wäre zu riskant gewesen. Wenn auch noch einer von Euch rein gestiegen wäre ... wer weiß, wie giftig das Zeug ist.«
Arthur stand auf und ging zu seinem Rucksack. Melissa beobachtete ihn nachdenklich.
»Gott sei Dank habe ich auch Handtücher und eine Decke dabei.« Er gab ihr die Tücher.
»Zieh ihm deine Sachen an!«, sagte sie. Er widersprach nicht.

*

»Melissa, wach auf!«
Sie blinzelte und wurde von Arthurs Taschenlampe geblendet.
»Oliver ist weg«, sagte er leise. »Die Schlüssel ebenfalls.« Er hatte sich Olivers inzwischen getrocknete Sachen angezogen und sah sich um, als befürchte er, ein Raubtier triebe sich in der Nähe herum.
»Wie spät ist es?«
»Halb sieben durch.«
Er hielt Melissa ihren Rucksack vor die Nase. »Keine Ahnung, seit wann er weg ist.«
»Vielleicht hat er noch keinen großen Vorsprung.«
Während Melissa den Schlafplatz nach liegengebliebenen Dingen kontrollierte, sah sie Arthur schon in Richtung der offenen Türe laufen. Sie fanden sich in einer identischen Röhre wieder. Hinter ihnen krachte die Tür ins Schloss.

Dieser Teilabschnitt der Röhre war wesentlich kürzer. Nach etwa fünfunddreißig Metern zweigte ein schmaler Gang nach rechts ab. Der Kanal jedoch führte in einen vergitterten Tunnel.
Wortlos folgten sie dem engen Gang eine Weile.
»Sieh mal, da vorne geht es nach rechts«, sagte sie überrascht.
Sie lief ein paar Schritte und blieb stehen, denn sie glaubte, vertraute Geräusche zu vernehmen.
»Hörst du das auch?«, fragte sie. Vorsichtig strich sie mit der Hand über eine der Wände. »Das klingt wie Förderbänder.«
Endlich konnte Arthur seine Müdigkeit ein wenig abschütteln. Er zwängte sich an Melissa vorbei und leuchtete die Abzweigung hinunter.
»Also die Förderbänder klangen doch etwas anders.«
Melissa drehte den Kopf und drückte ihr Ohr gegen die Wand.
»Okay, hört sich wirklich etwas anders an.«
»Ist doch auch egal, komm schon!«

*

Arthur und Melissa gingen weiter, bis sie in einiger Entfernung ein schwaches Licht sahen. Hinter der nächsten Tür fand sich ein großer Raum, in dessen Mitte ein Becken eingelassen war.
Neugierig ging Melissa an den Beckenrand und blickte hinein.
»Das ist wahrscheinlich dasselbe Zeug, das auch in den Kanälen fließt«, mutmaßte sie.
»Sehr wahrscheinlich, so kalt wie es hier ist.« Arthur legte den Rucksack ab und zog seine Jacke an. »Fall bloß nicht rein!«
»Ich werde mich hüten.«
Sie ging den Rand entlang und betrachtete dabei die Oberfläche des Kühlmittels. Plötzlich stolperte sie.
»Verdammt, was war das?«
»Alles klar?«, rief er durch den Raum.
»Ja, ja, ich bin nur über irgendwas gestolpert.« Sie bückte sich und hob einen Stoffgegenstand auf, betrachtete ihn und schlug die Hände vor das Gesicht.
»Oh mein Gott!«
»Was ist los?«
Melissa hielt den Rucksack hoch und sagte: »Wenn mich nicht alles täuscht, ist das Olivers Rucksack!«
Sie leuchtete die Umgebung ab, ob nicht noch andere Dinge aus Olivers Besitz herumlagen, fand aber nichts außer eines Schattens in dem Becken.
»Komm her!«, rief sie und klang dabei, als hätte sie ein Gespenst gesehen. »Sieh Dir das an und sag mir, was das ist!« Sie deutete mit der Taschenlampe auf das Ding.
Als Arthur erblickte, was Melissa gesehen hatte, zuckte er zusammen.
»Du meine Güte«, stieß er hervor.
»Das ist Oliver, nicht wahr?«
Schneidende Übelkeit brach sich in ihrem Inneren Bahn.
»Nein, bestimmt nicht.«
»Wer soll es denn sonst sein?« Der Klos im Hals ließ ihre Stimme tonlos ächzen.
Er packte sie an den Armen. »Hör gefälligst auf, den Teufel an die Wand zu malen!«
Melissa zitterte am ganzen Körper.
»Aber wer soll es sonst sein? Olivers Rucksack liegt auch hier.«
»Keine Ahnung, irgend jemand eben. Kommt schon, mach Dich nicht verrückt, irgendwann läuft er uns über den Weg.«
»Lass mich los!«
»Nur wenn du Dich wieder beruhigst.«
Er ließ ihre Arme los und drückte sie fest an sich. »Mach Dir keine Sorgen«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Mit aller Kraft wehrte sich Melissa gegen Arthurs Umarmung.
»Lass mich verdammt nochmal los!« Warum war er mit einem Mal so aufdringlich?
Er ließ los.
»Du verdammter Scheißkerl!«
In blinder Wut schlug sie auf ihn ein und schrie ihren Schmerz hinaus. Sie verstand nicht, warum Arthur der Wahrheit nicht ins Auge sehen wollte. Es musste ihr bester Freund sein, der dort erfroren oder ertrunken im Becken lag. Als sie endlich von ihm abließ und schluchzend auf dem Boden kauerte, hockte sich Arthur zu Melissa und wollte den Arm um sie legen. Sie wehrte ab. Soll ihn doch der Teufel holen, so wie er sich an sie heran machte. Sie dachte an Oliver und an den Tag, als sie ihn kennen gelernt hatte. Ihre Stimmung hellte sich für einen Augenblick auf.

Ein Knacken riss sie aus den Gedanken und in der Halle begann es zu rauschen. Melissa sprang auf und lief zu Arthur, der sich ein paar Meter weiter an einer Wand niedergelassen hatte.
»Hast du das gehört?«, fragte sie ihn. Sie trocknete die Tränen mit ihrem Ärmel.
Er nickte nur.
»Vielleicht haben sie uns entdeckt.«
Sie packte Arthur und zerrte ihn mit sich. Zielstrebig steuerte Melissa einen Vorsprung an, den sie kurz zuvor aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte.
Ein deutlich hörbares Summen gesellte sich zu dem anderen Geräuschen, bevor unzählige, kreisförmig angeordnete Leuchtstoffröhren zu flackern begannen und wenig später die Halle erleuchteten. Die unverhoffte Helligkeit blendete. Mit zusammen gekniffenen Augen spähte Melissa hinter den Vorsprung hervor. Sie sah ein lang gezogenes Fenster an der oberen Kante zwischen Wand und schräg zulaufender Decke.
»Gegenüber, vielleicht auf vier Meter Höhe, gibt es eine Art Kontrollraum«, flüsterte sie.
»Hast Du jemanden gesehen?«
»Nein.«
Sie spähte noch einmal um die Ecke. Hinter dem Fenster blinkten verschiedenfarbige Lämpchen. Nach einigen Sekunden tauchten zwei Gestalten hinter dem Fenster auf.
»Mist, da sind Wachleute!«
Er ballte die Fäuste. »Hoffentlich verschwinden die wieder, sonst könnte das hier bald ungemütlich werden.«
Wieder suchte ihr Blick das Fenster. Eine der beiden Personen deutete in das Becken. Melissa vermutete, dass sie die Leiche entdeckt hatten. Der Eindruck verstärkte sich noch, denn einer der Wächter eilte davon.
Arthur schob sie zur Seite. »Sorry, lass mich auch mal schauen.« Kurze Zeit später sagte er: »Da ist keiner.«
Sie runzelte die Stirn.
»Die werden Oliver herausziehen wollen.«
»Wenn er es denn ist.« Er überlegte einen Moment. »Oder sie holen Verstärkung.«
»Wieso Verstärkung?«, fragte sie.
»Es kommt vermutlich nicht alle Tage vor, dass sich jemand in das Becken verirrt. Es muss also jemand hier unten herum schleichen, womit sie leider auch Recht hätten.« Er zuckte die Achseln.
»Na Klasse!«
Arthurs Blick irritierte sie.
»Mal abwarten, vielleicht lassen sie die Tür zum Kontrollraum offen und wir können hineinschleichen.«
»Und wenn sie uns erwischen, sind wir geliefert.«

*

Die Metalltür öffnete sich deutlich hörbar. Zum Glück haben wir den Vorsprung, dachte Melissa.
»Sobald sie sich um die Leiche im Becken kümmern, schleichst du dich an der Wand entlang zur Tür. Wenn du dort bist, folge ich dir«, flüsterte er.
Melissa spähte wieder in die Halle. Ein Hühne von einem Wachmann schritt durch die Tür.
Sie flüsterte kaum hörbar: »Der Kerl ist riesig! Vielleicht sollten wir lieber gemeinsam gehen. Wenn sie mich sehen, kann ich vielleicht nur noch die Beine in die Hand nehmen und die Tür hinter mir schließen. Dann hast Du ihn am Hals.«
Aber wenigstens hätte sie ihn dann los. Sie beobachtete den Wachmann, der sich langsam dem Beckenrand näherte. Schließlich drehte er sich um und winkte seinen Kollegen zu sich. Der andere stand im Kontrollraum am Fenster und versuchte seinem Kollegen mit Gesten etwas mitzuteilen.
Der Hühne verstand nicht und schrie: »Mann, Du Idiot, komm runter oder benutzt die Sprechanlage, wenn Du was zu sagen hast!«
»Wenn die Wachleute günstig stehen, können wir sie in das Kühlmittel stoßen!«, flüsterte Arthur von hinten über Melissas Schulter.
Melissa drehte sich zu ihm um. »Bist Du wahnsinnig? Dann brauchen wir überhaupt nicht mehr zurückkehren; wir sind doch keine Mörder!«
»Gut, werfen wir nur einen hinein und hoffen, dass der andere ihn nicht im Stich lässt.« Arthur wartete auf eine zustimmende Geste.
Ganz im Gegenteil zu dir, dachte sie. Auf keinen Fall wollte sie Gewalt anwenden und sich auf diese Weise noch mehr Ärger einhandeln.
Sie nickte. »Aber Du gehst voraus.«
Als Melissa erneut hinter dem Vorsprung hervor lugte, hatte sich der zweite Wachmann, ein hässlicher Glatzkopf, zu dem Anderen gesellt.

»Alter«, schnauzte der Hühne, »ich hab Dir schon hundertmal gesagt, dass mir Deine verblödete Zeichensprache auf den Sack geht. Bringst Du das nicht in deinen gottverdammten Schädel?«
»Du stellst dich an wie 'ne alte Jungfer! Unser Job ist todlangweilig, da kann man doch ein wenig Abwechslung brauchen, oder?«
»Ach, leck mich doch mit Deiner Scheiß-Abwechslung, hilft mir lieber, die arme Sau da aus dem Becken zu holen!«
Der Glatzkopf musterte seinen Kollegen für einen Moment und boxte ihn dann kräftig.
»Sei nicht sauer, Mann, ist doch nur Spaß!«
»Manchmal könnte ich Dir echt eine reinhauen.« Er boxte ihn zurück. »Und wie kriegen wir den Idioten da raus? Wie blöd muss man eigentlich sein, sich dort rein werfen zu lassen?«
»Also ich steige da nicht rein und friere mir den Arsch ab.«
Der Hühne lachte laut auf. »Alter, Du bist so blöd, wofür haben wir hier wohl die Greifer?«
»Ach du Scheiße, stimmt ja.« Der Glatzkopf drehte sich um und stiefelte gelangweilt zu einem Schrank. Er öffnete ihn und griff nach einer der Stangen, an deren Enden sich mittels Seilzügen betätigte Greifzangen befanden. Er fuchtelte seinem Kollegen damit vor der Nase herum.

Der Leichnam lag so im Becken, dass die Wachleute ihn nur herausziehen konnten, wenn sie Arthur und Melissa hinter ihrem Rücken hatten. Die Bergungsaktion gestaltete sich offensichtlich schwierig und Melissa schöpfte Hoffnung, dass sie und Arthur ihnen tatsächlich entwischen können würden.
»Jetzt oder nie!«, flüsterte sie.
Arthur flitzte an Melissa vorbei, sie folgte ihm.

Just in dem Augenblick drehte sich der Hühne zu ihnen um. »Sag mal, gibt's hier ein Nest?«, rief er. »Da sind ja noch zwei!«
Umständlich zog er seine Waffe und wollte sie gerade auf Arthur richten, als dieser geistesgegenwärtig auf ihn zustürzte. In hohem Bogen flog die Waffe durch die Luft und fiel in das Becken. Melissa rannte, als ginge es um ihr Leben.
»Halt, stehen bleiben!«, brüllte der Glatzkopf.
Sie hörte das Krachen einer Pistole hinter sich. Plötzlich raubte ihr ein ungeheurer Stoß den Atem.

*

»Melissa!«
Sie lag in der Tür und konnte sich nicht mehr bewegen. Ihre Brust schmerzte. Flach atmend legte sie den Kopf in den Nacken und beobachtete Arthurs Kampf, der plötzlich erstarb. Melissa wurde es heiß; nicht nur sie, nein, auch Arthur würde in wenigen Sekunden erledigt sein. Der Hühne schlug ihm die Nase blutig, riss Arthur auf die Beine.
Sie sah, wie der Glatzkopf auf sie zukam und stellte sich tot. Melissa schloss die Augen und hielt die Luft an. Sie spürte seine Hand an ihrer Schulter. Als er sie unsanft auf den Rücken drehte, hatte sie das Gefühl, er würde ihr ein Messer in die Brust rammen. Nur mit Mühe gelang es ihr, keinen Laut von sich zu geben.
»Armes Ding, hättest mir gefallen können«, sagte der Glatzkopf. Fast zärtlich strich er Melissa über die Wange, stand auf und entfernte sich wieder. Sie öffnete die Augen und sah, wie er seine Waffe auf Arthur richtete, doch die Schmerzen zwangen sie dazu, ihren Kopf nach vorne zu beugen. Diese Haltung war wenigstens einigermaßen erträglich, allerdings bekam sie kaum Luft. Sie hörte den verbissenen Kampf der Männer, die Schritte auf dem Boden, die gelegentlichen Schläge, das schwere Atmen.
»Schluss jetzt!«, brüllte jemand und etwas klickte metallisch.
»Jetzt bist du fällig«, zischte ein Anderer. Fast wie ein Tier, dachte Melissa. Der kurze Moment der Stille wurde durch einen Schrei durchbrochen, dann lautes Knacken. Sonst nichts mehr.

Nach einigen Minuten glaubte Melissa, von weit her Schritte zu hören. Sie wurden langsam lauter, klangen unentschlossen und vorsichtig. Schließlich blieb jemand direkt neben ihrem Kopf stehen.
»Melissa?«
Gott sei Dank, es war Arthur.
»Ich dachte schon alles wäre aus.«
Melissa wischte ihre Tränen ab und streckte eine Hand nach ihm aus. Sie ignorierte die Schmerzen.
Arthur ging in die Hocke und nahm ihre Hand.
»Ich hatte schon gedacht, die hätten Dich umgebracht«, sagte er.
Melissa konnte deutlich sehen, dass er erleichtert war und es tat ihr leid, dass er falsch lag. Hatte er nicht mitbekommen, dass sie der Glatzkopf getroffen hatte? Sie wusste nicht, wie sie ihm das beibringen sollte.
»Komm, steh' erst mal auf, du holst Dir ja den Tod«, sagte Arthur. Dann wurde er kreidebleich. »oh Gott, Melissa!«
sie konnte nur noch in kurzen Stößen atmen, hatte das Gefühl, einen ganzen Ozean in ihren Lungen zu haben. Sie spürte Arthurs Hand in ihrer.
»Es tut mir Leid, Melissa!«
Jeder ihrer Atemzüge rasselte, und jedesmal fielen mehr rote Tröpfchen vor ihren Augen auf den Metallboden. Ich werde ersticken, dachte sie verzweifelt, ersticken an meinem eigenen Blut. Die durch ein enges Rohr nahm sie ihre Umgebung wahr, konnte nur noch einen kleinen Ausschnitt aus ihrem Sichtfeld wahrnehmen. Sie sah Arthur, der mit schmerzverzerrtem Gesicht vor ihr kniete, sah Hoffnungslosigkeit und Angst in seinen Augen und war doch zu schwach, ihm irgendetwas zu sagen.

Das schnelle Atmen half nicht mehr, ihre Lungen boten nicht mehr ausreichend Platz für die Luft, doch es war ihr egal, sie wollte schlafen und weg von diesem Ort, wollte endlich frei sein von dem künstlichen schlechten Gewissen, das ihr bei der repräsentativen Bestrafung eingeimpft worden war. Arthur verschwamm und Melissa wusste, dass ihr nicht viel Zeit blieb. Sie spürte, wie er ihre Hand küsste und war dankbar, ihn noch einmal sehen zu dürfen, als sie plötzlich hinter ihm einen unscharfen Schatten erkannte.
Sie warnte ihn, doch er verstand nicht. Ein Schwall von Blut lief ihr aus dem Mund. Lautes Piepsen drang von irgendwo her an ihre Ohren, ein unangenehmer Ton, schrill, durchdringend. Das Sterben ist ein seltsames Erlebnis, dachte sie. Das Piepsen verstummte, dafür knackte es jetzt in ihren Ohren. Melissa hatte keine Angst, nein, eine seltsame Neugier bemächtigte sich ihrer. Wenn sie schon nicht an der Revolution teilhaben konnte, so blieb ihr doch wenigstens die Möglichkeit, herauszufinden, was der Tod nach dem Sterben zu bieten hatte.

»Arthur! Hinter Dir!«, knirschte es undeutlich.
Sofort sprang Arthur auf. In letzter Sekunde konnte er der Stange ausweichen, die der Hühne auf ihn herab sausen ließ. Melissa meinte zu fliegen. Einen zentnerschwere Last viel von ihren Schultern. Das musste Oliver gewesen sein. Zumindest klang seine Stimme ähnlich. Obwohl sie ihre Sinne nur noch mit Mühe beieinander halten konnte, verfolgte sie Arthurs Kampf.
Keine Luft. Sie hatte keine Luft mehr, aber die aufflammende Enttäuschung, Oliver nicht Lebewohl gesagt zu haben, versickerte in der Dunkelheit ihres letzten Versuches, Luft zu holen.

Getrieben von irrsinniger Wut, schleuderte Arthur den Hühnen vor sich her. Der Wachmann fiel rückwärts und schlug mit dem Hinterkopf auf den Boden, stöhnte vor Schmerzen und rührte sich nicht mehr.
Arthurs Finger schlossen sich eisern um den Hals des Hühnen, der erst nach Sekunden zu begreifen schien, dass er verspielt hatte. Er drückte fester und fester, grub seine Nägel ins Fleisch, während sich das Gesicht des Wachmanns zusehens Dunkelrot verfärbte. Der Hühne versuchte sich zu wehren, stemmte sich mit den Beinen gegen den Boden, doch das steigerte Arthurs Wut nur. Schließlich packte er seine Gegner mit der anderen Hand an den Haaren und donnerte den Kopf wieder und wieder gegen den Boden und schrie – mit jedem Schlag lauter. Er konnte nicht aufhören, selbst als sich eine Lache von Blut gebildet hatte und jede Gegenwehr versiegt war, hörte er nicht auf. Endlich ließ er ab von dem zersplitterten Kopf.
Erschöpft wankte er zu Melissa und ließ sich neben ihr nieder. Sie reagierte nicht. Mit Blutverklebten Händen strich er über ihr Haar. Leere Augen starrten durch ihn hindurch.

»Arthur, Melissa?«
Arthur wusste nicht, wie lange er neben Melissa gesessen, und ihre Hand gehalten hatte.
»Seid Ihr da?« Elektrisches knistern rieselte durch die Lautsprecher in die Stille.
Gedankenverloren reagierte er. »Ich bin hier.«
»Kommt die Treppe rauf.«
Vorsichtig, fast zärtlich, legte er Melissas Hand auf den Boden.
»Keine Sorge, ich bin allein!«, sagte der Lautsprecher.

Benommen polterte er die Treppe nach oben, war auf alles gefasst. Arthur bot sich ein eigenwilliger Anblick: Oliver lag, mit dem Rücken zu ihm, quer über einem Schaltpult. Er war mit Kabeln an einen Stuhl gefesselt und musste es irgendwie geschafft haben, sich bis zur Konsole zu bewegen, wo er dann vornüber gekippt war. Arthur wusste nicht so recht was er sagen sollte und begann wortlos, die Fesseln zu lösen.
»Mann, bin ich froh, dass Ihr da seid«, ächzte Oliver.
Arthurs Bemühungen ihn zu befreien, scheiterten an seinen zitternden Händen. Die Auseinandersetzungen mit den beiden Wachmännern hatten ihm mehr zugesetzt, als er sich eingestehen wollte.
»Ich krieg' die Knoten nicht auf«, sagte er. Jetzt stand er unschlüssig neben Oliver und betrachtete die Konsolen und Schalttafeln, die in den Wänden eingelassen waren.
»Komm schon, hilf mir wenigstens hoch, oder willst Du mich hier liegen lassen?«
Er schüttelte sich ungeduldig, bis der Stuhl kreischend verrutschte.
»Arthur, was soll das, träumst Du? Und überhaupt, wo ist Melissa?«
Schuldbewusst stellte er den Stuhl mitsamt Oliver auf alle vier Beine. Er zuckte zusammen; über Olivers rechtem Auge leuchtete ein immenses Veilchen, das in eine Platzwunde überging. Seine Nase war unwirklich zur Seite geneigt, das ganze Gesicht blutverschmiert und geschwollen.
»Sie liegt unten.«
Oliver zog seine Schultern hoch. »Du meine Güte, ist sie verletzt?«
»Sie ist tot, Oliver.«
»Was?«, stieß er mit erstickter Stimme hervor.
»Einer der Wächter hat sie erschossen.«
Während Arthur sprach, zerrte er an den Fesseln.
»Diese verfluchten Wachleute.«
Endlose Minuten später waren Olivers Fesseln gelöst. Seine Handgelenke brannten. Er legte eine Hand auf Arthurs Schulter und stand auf. Für einen kurzen Moment streiften sich ihre Blicke und sie blieben aneinander haften. Schließlich ging er wortlos aus dem Kontrollraum und die Treppe hinunter.
Arthur blickte auf seine Hände. Schwarz-rot vom getrockneten Blut waren sie. Er ließ sich auf den Stuhl fallen, an den Oliver gefesselt gewesen war. Seine Gedanken schwiegen ihn an, sagten ihm nicht, was er zu tun hatte.

*

Melissa sieht sogar jetzt schön aus, dachte Oliver. Er kniete sich neben sie und nahm ihre Hand, über die er erschrak, denn sie war kalt. Kalt wie der Boden. Unaufhaltsam überrollte ihn die unausweichliche Wahrheit, dass er nie wieder mit ihr sprechen können würde und er versagt hatte, dass sie nie wieder mit dem Lachen und sich nie wieder an seine Schulter lehnen würde. Plötzlich schrie er los. Die Trauer über ihren Tod kannte keine Grenzen mehr, doch was ihn noch viel schlimmer plagte war, ihr nie seine Gefühle für sie gestanden zu haben.
Er beugte sich über Melissa, legte seine Arme um ihren Oberkörper und drückte sie an sich. Ihr Gesicht war kalt und fühlte sich an seiner Wange wie ein Fremdkörper an.
»Oliver, wir sollten von hier verschwinden, wer weiß, ob die Verstärkung gerufen haben.«
Er hatte gar nicht gemerkt, dass ihm Arthur gefolgt war.
»Ja, Du hast Recht«, schluchzte Oliver. »Aber wir werden sie nicht bei diesen beiden lassen.«
Er machte zwei abfällige Kopfbewegungen in Richtung der Wachleute. Seine Freundin hatte etwas Besseres verdient. Er hob Melissa hoch und ging mit ihr nach oben, wo er sie behutsam auf einen Tisch an der Wand legte. Zärtlich strich er ein paar Haare aus ihrem Gesicht.
»Wir sollten dann.«
Er nahm Oliver an den Schultern und zog ihn von Melissa weg.

*

Oliver hatte Schwierigkeiten, Arthur zu folgen. Seit Ewigkeiten eilten sie durch ihnen unbekannte, dunkle Gänge, nahmen bald diese, bald jene Abzweigung und hofften, nicht auf eine Patrouille oder die befürchtete Verstärkung zu stoßen. Schließlich endete der Gang an einer Türe, die sie mit ihren Schlüsseln öffneten.
»Jetzt bin ich gespannt«, sagte Arthur leise, als würde er eine Kirche betreten.
Die Akustik war hier anders. Die Schritte der Beiden hallten nicht durch die Röhre und auch das unaufhörliche Brummen, das die ganze Zeit über allem gelegen hatte, konnte man nicht vernehmen.
Oliver ging einige Schritte hinter seinem Freund. Er musste ständig an Melissa denken, daran, wie sie ausgesehen hatte, als sie dort in der Blutlache lag. Der leere Blick in ihren Augen, die blutverschmierte Jacke. Der Gedanke an Melissas kalte Wangen machte ihn frösteln. Er hatte das Gefühl gehabt, einen Stein zu berühren. Sie war ihm so fremd vorgekommen. Er schämte sich dafür.

»Sag mal, warum bist Du eigentlich einfach abgehauen?«, wollte Arthur wissen.
Oliver beeilte sich, seinen Freund einzuholen und antwortete dann: »Ich habe versucht Euch zu wecken, aber da war nichts zu machen. Ihr habt überhaupt nichts mitbekommen.«
»Aber was war denn so wichtig?«, fragte Arthur und blieb stehen.
»Ich bin von einem Rumpeln wach geworden. Jemand war hinter der Tür und hat uns beobachtet; zumindest hatte ich das Gefühl, dass es so wäre.« Er zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, aber mir war das nicht geheuer und ich wollte sicher gehen, dass wir nicht auffliegen.«
»Und, war da jemand?«
»Jetzt pass auf, ich bin bis zu der Tür gerobbt und habe durch den Sichtschlitz gespäht. Mir ist fast das Herz stehen geblieben, als plötzlich eine Lampe in mein Gesicht leuchtete.«
Arthur schlug die Hand vor den Mund.
»Also hast du ihn verfolgt?« Er starrte ihn mit großen Augen an.
»Ja klar, ich bin zu Euch, habe die Schlüssel geholt und die Tür aufgesperrt. Der hat ganz schön blöd geguckt, als ich plötzlich vor ihm stand. Den Überraschungseffekt habe ich ausgenutzt und mich auf ihn gestürzt. Leider ist er mir entwischt.«
»Und wie lange bist du ihm gefolgt?«
»War eine ganze Weile. Nach der letzten Tür, in der Halle mit dem Becken, ist er dann der Länge nach auf die Schnauze geflogen, hat wie ein verrückter um sich geballert und zweimal hatte er mich nur knapp verfehlt, aber zum Glück konnte ich ihm die Waffe aus der Hand schlagen.«
Er hielt inne und verfolgte die Bilder in seinem Kopf, die Erinnerungen an den Kampf um Leben und Tod, die Geräusche, die Angst; er zuckte zusammen bei dem Gedanken daran, wie er die Waffe seines Gegners aufgehoben und ohne zu zögern abgedrückt hatte.
»Ich habe versucht, ihn zu erschießen, Arthur!« Oliver machte eine kurze Pause, lachte unsicher. »Zum Glück waren die Patronen alle.«
»Bleib mal stehen«, sagte Arthur. »Deine Wunde blutet.«
Er legte seinen Rucksack ab und holte die Miniaturversion eines Erste-Hilfe-Kastens heraus.
Oliver nickte.
»Besser die als wir. Jedenfalls hatte der Kerl keinen Mut mehr; ohne Waffe war er eben auch nur noch ein Niemand, ist gelaufen wie der Teufel.« Er zuckte zusammen. »Hey, pass auf, das brennt!«
»Entschuldigung.«
»Bin ihm fast nicht hinterher gekommen.«
Unvermittelt hielt er inne. »Hörst du das?«
»Das Brummen? Ja. Das hört man in den Gängen immer wieder.«
Oliver lauschte.
»Ist doch egal, erzähl lieber weiter.«
»Hört sich an wie Förderbänder. Egal, also, äh, nachdem ich den Typen endlich erreicht hatte, war ich echt aus der Puste. Mir war schwarz vor Augen geworden und genau in dem Moment hatte er angefangen, auf mich einzuprügeln und geschrien wie am Spieß. Er wollte mich in das Becken werfen, aber ich war schneller.«
»Halt mal da fest. Und, hast Du ihn hinein gestoßen?«, fragte er und verknotete die Mullbinde. »So, der Verband dürfte halten«, sagte Arthur.
Oliver rieb sich die Augen.
»Der Kerl hatte mir ziemlich eine verpasst, sodass ich erst mal wieder zu Atem kommen musste.« Wieder lachte er gekünstelt. »Hat sich wohl für einen ganz Schlauen gehalten und ist wie ein Stier auf mich los, sodass ich nur noch einen Schritt zur Seite machen musste.«
»Und wie bist du dann in deine missliche Lage gekommen?«
»Erstmal habe ich mich in der Halle umgesehen und die Tür entdeckt. Ich also aufgesperrt und die Treppe rauf.« Oliver stemmte seine Hände in die Hüften. »Keine Ahnung, warum ich so unvorsichtig war.«
»War fast klar, dass sie dich erwischen.«
»Ganz schön dämlich, was?«
»Also vorausschauend ist was Anderes.«
Oliver zuckte seufzend die Achseln. Wenn er über die Situation nachdachte, würde er sich am liebsten selbst Ohrfeigen.
»Ich habe mich nach Kräften gewehrt, aber gegen zwei ... Den Rest kannst du dir ja vorstellen; sie haben mich ziemlich hergenommen. Wenn ich gewusst hätte, dass ihr die Beiden um die Ecke bringt, hätte ich vielleicht doch alles erzählt. Wäre mir einiges erspart geblieben.«
Auch dieses Lachen misslang ihm.
»Ich glaube wir sollten mal weitergehen«, sagte Oliver, der gerade damit geendet hatte, das Verbandszeug wegzupacken.
Den weiteren Weg legten sie schweigend zurück.

*

Oliver trat zuerst durch die Tür und war fassungslos. Er stand unter einem mächtigen Gewölbe, das von Pfeilern getragen wurde. Das Licht seiner Taschenlampe reichte kaum bis ans obere Ende der Stützpfeiler, die durch ein Wirrwarr von Verstrebungen miteinander verzahnt waren.
»Hast du so etwas schon gesehen?«, fragte er beinahe tonlos.
Arthur antwortete nicht. Staunend, den Blick nach oben gerichtet, stolperte er vorwärts.
»Was ist das?«, überwand er schließlich seine Sprachlosigkeit.
»Sieht aus wie eine Kirche.«
»Als Teil einer Fabrik? Glaube ich nicht. Komm, lass uns weiter.«
Oliver betrachtete den Boden, der matt glänzte und in regelmäßigen Abständen von Rinnen durchzogen war. Sie wurden von Linien aus anderen Richtungen durchkreuzt.
»Hast du die Muster auf den Boden gesehen?«, fragte Arthur. Er ging in einigen Metern Abstand zu Oliver.
Er bückte sich und versuchte einen Blick durch die Rillen zu werfen, erkannte aber bis auf einen bläulichen Schimmer nichts.
»Hey!«, rief Arthur, »Sieh Dir das an!«
Olivers Herz begann schneller zu schlagen. Er sprang auf und eilte zu seinem Freund, der hinter einem großen Kasten stand. Das Gebilde reichte ihm bis zu den Schultern und die Oberfläche spiegelte die Umgebung wieder. Dort wo das Licht der Taschenlampe auf den Apparat traf, setzte ein Effekt ein, der Oliver an glühendes Metall erinnerte. Sobald er die Taschenlampe ausschaltete, verlosch das Glühen mit kurzer Verzögerung wieder.
»Hast Du das gesehen?« er bedeutete Arthur, zu ihm zukommen.
»Was?«
Oliver ließ den Schein der Taschenlampe über die verspiegelte Oberfläche wandern und eine glühende Linie folgte seinen Bewegungen.
»Sowas habe ich noch nie gesehen!«, sagte Arthur.
Neugier nahm Besitz von Oliver. Er ging um den Apparat herum und spielte mit dem Effekt, malte verschiedene Muster und freute sich wie ein kleines Kind. Nach einer Weile bemerkte er, dass Arthur ungeduldig wurde. Schuldbewusst ließ er die Lampe sinken.
»Komisches Ding.« Oliver versuchte so beiläufig wie möglich zu klingen. Dabei fühlte er, dass ihm das Blut ins Gesicht geschossen war. Hoffentlich hatte Arthur das nicht gesehen.
»Ich hatte schon befürchtet, das geht jetzt noch ein Stündchen so weiter«, grinste Arthur und schüttelte den Kopf.
Oliver konnte seinem Freund nicht ins Gesicht sehen. Die Augen auf den Boden gerichtet sagte er: »Tut mir Leid, ich fand das einfach faszinierend.«
»Naja, Schwamm drüber, ich werd's niemandem verraten. Hier drüben ist übrigens eine Taste.«
»Lass sehen«, sagte Oliver. Er leuchtete die Tafel an.
»Wofür die wohl gut ist?«
Während er noch darüber nachdachte, streckte Arthur die Hand aus und drückte den Knopf.
»Bist Du noch ganz bei Trost?«, stieß Oliver hervor.
Arthur zuckte die Achseln.
»Jetzt können wir sehen, was passiert.«
Zunächst passierte gar nichts. Nach einigen Sekunden dröhnte ein lautes KLACK durch die Halle und im selben Augenblick tauchten kräftige Scheinwerfer die Wand weit hinter dem Kasten in Scheinwerferlicht. Sie sah aus wie ein überdimensioniertes Garagentor, das nach oben fuhr. Gebannt beobachtete Oliver, wie sich der Boden veränderte. Völlig geräuschlos erhoben sich auf einer Länge von zwanzig Metern Reihen schmaler Sockel.
Ihm stockte der Atem, als er sah, dass Arthur sich mutig auf einen davon setzte. Sie wuchsen zusehends in die Höhe und bei etwa einem Meter zwanzig kamen sie zum Stillstand. Nur das Tor bewegte sich noch immer. Mit einigen Schritten Sicherheitsabstand ging Oliver um die Sockel. Arthur indessen saß wie ins Gebet vertieft in einer der Reihen.
»Das muss man sich mal vorstellen«, sagte Arthur, ohne den Blick von dem Tor abzuwenden, »die Bänke sind sogar federnd gelagert.«
Oliver zögerte einen Augenblick und setzte sich in die Reihe hinter seinem Freund.
»Das kann nur eine Kirche sein«, sagte er.
Die Sockel waren offensichtlich wirkliche Sitzplätze. Er wippte ein wenig auf seinem Platz und das Gebilde gab tatsächlich um einige Millimeter nach. Die Oberfläche der Bank fühlte sich an, als handelte es sich um Stein. Es war nicht kalt, nicht einmal kühl, nein, es fühlte sich angenehm an, beinahe warm. Die Ecken waren abgekantet.
Schließlich erhob sich Oliver und ging neugierig nach vorne. Neben einem Ding, das ihn an einen Rednerpult erinnerte, setzte er sich auf einen freistehenden Quader.
»Wie geht es jetzt weiter?«, rief Arthur.
»Keine Ahnung, was weiß ich«, sagte Oliver vor sich hin. Er war dankbar dafür, sich ein wenig ausruhen zu können. Seit Stunden waren sie unterwegs, hatten um Leben und Tod gekämpft und sich ständig an neue Gegebenheiten anpassen müssen, waren aber ihrem Ziel, eine Revolution auszulösen, kein Stück nähergekommen. Insgeheim wünschte er sich sogar, dass die Gerüchte einfach der Fantasie naiver Arbeiter entsprungen seien, nichts weiter, als ein fantasievoller Versuch, dem trostlosen Alltag, der unendlichen Langeweile ein Schnippchen zu schlagen. Und dennoch glaubte er daran; etwas in seinem Inneren brachte ihn dazu, sich weiter an das Unmögliche zu klammern. Für die fixe Idee hatten vier Menschen sterben müssen – darunter Melissa, die einzige Frau, die ihm jemals etwas bedeutet hatte. Er raufte sich die Haare. Alles war vertan, nun könnte sein Leben enden und nichts wäre übrig von ihm. Er würde kein Vermächtnis hinterlassen, niemandem Hoffnung gegeben haben, sondern einfach nur verschwunden sein. Wer sollte ihn noch vermissen? Wem würde auffallen, dass an seinem Platz ein anderer stand?

Das Tor war jetzt beinahe komplett geöffnet und Oliver staunte nicht schlecht. Sein Verlangen, einfach nur dazusitzen und nichts zu tun, begann ob des Anblicks zu verfliegen.
Er drehte sich um und rief: »Hast du gesehen? Das ist ein riesiger Spiegel.«
Arthur schien wie vom Erdboden verschluckt.
Als sich Oliver wieder nach vorne orientierte, stand vor ihm eine Gestalt. Sie war elegant gekleidet und hielt einen länglichen Gegenstand in der Hand. Sein Gesicht war faltig, wirkte verbraucht und müde. Ein vertrauter Duft strömte zu Oliver herüber, einer, der ihn an seinen Onkel erinnerte. Instinktiv rutschte Oliver von dem Quader und machte einige Schritte zur Seite. Sein Herz schlug bis zum Hals.

*

»Ich Kenne Dich«, sagte der Fremde mit fester Stimme.
Aus der Ferne hörte Oliver Schritte.
»Komm zu uns, Arthur«, sagte die Gestalt.
Langsam erinnerte sich Oliver, woher er den Mann kannte. Der Kerl war ihm vor ein paar Tagen auf dem Flur der Krankenstation begegnet.
Er richtete den Blick auf seinen Freund, der mit geballten Fäusten auf den Mann zu polterte, plötzlich aber stehen blieb.
»Ich kenne sie!«
Der Fremde lächelte.
»Ganz recht, Arthur, wir kennen uns.«
Oliver verstand nicht. Wusste Arthur etwas, das er ihm vorenthalten hatte?
»Was wollen Sie?«, fragte Arthur.
»Ich möchte euch etwas zeigen.«
Mit dem armlangen Gegenstand deutete der Mann lässig auf die schwarze Fläche hinter sich. Er schien keine Angst vor Arthur zu haben, denn er drehte ihm selbstsicher den Rücken zu und ging gemessenen Schrittes auf den überdimensionierten Spiegel zu, betrachtete sein Spiegelbild, als wäre er ein Mannequin, drehte sich nach links und rechts, strich eine Augenbraue zurecht und schien sich gut zu gefallen. Dann drehte er sich wieder um.
»Ist das nicht ein schicker Spiegel?«
»Der absolute Wahnsinn; wenn ich groß bin möchte ich auch so einen«, spottete Arthur. »Zeigen Sie uns lieber ihr tolles Geheimnis?«
»Nur mit der Ruhe, wir wollen doch nichts überstürzen!«
»Bleib wo Du bist, oder ich verpasse Dir eine!«, zischte Arthur.
Der Mann blieb stehen und hob beschwichtigend die Hände.
»Schon gut, schon gut.« Wieder lächelte er. »Komm doch zu uns nach vorn. Arthur, tu' mir den Gefallen und setz' dich zu uns. Du hast nichts zu befürchten.«
Das exaltierte Gehabe des Mannes ließ Oliver misstrauisch werden. Was hatte diese Geheimniskrämerei zu bedeuten? Offenbar hatten sie keine Wahl, denn der alte Kauz machte nicht den Eindruck, als würde er irgend etwas erzählen, taten sie nicht was er wollte.
Verunsichert trocknete Oliver seine feuchten Hände an der Hose ab und richtete den Blick nach vorne. Aus dem Augenwinkel sah er Arthur näher kommen und sich setzen.

»Wisst Ihr, was ich Euch erzählen möchte, wird sich unglaublich anhören, aber es ist die absolute Wahrheit. Möchtet Ihr die Wahrheit hören?«
Der Alte sah die beiden eindringlich an.
»Ich werde es frei heraus sagen, denn ein Schock wird es allemal sein. Diese wunderschöne Spiegel vor uns ist eigentlich kein Spiegel. Es ist das Sternenfenster.«
»Mhm.«
»Und wenn ich diesen Knopf hier drücke«, er hielt Oliver den länglichen Gegenstand, auf dessen Oberseite zwei Schalter eingearbeitet waren, unter die Nase, »dann ändert sich die Polarität der Scheibe und wir können ungehindert hindurch sehen.«
Oliver griff nach dem Gegenstand, doch der Alte zog ihn flink zurück. Misstrauisch musterte er Oliver und reichte ihm den Stab schließlich doch.
»Es ist der rote Knopf. Drück ihn, wenn Du möchtest.«
Sofort verschwand der rote Knopf in dem Stab und mit einem kurzen Sirren verschwand das Spiegelbild.

Olivers Herz setzte für einen Schlag aus.
»Ach du Scheiße!«, schrie Arthur. Er wollte zurückweichen und fiel um Haaresbreite von der Bank.

»Eigentlich ist es nicht schlimm, man gewöhnt sich recht schnell daran. Ich finde es sogar wunderschön. Habt Ihr jemals so etwas schönes gesehen?«
Die Beiden brachten keinen Ton heraus.
»Ich habe mit Arthur vor ein paar Tagen auf der Krankenstation darüber gesprochen, habe versucht, ihm zu erklären, dass eine Koexistenz verlässliche Partner braucht, aber anscheinend hat er das nicht begriffen, sonst wärt Ihr ja nicht hier.«
»Welche Koexistenz?«
Der Alte lächelte. »Übermorgen ist es achtundfünfzig Jahre her, dass Forscher eine Entdeckung gemacht haben, die die Welt bis ins Mark erschüttern sollte. Eine Gruppe von Objekten näherte sich aus Richtung des Sternbilds Waage unserer Erde. Ihre Flugbahn schien instabil und nicht nur das, auch die Geschwindigkeit war Schwankungen unterworfen.«
Während Oliver den Ausführungen des Alten lauschte, ließ er den Anblick der Erde auf sich wirken. Er konnte nicht fassen, dass er angeblich tausende Kilometer fern seiner Heimat durchs All fliegen sollte, in einem Raumschiff, oder wie auch immer man diese Fabrik zu bezeichnen gedachte. Warum hatte er das nicht bemerkt? Er konnte seinen Gedanken keine vernünftige Richtung geben.
»Einige Monate nachdem wir sie entdeckt hatten, haben sie Kontakt mit uns aufgenommen.«
»Sie?«, fragte Arthur.
»Ja, Arthur, eine intelligente Lebensform.«
Oliver stutzte. »Außerirdische?«
»Ich weiß nicht«, murmelte Arthur.
»Das ist doch vollkommen lächerlich«, polterte plötzlich Oliver und sprang auf. »Dieses angebliche Fenster da ist mit Sicherheit nur eine überzogene Multimedia-Show.«
der Mann machte ein entäuschtes Gesicht. »Jetzt tust Du mir aber Unrecht! Warum sollte ich Euch anlügen?«
»Vielleicht weil ... vielleicht wollen Sie ... ach, keine Ahnung, weil ich es nicht glaube.« Entschlossen, den Schwindel aufzudecken, ging er auf den riesigen Bildschirm zu, doch nichts von dem was er erwartet hatte, geschah. Er drehte sich um und ging zu seinem Platz zurück. »Es ist echt, Arthur, es ist verdammt nochmal echt.«
»So gefällst Du mir schon besser«, sagte der Alte.
»Aber warum sind wir hier oben?« Arthurs Stimme war schwach.
»Darauf kommen wir gleich. Innerhalb weniger Wochen waren die Libra, man hatte sie entsprechend des Sternbilds ihre Herkunft getauft, hier, haben sich ein paar hunderttausend Kilometer hinter Saturn auf dessen Bahn geparkt und uns mit Signalen bombardiert. Es hatte eine ganze Weile gedauert. Kaum fünfzehn Jahre später konnten wir sie verstehen. Wir konnten uns tatsächlich mit ihnen unterhalten.«
Arthurs Augen leuchteten vor Begeisterung. »Was haben die Außerirdischen gesagt?«
»Sagen ist nicht der richtige Ausdruck; sie forderten von uns, die Erde aufzugeben, sie ihnen widerstandslos zu überlassen, ansonsten würden sie uns auslöschen.«
Oliver verschränkte die Arme und stierte auf den Boden. »Und ich hatte immer gedacht, Wesen, die Sternenreisen unternehmen können, würden sich der friedlichen Erforschung des Universums verschreiben. Aber nein, sie fliegen ein paar hundertmilliarden Kilometer, damit sie ihre Brüder im All überfallen.«
»Und, haben wir gekämpft?«, fragte Arthur.
Der Alte lachte bitter.
»Mit allem was wir zur Verfügung hatten. Leider war es nutzlos. Wir konnten sie einfach nicht bekämpfen und nachdem sie uns ihre Macht an der Mondstation demonstriert hatten, brach unser Widerstand zusammen. Irgendwann teilen sie uns mit, dass sie keineswegs vorhätten, uns zu vernichten, sondern eine Koexistenz anstrebten. Aus verständlichen Gründen war die Einigung schnell erzielt, ihre Argumente waren wirklich überzeugend. Die Libra kündigten an, dass sie die Atmosphäre unserer Erde nach ihren Bedürfnissen verändern, uns aber verschonen würden.«
Arthur runzelte die Stirn.
»Da fragt man sich doch, was die von uns wollen. Haben die das erwähnt?«
»Was mich viel mehr interessiert ist, ob wir Menschen in der veränderten Atmosphäre überhaupt leben können?«, warf Oliver ein.
»Warum unsere Erde für sie so interessant ist, wollten uns die Libra nie verraten. In unzähligen Kommunikees haben sie uns zwar erklärt, wie einzigartig unser Planet sei, aber unsere Fragen nach dem Warum waren stets ignoriert worden. Und um Deine Frage zu beantworten, Oliver – nein, die veränderte Atmosphäre ist für uns Menschen ungeeignet.«
»Sie rotten uns aus.«
»Nein, nein, das kann man so nicht sagen!«
Der Versuch des Alten, Oliver zu beschwichtigen, brachte Arthur in Rage. Ruckartig baute er sich vor dem Mann auf.
»Erzählen Sie uns doch keinen Blödsinn, wie sollte man es denn sonst bezeichnen? Wenn die unsere Atmosphäre in einer Weise verändern, dass wir Menschen darin nicht mehr leben können, dann erkenne ich dahinter durchaus eine Absicht, nämlich die, uns auszurotten.« er hatte das Gefühl, nicht mehr frei atmen zu können. Hitze und Kälte durchströmte ihn in einem auf und ab von Wellen.
»Zugegeben, als sie die ersten Veränderung der Atmosphäre herbeigeführt hatten, gab es ein paar Zwischenfälle. Vor allem in den ersten Stunden sind Hunderttausende umgekommen, es war wirklich entsetzlich. Die Libra waren bestürzt und bedauerten die Vorfälle zutiefst.«
»Na, das wird die Toten gefreut haben«, spottete Arthur. »Die Libra, oder wie auch immer sie diese Viecher nennen, schnappen sich unsere Erde, sorgen dafür, dass wir Menschen dort nicht mehr überleben können und labern dann etwas von friedlicher Koexistenz? Scheint ja ein lustiger Haufen zu sein.«
Oliver wusste nicht, was er sagen sollte. Um ihn zu überzeugen, brauchte es schon schwerere Geschütze, als hanebüchene Geschichten von außerirdischen Monstern, dachte er.
»Deshalb ist es doch unsere Aufgabe, Filter zu bauen, mit denen wir Menschen wieder ungehindert atmen können. Deshalb ist das doch hier alles so wichtig.«
»Sagen Sie mal, können Sie mir erklären, aus welchem Grund wir ein paar tausend Kilometer von der Erde entfernt sind?«, fragte Oliver schließlich.
Arthur zollte ihm einen kurzen Beifall. »Das ist eine wirklich gute Frage!«
Der Alte stand langsam auf und ging erneut auf das Fenster zu.
»Das, meine Lieben, hat logistische Gründe.«
»Was soll das heißen?«, fragte Oliver.
»Dadurch wird es einfacher und billiger, die in unserer Fabrik hergestellten Filter weltweit auszuliefern.«
Oliver lachte laut auf. »Einen solchen Scheiß habe ich schon Lange nicht mehr gehört! Die Anlieferung der Rohstoffe, der Transfer durch die Atmosphäre ... wenn das kostengünstig sein soll, dann weiß ich nicht mehr was das Wort Teuer bedeutet.«
»Da hat Oliver ja wohl nicht ganz Unrecht, oder, alter Mann?«, grinste Arthur.
»Das zu erklären, würde jetzt zu weit führen, aber Ihr dürft nicht vergessen, dass uns die Libra ein paar ihrer Technologien überlassen haben; Technologien von denen wir vor fünfzig Jahren nicht einmal zu träumen wagten. Aber davon kann ich Euch heute leider Gottes nicht erzählen, wir haben keine Zeit mehr.«
»Wieso? Haben Sie noch etwas vor? Vielleicht Blumen gießen oder ein Kleid nähen?«, fragte Arthur.
»Ich habe heute bis auf eine wichtige Sitzung keine Verpflichtungen mehr, aber Ihren! Also, zackzack die Sachen gepackt und ab in die Fabrik. Eure Schicht beginnt in Kürze.«
»Momentchen, so einfach kommen Sie uns nicht davon!«, tönte Arthur.
»Ich habe keine Ahnung was ich Euch noch wichtiges zu sagen haben könnte. Ihr wisst jetzt worum es geht, also könnt Ihr genauso gut verschwinden und wieder an Eure Arbeit gehen.«
Oliver wusste nicht, was sie tun sollten. Wollte er sich wirklich an seiner eigenen Spezies versündigen, in dem er sich weigerte, seinen Platz einzunehmen? Und vor allem, wo sollte er hin? Aus einer Fabrik im Weltraum gab es kein entkommen. Der alte Mann schien ihnen eine zweite Chance geben zu wollen und wie es aussah, drohten keinerlei Konsequenzen. Ach, hätten sie sich doch nicht so wichtig genommen, sich nicht für so souverän gehalten, alles selbst regeln zu können. Hybris hat einen von uns das Leben gekostet, dachte er.
»Du hast ja wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank«, brüllte Arthur und stürmte auf den Alten zu. »Melissa ist tot! Melissa, sie war unsere beste Freundin!«
Er packte den Alten am Kragen des Jacketts und drückte ihn rückwärts gegen das Rednerpult, bis er vor Schmerzen aufstöhnte. Dabei fiel ihm der Stab aus der Hand.
»Arthur, was soll das bringen?«, rief Oliver, »wenn Du ihm jetzt was antust, bekommen wir mit Sicherheit größere Probleme.«
Arthur ließ sich Zeit, darüber nachzudenken. Seine Fingerknöchel waren weiß vor Anspannung.
»Jetzt mach schon!«
Die angsterfüllten Augen des Alten fixierten Arthur, als dieser ihn schließlich Freigab.
»Das hättest du wohl gern, dass wir sofort wieder zum Alltag über gehen. Gab doch nur vier Tote, ist garkein Problem, kann ja mal vorkommen.«
Oliver stellte sich schützend vor den alten Mann. »Jetzt lass ihn endlich in Ruhe. Wir sitzen doch alle im gleichen Boot, oder?« Er hob den Stab auf und betrachtete ihn. Die Oberfläche des vielleicht vierzig Zentimeter langen Stabes war von feinen, unregelmäßigen und ineinander verdrehten Linien überzogen. Sieht wirklich so aus als wäre das Ding von einer anderen Welt, dachte Oliver. Nach einer Weile ging er zu dem Alten und übergab ihm den Gegenstand.
»Mann, Oliver! Dein Vertrauen möchte ich haben. womöglich ist das eine Waff...«
»Schlaues Kelchen«, grinste der Mann. Mit überlegener Miene richtete er den Stab auf Arthur. »man möchte gar nicht glauben, wie oft mir dieses Ding schon dabei geholfen hat, übereifrige Revoluzzer loszuwerden.«
»Dreht Ihr jetzt beide durch? Arthur, führ' Dich nicht so auf und Sie, Sie nehmen das Ding runter, wir sind doch alle erwachsene Menschen!«
Der Mann richtete noch immer seinen Stab auf Arthur.
»Ihr geht jetzt dorthin, wo Ihr hergekommen seid, haltet die Klappe und macht eure Arbeit. Los jetzt, verschwindet, oder...«
»oder was?«, vervollständigte Arthur.
Oliver glaubte nicht was er da hörte. »mein Gott, du verhältst dich wie ein untalentierter Schauspieler in einem alten Film, mach dich nicht lächerlich, Arthur!«
»von mir aus gehen wir zurück, aber dass ich niemandem hiervon Berichten werde, kann der Alte vergessen. Wir müssen es den Leuten sagen. Die müssen wissen, dass wir beinahe umgebracht worden wären. Warum sollen die nicht von den Außerirdischen wissen? Was will der Penner denn machen, wenn wir reden? Uns die Nachspeise wegnehmen? Oh, da habe ich aber Angst! Mir zitternd die Kn...«

Oliver zuckte von dem lauten Knall zusammen. Hilflos musste er mitansehen, wie Arthur rückwärts von der Bank stürzte.
»Mein Gott, was tun Sie denn da? Warum haben Sie auf ihn geschossen?«
»Er wollte es nicht anders«, sagte der Alte. Er blickte ihn streng an und wandte sich wieder Arthur zu.
»Ich habe Dir ein geregeltes Leben in unserer Fabrik angeboten, ein Leben mit sauberer Luft und genug zu essen. Ein Leben, in dem Du nach einem produktiven Arbeitstag stolz darauf hättest sein können, etwas wichtiges geleistet zu haben. Aber Du hattest nur Zerstörung im Sinn, wolltest den Leuten das alles wegnehmen, sie verunsichern, ihnen Angst machen, ohne Alternativen bieten zu können. Die Menschen brauchen es nicht zu wissen, sie sollten sich nicht den Kopf über diese komplizierten Dinge zerbrechen müssen, sie haben es schon schwer genug. Glaubst Du, ich finde es lustig, dass wir von den Libra überrannt worden sind? Du kannst es drehen und wenden wie du willst, Stabilität und Struktur sind es, die alles zusammenhalten und nicht Entscheidungsfreiheit, wo es nichts zu entscheiden gibt.«

Oliver nahm seine Jacke und legte sie wie ein Kissen unter Arthurs Kopf.
»Lass mich nicht allein.«
»ich bin hier, mein Freund, ich lass dich nicht allein.«
Wieder versuchte Arthur zu sprechen, brachte aber keine verständlichen Worte zu Stande. Er hob seine Hand. Sie war kalt in Olivers Gesicht und als Arthurs Körper erschlaffte, fiel die Hand kraftlos zu Boden.

Olivers Tränen waren langsam versiegt. Er stand auf, die Knie schmerzten ihn. Er fror. Seine Jacke lag auf Arthurs Gesicht. Jetzt bereute er das. Trotzdem, etwas hinderte ihn daran, sie wieder an sich zu nehmen. Es schien ihm taktlos.
»Sie haben Recht«, sagte er. »ich werde zurückgehen.«
Nicht zu widersprechen, schien ihm jetzt die günstigste Taktik zu sein. Er würde dem alten keinen Grund dafür geben, auch ihn zu attackieren, womöglich umzubringen, und auf einen Überwachungschip war er ebenfalls nicht scharf. Nein, er würde stillhalten und damit seine Chance vergrößern, all seinen Kollegen über die Geschehnisse zu berichten. Die Allgemeinheit würde zu entscheiden haben, wie die Morde an Melissa und Arthur zur Sühnen seien.
Dass er keinerlei Antwort auf seine Worte bekam, ließ Oliver aufhorchen. Er drehte sich um. Der Alte war nicht zu sehen. Verdutzt ging Oliver durch die Halle, suchte den alten Mann, rief nach ihm, aber er schien wie vom Erdboden verschluckt. Er war allein.

Niedergeschlagen richtete er seinen Blick auf die Erde. Sie ruhte so friedlich im tiefschwarzen Nichts, leuchtend blau, von weißen Flecken und Schlieren übersät. Sie folgte ihren uralten Bahnen und nichts deutete auf eine feindliche Übernahme, alles schien normal. Eigentlich, so dachte er, müsste er bei diesem erhabenen Anblick glücklich sein. Er aber fühlte nur eine Leere in sich. Erinnerungen an Kampf und Tod trieben darin wie Schneeflocken umher.
Endlich konnte er sich losreißen. Er drehte sich um und ging. Vorbei an den Sockeln, zögerte, blieb stehen.
»Noch eine Tür«, sagte Oliver ohne es zu wollen. Kalte Schauer liefen ihm über den Rücken. Vielleicht war die Kathedrale gar nicht der legendäre Raum, überlegte er.

Vorsichtig öffnete Oliver die Tür. Wärme vermischt mit dem Geruch von Maschinenöl und Metallspänen strömte ihm entgegen. Maschinenlärm griff nach ihm, zog ihn unaufhaltsam hinein und er war sich nicht sicher, ob er das Geheimnis wirklich Lüften wollte, das Geheimnis, das seine ganze Welt verändern würde. Doch etwas stimmte nicht. Wäre er hinter der Tür einfach geradeaus gegangen, hätte er mindestens fünfundzwanzig Meter bis zur gegenüberliegenden Wand zurücklegen müssen. Olivers Gedanken rasten. Hinter der Scheibe des Fensters der Kathedrale gab es doch kein Vorsprung, schon gar keinen von solcher Größe, so viel stand fest.

Oliver stand in einer Fabrikhalle, nicht halb so groß wie jene, die seinen Arbeitsplatz war. Aus Schächten lieferten Rollbänder Bauteile an. Sie erinnerten Oliver an Rucksäcke, allerdings hatten sie eine steifere Form. Die Teile verschwanden in einer großen Maschine, nur um Augenblicke später auf seiner Rückseite in zwei Teilen herauszukommen. Das war zum Einen der Deckel, zum Anderen die Innereien des Behälters: Verschiedene elektronische Bauteile, deren Funktion Oliver nicht kannte, Geflechte von Drähten und ein Element, das er auf den ersten Blick glaubte identifizieren zu können.
Er traute seinen Augen nicht, musste nähertreten. Kein Zweifel, das runde Bauteil in dem Behälter sah einem solchen, für dessen Fertigstellung Oliver in der Fabrik verantwortlich gewesen war, nicht nur sehr ähnlich, es war genau von dieser Art. Sie verschwanden in einem weiteren Apparat, nach Sekunden in ein früheres Produktionsstadium zerlegt: Zwei leuchtend gelbe Plastikhalbkugeln, Drähte und eine Metallkugel. Maschinen sammelten die gelben Halbkugeln ein, schubsten die Drähte in Sammelbehälter und automatische Fahrzeuge sausten mit den gefüllten Behältern davon. Die Metallkugeln jedoch setzten ihre Reise auf dem Demontage-Band fort.

Oliver verstand die Welt nicht mehr. Warum um alles in der Welt wurden hier die Filtersysteme, für die sie tagein tagaus in mehreren Schichten arbeiteten, die ihr ganzes Leben ausfüllten, unbenutzt wieder zerlegt? Waren sie mit Mängeln behaftet, womöglich Retourware? Das wäre zwar prinzipiell möglich, aber noch vor einigen Wochen war die gesamte Belegschaft ob der hohen Qualität des Produktes belobigt worden.
Erstmal langsam, dachte Oliver. Der Maschinenlärm hinderte ihn daran, einen klaren Gedanken zu fassen, also verließ er die Halle und setzte sich auf eine der Bänke. So oft er seine neuen Erkenntnisse auch hin- und herdrehte, er kam immer zum selben Ergebnis. Er musste einer weitgreifenden Verschwörung auf die Schliche gekommen sein. Einem Komplott zwischen einigen wenigen Taugenichtsen, die für einen jämmerlichen Judas-Lohn das Schicksal der gesamten Menschheit preisgaben auf der einen, und verlogenen Mördern aus dem All auf der anderen Seite. Wie konnte man sich einer solchen Invasion geschlagen gegeben haben? Keine 150 Jahre vorher hätte die Menschheit sich mit ihrem Waffenarsenal mehrmals selbst ausradieren können und 100 Jahre später waren sie nicht dazu in der Lage gewesen, grüne Männchen aus dem All abzuwehren? Eigentlich musste alles auf das Ende der Menschheit hinauslaufen.

Olivers Blick fiel wieder auf seine ursprüngliche Zuhause. Die Erde, sie wäre so schön, dachte er. Nach ein paar Schritten stand er direkt vor dem Sternenfenster. Ein schöner Name für den Blick aus den Sternen auf eine Welt, die nicht mehr dem Menschen unterworfen war.
Etwas nestelte an seinem Schuh herum und er warf einen beiläufigen Blick darauf. Der Anblick einer Ratte ließ ihn zusammen fahren, doch sein Schritt zurück schien das Tier nicht im geringsten zu stören. Unbeirrt saß es vor ihm und machte Männchen, schnupperte nach links und rechts. Selbst als Oliver in die Hocke ging, lief die Ratte nicht davon.
»Na, was bist Du denn für eine«, fragte Oliver.
Die großen Augen der Rate musterten ihn. Eigentlich fand er sie abstoßend, doch niedlich war sie auch. Vielleicht wäre es möglich, sie zu zähmen, überlegte Oliver. Ohne groß nachzudenken, streckte er seine Hand nach ihm aus. Die Ratte stieß ein Quieken aus, denn es hatte sich vor der plötzlichen Bewegung geängstigt, blieb aber am Fuße des Fensters stehen und blickte sich nach Oliver um.
»Geh nach Hause, hier gibt es nichts für Dich«, sagte er.
Wie auf Kommando rannte sie auf ihren kurzen Beinchen los, geradewegs an der Scheibe entlang. Sekundenbruchteile später befand sie sich dahinter. Nichts deutete auf Vakuum oder eine anderweitig gefährliche Umgebung hin.
»Mein Gott!«, rief Oliver. »Ihr verdammten Schweine!«
Er musste sich das Ganze genauer ansehen. Auf den Knien rutschte er am Fuß der Scheibe entlang und suchte nach der Öffnung, dem Durchgang, den die Ratte genommen hatte. Das Loch war nicht größer als eine Faust.

Hektisch holte er die Rohrzange aus seinem Rucksack, setzte sie am Rand des Loches an und zog mit aller Kraft daran. Das Material war zu stabil. Vielleicht würde die Scheibe durch einen harten Aufschlag zu Bruch gehen. Oliver ging ein paar Schritte zurück und warf die Zange so fest er konnte gegen die Scheibe. Zuerst passierte gar nichts. Nach einigen Sekunden aber fiel sie in einem ohrenbetäubenden Getöse und einem Hagel von abermillionen kleiner Splitter in sich zusammen.

Der Boden bestand aus einem Material, das keinerlei Licht reflektierte. Wie der Anfang einer Straße ins Weltall, lagen die Splitter ein paar Meter in alle Richtungen verstreut. Unter seinen Schuhen knirschte und knackte es, als Oliver den vollkommen schwarzen Raum betrat; zwar hatte er festen Boden unter den Füßen, dennoch verlor er für einen Moment Gleichgewicht. Er atmete tief durch, ging weiter, weiter auf die Erdkugel zu, die nur langsam an Größe zunahm. Welch ein Aufwand für eine kleine Illusion, dachte er.
Bald stand er unter ihr. Sie war riesig.

In der Ferne, einige Meter hinter der Kugel, sah Oliver etwas glühen. Er ging darauf zu, tastete danach, spürte den Mechanismus unter seinen zitternden Fingern. Ein Lautes knacken und die Tür sprang auf. Kühle Luft wehte herein. Feucht war sie, roch gut, ein bisschen wie im Gartenzentrum der Barrackenstadt, nur intensiver.
Oliver fasste sich ein Herz und ging hindurch. Wind zerzauste sein Haar, Grillen zirpten, suchten nach Partnerinnen. Der Mond tauchte eine nicht enden wollende Graslandschaft in sein freundliches Licht.


Copyright © 2007 by Georg Niedermeier. Alle Rechte vorbehalten.

 

Nach einigen Monaten Arbeit bin ich endlich fertig. Die Geschichte hat 13.600 Wörter. Das ist sicherlich etwas lang, aber vielleicht macht sie euch trotzdem Spaß. Ich habe mir viel Mühe mit der Fehlersuche geben, habe aber sicher einige übersehen.
Viel Spaß.

 

Hallo Bär,

und mehr oder weniger peinlichen Storys inspirierte.
Story ist im Deutschen ein ziemlich überflüssiges Wort. Geschichten, Gruselgeschichten, Vermutungen, Märchen, Schauermärchen – da gibt es sicherlich irgendeine Schattierung dieses Begriffs, die an dieser Stelle mehr bringen würde als dieses nichtssagende, irgendwie hippe „Storys“ (zumal sich das im Plural furchtbar liest).

»Sag Oliver, warum treibst Du Dich immer wieder mit diesem gelben Gesindel herum?«
Du/Dich klein, nur die Höflichkeitsform wird groß geschrieben.

Ich bin doch schon da wo ich hingehöre.«
da, wo

Melissas Augen hatten ihn wieder einmal verzaubert.
Zu kitschig, zu allgemein für meinen Geschmack.

Eine Kugel kam an
Hm? Entsteht kein Bild. „Kam an“ so umgangssprachlich und salopp.

Je länger sie in Benutzung sein wären,
Sein würden / wären; und „in Benutzung“ ist nicht sehr schön.

und ein Wächter stürzte aus den Höhen der Halle herab, bis er sich über Arthurs Maschine einpendelte
Scheint ja irgendwie so eine Art Maschine zu sein. Warum wird sie nicht beschrieben?

aber es war ihm egal. Man wird sicher wohl noch kümmern dürfen, dachte er, beugte sich zu ihm hinunter und erschrak. Es war Melissa. Hilflos mussten er und die umstehenden zusehen, wie sich die Gelbe die Seele aus dem Leib schrie.
»Vergiss es, die kann Dich sowieso nicht hören, die pfuschen in ihrem Gehirn herum«, sagte jemand.
»Kann schon sein, dass sie mich nicht hört, aber wenn doch?«
»Ach, Scheiß drauf, Du bist ein roter und sie ist eine Gelbe; hat genau die Richtigen erwischt.«
In Gedanken musste Oliver ihm Recht geben. Arthur war ein Gelber und es war mehr als gerecht, dass es jemanden von seiner Sorte erwischt hatte. Er hasste sich für diesen Gedanken. Melissa war alles für ihn.
Die Reflexion nimmt komplett die Dynamik aus der Situation. Es ist ein intuitives Verhalten. Jemand bricht zusammen – er rennt hin, und erkennt dann noch, dass es seine Angebetete ist. Da ist kein Platz für solche rationalen Reflexionen wie „Das ist egal“ und alles. Das ist Instinkt-Handeln. Unmittelbarer müsste das alles kommen.

[quoote]Du bist ein roter und sie ist eine Gelbe[/quote]
Das solltest du mal durchgehen, Groß/Kleinschreibung bei hier rot, gelb, grün. Einfach ins Suchfeld eintragen und schauen, wo es noch kleingeschrieben ist, obwohl ein Artikel davorsteht.

bis sich die Gelben auf ihn stürzen würden.
Alter Deutschlehrer-Spruch: Deutsch ist eine möglichst würdelose Sprache. Trifft hier zu. „stürzten“ ist besser.

Es schien fast, als hätten sie ihn denken gehört, denn plötzlich näherten sich ihm ein paar Kerle und begannen damit, ihn herum zu schubsen.
Mit dem „ihn“ ist doch Oliver genannt, mit dem „ihm“ aber Arthur.
Lieber die Namen zu oft wiederholen als Unklarheiten aufkommen lassen. Wirklich, man kann die Namen fast nicht oft genug wiederholen. Das stört nicht. Weiß der Geier wieso.

schrie plötzlich Melissa die sich gerade wieder gefangen hatte.
, die

und auf die anderen Arbeiter wandten sich ihr zu.
Auch

noch vorne zu seinem Freund
Nach, nicht noch.

mit welchen Verletzungen man es zu tun hatte. Mit einem piepen quittierte die Maschine ihre Eingaben.
Piepen groß, der erste Halbsatz klingt nicht. „Um welche Verletzungen es sich handelte“ oder so.

nochmal kurz auf's Klo und da ist mit das Gitter aufgefallen.
Aufs, mir

Melissa winkte ab.
»Nein, eigentlich nicht, das ist wahrscheinlich verboten und ich will keinen Ärger.«
Gehört in eine Zeile. Damit klar wird, wer das sagt.

das er kurz vor dem einschlafen gehört hatte.
Einschlafen groß

ob ihn sein gegenüber wohl erkannte.
sein Gegenüber

aber sein Name wollte ihn nicht einfallen.
Ihm

»Es ist von entscheidender Bedeutung, dass alle ihr Bestes geben und nicht durch die Verfolgung ihrer persönlichen Interessen vom Kurs abweichen.«
Wie ein Vater, der sein Kind sorgfältig zudeckt, zog er Arthurs Decke etwas ordentlicher über dessen Schultern, strich die Falten heraus und lächelte ihn freundlich an. Arthur wusste nicht was er davon halten sollte.
Gut! (Komma nach wusste nicht)

Vor einigen Tagen handeltest Du wie sie.«
Bei aller Liebe aber … „handeltest“ meh. Hast du … gehandelt. (du wieder klein)

und sah Melissa an. Ihre glasigen Augen sahen aus,
Sahen aus = wirkten, um die Dopplung zu vermeiden

andauern habe ich diese idiotische Stimme im Kopf.«
andauernD

Warum benehme ich mich, als sei ich ein gesuchter Schwerverbrecher?
Satzanfang groß; ich such nicht mehr alles raus, es geht eigentlich, aber sind noch viele Flüchtigkeitsfehler drin, die du bei erneutem Lesen sicher selbst kriegst.

von mehreren Meter breite,
Breite

»Alsdann«, sagte Melissa und Oliver freute sich darüber, dass ihre Ressentiments offenbar verflogen waren.
Eindruck bis hierhin: Spannend (Was produzieren sie da? Wer versklavt die da? Was ist hinter der Tür?), ABER: Die ganze Nummer mit „Kommt Melissa mit oder nicht?“ ist zu breit ausgewalzt, jeder weiß, dass sie mitkommen wird. Die Zweifel (Warum sagt sie immer, es sei verboten) in allen Ehren, das muss natürlich auch rein und alles, aber trotzdem habe ich den Eindruck, da wird zu lange mit einer Option gespielt, die ich als Leser NIE, wirklich NIE in Betracht gezogen habe. Für mich war vom ersten Moment an klar: Die kommt mit.

Melissas hysterisches Geschrei hallte durch die Röhre, während Arthur unbeholfen versuchte, sie zu beruhigen.
Das ist keine organische Action-Szene, sondern so eine konstruierte. Er ist so blöd, und der Schlüssel fällt ihm da rein. Meh. Einfacher Vorschlag: Gerade wenn er danach sucht, sieht er auf Melissas Melissachens und ihm entfleucht der Schlüssel. Oder so was. Also: Nicht einfach so „Er ist tollpatschig und nervös“, sondern es besser in die Handlung mit einbinden.

Arthur hatte in weiser Voraussicht seine Taschenlampe an der entsprechenden Stelle stehen gelassen.
Umsichtig ist er, nicht voraussichtig.

genau dort wo Du stehst!«
Dort,

Wenn er nicht fallen gelassen hätte,
Ihn

Keine Ahnung seit wann er weg ist.«
, seit wann

fand sich ein großer Raum in dessen Mitte ein Becken eingelassen war.
, in dessen

dass auch in den Kanälen fließt«,
Mit einem s das „das“

ob nicht noch andere Dinge aus Olivers besitz herumlägen,
Besitz; den Konjunktiv find ich störend

In blinder Wut schlug sie auf ihn ein und schrie ihren Schmerz hinaus. Sie verstand nicht, warum Arthur der Wahrheit nicht ins Auge sehen wollte. Es musste ihr bester Freund sein, der dort erfroren oder ertrunken im Becken lag. Als sie endlich von ihm abließ und schluchzend auf dem Boden kauerte, hockte sich Arthur zu Melissa und wollte den Arm um sie legen. Sie wehrte ab. Soll ihn doch der Teufel holen, so wie er sich an sie heran machte. Sie dachte an Oliver und an den Tag, als sie ihn kennen gelernt hatte. Ihre Stimmung hellte sich für einen Augenblick auf.
Dasselbe wie vorhin: Reflexionen stören in emotionalen Szenen. (und, mit Verlaub, ich glaube keine Sekunde, dass Oliver tot ist  )

der Beiden Personen
Beiden klein

Und wenn sie uns erwischen sind wir geliefert.«
Erwischen,

»Ach, leck mich doch mit Deiner scheiß Abwechslung, hilft mir lieber, die arme Sau da aus dem Becken zu holen!«
„Scheiß“ ist kein Adjektiv, das wäre beschissen, also: Scheiß-Abwechslung. „hilf“ statt „hilft“

»armes Ding, hättest mir gefallen können«,
Armes groß

jetzt bist du fällig«, zischte ein Anderer.
Dito

lautes knacken.
Knacken groß

das er erleichtert war
Dass

Olivers fesseln gelöst.
Ich erkenne das Muster, Substantive, die von der Form her Verben sein könnten, schreibst du bzw. dein Programm klein. Da noch mal drüber gehen.

dass sie nie wieder mit dem Lachen
mit ihm lachen

Nach der letzten Tür ist er dann gestürzt und hat sich anscheinend wehgetan, auf alle Fälle ist er immer langsamer geworden.
„wehgetan“ – die Dialoge klingen nicht echt, alles so lieb und kindgerecht irgendwie, so freundlich und glatt, spiegelt nicht die Situation wieder.

Möchte die die Wahrheit hören?«
ihr die

Hm, zum Ende hin, ist dir ein bisschen die Luft ausgegangen. Also diese Illusion dieses Plan dient dazu, Leute gefangenzuhalten. Aber warum erzählt man den Leuten dann nicht von diesem Plan? Warum sind in dieser Kanalisation, in die ja keiner kommen dürfte, Wachposten aufgestellt? Also … es war ja erstaunlich leicht für sie zu entkommen aus der Barrackenstadt. Dann dahinter sind aber Wächter? Und dann ist noch so eine Illusion aufgebaut, mit diesem alten Mann? Und in Wirklichkeit sind sie noch weiter auf der Erde und fabrizieren irgendetwas … wohl ziemlich Nutzloses? Wird mir alles nicht so ganz klar.

Die Geschichte hat noch einige deutliche Mängel. Die Figuren sind mir alle ein wenig zu bieder und brav, vor allem in den Dialogen zündet es nicht so ganz. Sie bleiben zu austauschbar und gesichtslos, die Dialoge sind stellenweise einfach … so hart es klingt, richtig mies.
Du bleibst oft auf bestimmten Punkten hängen, typische Spannungspunkte (der ist tot, die kommt nicht mit), aber leider sind diese Punkte so ausgelaugt, dass da nix mehr rauszuquetschen hin, gerade nicht in diesem … etwas „biederen“, soliden Stil.
Warum du zuerst eine Figur wie Melissa aufbaust, nur um sie dann auf halber Strecke abzusägen, wird mir nicht klar.
Die Geschichte fängt mit den vielen Fragen stark ab, lässt dann aber, sobald sie in die Kanalisation kommen, rapide nach. Die Actionszenen zünden nicht, der Grundplot ist spannend, wird aber – für meine Verhältnisse – nicht genügend ausgebaut. Und das Schlimmste: Der ganze Mittelteil hat keine Relevanz. Das Hinabsteigen in die Kanalisation, der Konflikt mit den Wächtern, das Herumirren in dem Komplex – das sind alles nur Spannungsmomente, die die Handlung kaum bis gar nicht voranbringen. Die ganze Figur der Melissa, die administrative Bestrafung dient nur als Katalysator, in die Kanalisation zu steigern und dann braucht es sie gar nicht mehr.
Also, nimm es mir nicht übel, aber ich glaube, um den Leser über so eine recht lange Strecke bei der Stange zu halten, fehlt es da noch an einigem. Auch an Handwerklichem.
Aber, ich hoffe auch, weil ich weiß, wie viel Mühe du dir gegeben hast, dass es andere anders sehen.

Gruß
Quinn

 

Hallo Schrei Bär,

diese Geschichte gefällt mir durchaus, aber sie ist wirklich sehr lang, und ich finde, man könnte an manchen Stellen durchaus etwas kürzen (das sehe ich an den Geschichten anderer immer so viel besser als an meinen eigenen :)). Der Abschnitt, in dem Oliver, Arthur und Melissa durch irgendwelche Gänge wandern, nach dem Schlüssel fischen, mit Wachleuten kämpfen etc. ist z.B. ziemlich langatmig erzählt.
Ab der Begegnung mit dem alten Mann hat die Geschichte mAn ein gutes Tempo, aber davor werden einige Sachen ausgewalzt, die eigentlich für den Fortgang der Story nicht von Bedeutung sind. Zum Beispiel die Sache mit den verschiedenen Farben und der Konkurrenz von "Gelben" und "Roten".
Was mir noch aufgefallen ist, war dass am Anfang Olivers Gefühle für Melissa nicht so richtig deutlich werden.

Kurz bevor Oliver seinen Arbeitsplatz erreicht hatte, überholte ihn Melissa auf einem Skateboard. Sie war vielleicht dreißig Jahre alt, genau wusste er das nicht.
»Hallo Oliver! Soll ich Dich mitnehmen?«, rief sie fröhlich.
»Lass gut sein,« schrie er. Die Rollbänder machten einen ungeheuren Lärm. »Ich bin doch schon da wo ich hingehöre.«
»Alles klar, ich muss mich beeilen.« Sie winkte ihm zu und verschwand im Gedränge.
Ganz von Sinnen ging er an seinen Platz. Melissas Augen hatten ihn wieder einmal verzaubert.

Also, ich meine, er begegnet der Frau ... und denkt darüber nach, dass er ihr genaues Alter nicht kennt. Dann lehnt er ab, sich von ihr mitnehmen zu lassen, und dann ist er plötzlich von ihren Augen verzaubert ... das kommt etwas plötzlich, denn davor erweckst du mehr den Eindruck, Melissa sei bloß eine flüchtige Bekannte. Ich würde gleich am Anfang klar machen, dass er in sie verschossen ist.

Ein paar kleine Tippfehler habe ich unterwegs noch gesehen, aber nichts Weltbewegendes und für so eine lange Geschichte auch sehr wenig, deshalb habe ich die nicht extra notiert.

Das Ende der Geschichte hat mir gut gefallen, auch wenn ich nicht so ganz verstehe, wer eigentlich Interesse daran hat, die Menschen in dieser Fabrik gefangen zu halten und sinnloses Zeug bauen zu lassen ...

Ein bisschen hat mich das an den Film "Die Insel" erinnert, wo Klone, die als Organersatzteillager für Reiche Leute missbraucht werden, in dem Glauben gelassen werden, dass sie die letzten Überlebenden einer globalen Katastrophe wären - die bauen da nämlich auch so Dinge, von denen keiner weiß, wozu sie gut sind und wie sie funktionieren, nur damit sie beschäftigt sind.

Grüße von Perdita

 

Hallo Quinn,

ganz lieben Dank für deine ausführliche Kritik!

Fast alle deine Änderungsvorschläge, die ich hier nicht explizit noch einmal zitiere, habe ich umgesetzt.

und ein Wächter stürzte aus den Höhen der Halle herab, bis er sich über Arthurs Maschine einpendelte
Scheint ja irgendwie so eine Art Maschine zu sein. Warum wird sie nicht beschrieben?
eigentlich hatte es mich die ganze Zeit schon gejuckt, das Ding näher zu beschreiben. Ich hatte es für das Ende der Geschichte vorgesehen, weil es darin eine Actionszene mit einer solchen Maschine geben sollte, habe das aber wieder verworfen.
ich habe jetzt eine Beschreibung eingefügt. Ich denke sie ist einigermaßen gelungen.

aber es war ihm egal. Man wird sicher wohl noch kümmern dürfen, dachte er, beugte sich zu ihm hinunter und erschrak. Es war Melissa. Hilflos mussten er und die umstehenden zusehen, wie sich die Gelbe die Seele aus dem Leib schrie.
»Vergiss es, die kann Dich sowieso nicht hören, die pfuschen in ihrem Gehirn herum«, sagte jemand.
»Kann schon sein, dass sie mich nicht hört, aber wenn doch?«
»Ach, Scheiß drauf, Du bist ein roter und sie ist eine Gelbe; hat genau die Richtigen erwischt.«
In Gedanken musste Oliver ihm Recht geben. Arthur war ein Gelber und es war mehr als gerecht, dass es jemanden von seiner Sorte erwischt hatte. Er hasste sich für diesen Gedanken. Melissa war alles für ihn.

Die Reflexion nimmt komplett die Dynamik aus der Situation. Es ist ein intuitives Verhalten. Jemand bricht zusammen – er rennt hin, und erkennt dann noch, dass es seine Angebetete ist. Da ist kein Platz für solche rationalen Reflexionen wie „Das ist egal“ und alles. Das ist Instinkt-Handeln. Unmittelbarer müsste das alles kommen.
An Stellen wie dieser erkenne ich dann immer, dass mir noch einiges an Handwerklichem fehlt.

Mit dem „ihn“ ist doch Oliver genannt, mit dem „ihm“ aber Arthur.
Lieber die Namen zu oft wiederholen als Unklarheiten aufkommen lassen. Wirklich, man kann die Namen fast nicht oft genug wiederholen. Das stört nicht. Weiß der Geier wieso.
Und ich dachte immer, die Namen zu oft zu verwenden. Ich weiß, hast du mir eigentlich schon einmal so gesagt. Ich werde es mir merken.

Die ganze Nummer mit „Kommt Melissa mit oder nicht?“ ist zu breit ausgewalzt, jeder weiß, dass sie mitkommen wird. Die Zweifel (Warum sagt sie immer, es sei verboten) in allen Ehren, das muss natürlich auch rein und alles, aber trotzdem habe ich den Eindruck, da wird zu lange mit einer Option gespielt, die ich als Leser NIE, wirklich NIE in Betracht gezogen habe. Für mich war vom ersten Moment an klar: Die kommt mit.
Die Geschichte enthält einige Szenen dieser Art, bei denen mir eigentlich selbst gar nicht so richtig klar war, was sich damit sagen wollte, es ging mir häufig einfach darum, Überraschungsmomente einzubauen. Ich habe mich vielleicht auch zu sehr treiben lassen und gar nicht richtig darüber nachgedacht, was sich der Leser jetzt schon ausmalen können wird und was nicht. Die Quintessenz könnte man doch eigentlich so zusammenfassen: kürzer, kürzer, kürzer.
Stimmts?

Er ist so blöd, und der Schlüssel fällt ihm da rein. Meh. Einfacher Vorschlag: Gerade wenn er danach sucht, sieht er auf Melissas Melissachens und ihm entfleucht der Schlüssel. Oder so was. Also: Nicht einfach so „Er ist tollpatschig und nervös“, sondern es besser in die Handlung mit einbinden.
damit habe ich hauptsächlich auf Hälfte meiner Geschichte ständig gekämpft. Es war alles nicht lebendig genug und ich hatte keine Ahnung, wie ich das in den Griff kriegen sollte. Das Problem passt auch genau in die gleiche Schublade, wie meine leblosen Figuren, die einfach total austauschbar geblieben sind. Die Ausarbeitung von Charakteren muss ich wirklich erlernen.

Dasselbe wie vorhin: Reflexionen stören in emotionalen Szenen. (und, mit Verlaub, ich glaube keine Sekunde, dass Oliver tot ist
das mit den Reflexionen habe ich verstanden und ich werde versuchen, das zukünftig zu beherzigen.
Ist das eigentlich eine unnötige Szene? Klar, ich kann das jetzt nicht einfach löschen, denn das gesamte Setting außen herum gehört ja dazu, nur frage ich mich, ob diese Vermutung, dass Oliver der Tote ist, einfach nicht funktionieren kann.

Nach der letzten Tür ist er dann gestürzt und hat sich anscheinend wehgetan, auf alle Fälle ist er immer langsamer geworden.
„wehgetan“ – die Dialoge klingen nicht echt, alles so lieb und kindgerecht irgendwie, so freundlich und glatt, spiegelt nicht die Situation wieder.
auch hier bin ich mir den gesamten Text über immer wieder selbst im Weg gestanden. Ich wollte meine drei Charaktere als friedfertig und harmlos beschreiben, damit die Actionszenen besser zur Geltung kommen, weil die drei dann gegen ihre Einstellung handeln mussten.
Den Wachleuten habe ich eine weit gröbere Sprache verpasst, wollte sie ihnen vorbehalten und habe mich dabei vieler Möglichkeiten beraubt, meine Hauptdarsteller zu charakterisieren. Das geht natürlich mit vielen Methoden, nicht nur mit Sprache allein. Das Hauptproblem meiner Geschichte.


Deine abschließenden Worte zu meiner Geschichte leuchten mir allesamt ein. Zum Beispiel die Frage, warum plötzlich in der Kanalisation Wachleute auftauchen. Sinn könnte es nur machen, gehörten die Wachleute zum Bedienungspersonal für den Raum mit dem Becken, aber dieses Problem ist mir noch nicht einmal aufgefallen.

Melissa habe ich dafür aufgebaut, um sie später dem Leser wegnehmen zu können, dann, wenn er sich darauf eingelassen hat, mit ihr und Oliver mitzufiebern, was aber auf Grund der blassen Charakterisierung und der beinahe vollkommen vernachlässigten Beschreibung der Beziehung zwischen den beiden natürlich ziemlich baden geht.

Der Mittelteil hat kaum Relevanz, das kann ich wirklich nachvollziehen. Ich hatte ja ab der Hälfte der Geschichte einen großen Hänger, hatte zwischenzeitlich zwei völlig andere Geschichten geschrieben und bin erst langsam wieder in Sternenfenster hinein gekommen. ich hatte zwar einige Idee, musste mich aber teilweise wirklich abmühen, dem ganzen einen sinnvollen Inhalt zu geben. Die zweite Hälfte der Geschichte war genaugenommen ein ziemlicher Kraftakt. Das Schreiben hat mir dennoch viel Spaß gemacht und ich bin wirklich froh darüber, bis zum Schluss durchgehalten zu haben. Ich hatte mir von vornherein nicht allzugroße Hoffnungen darüber gemacht, eine umwerfende Geschichte abzuliefern. Ich werde viel daraus lernen können und deine Meinung, natürlich auch die der anderen Leser, und Eindrücke haben an meinem Fortschritt mit Sicherheit einen großen Anteil.

Danke für deine Unterstützung.

Georg

 

Hallo Perdita!

auch dir vielen Dank für deine Kritik. Schön, dass dir die Geschichte an sich ganz gut gefallen hat.

...ich finde, man könnte an manchen Stellen durchaus etwas kürzen (das sehe ich an den Geschichten anderer immer so viel besser als an meinen eigenen :)). Der Abschnitt, in dem Oliver, Arthur und Melissa durch irgendwelche Gänge wandern, nach dem Schlüssel fischen, mit Wachleuten kämpfen etc. ist z.B. ziemlich langatmig erzählt.
da gebe ich dir völlig recht. Ich habe geschrieben und geschrieben, die Geschichte wurde länger und länger und ich habe viele Szenen einfach nicht abschließen können. Wahrscheinlich wollte ich zu viel.

Ab der Begegnung mit dem alten Mann hat die Geschichte mAn ein gutes Tempo, aber davor werden einige Sachen ausgewalzt, die eigentlich für den Fortgang der Story nicht von Bedeutung sind.
in meiner Antwort zu Quinns Kritik hatte ich ja von meinem Hänger berichtet. als ich das Szenario mit dem alten Mann geschrieben habe, war ich endlich wieder richtig im Schreibfluss. Der Lange hat er nicht angedauert, aber immerhin.

Was mir noch aufgefallen ist, war dass am Anfang Olivers Gefühle für Melissa nicht so richtig deutlich werden.

Also, ich meine, er begegnet der Frau ... und denkt darüber nach, dass er ihr genaues Alter nicht kennt. Dann lehnt er ab, sich von ihr mitnehmen zu lassen, und dann ist er plötzlich von ihren Augen verzaubert ... das kommt etwas plötzlich, denn davor erweckst du mehr den Eindruck, Melissa sei bloß eine flüchtige Bekannte. Ich würde gleich am Anfang klar machen, dass er in sie verschossen ist.

Dazu kann ich eigentlich gar nicht viel sagen, außer, dass du absolut Recht hast. Da habe ich noch einiges zu üben. Ich bin zu zaghaft herangegangen.

Das Ende der Geschichte hat mir gut gefallen,
Das freut mich. Ich habe an Pointe und Twists ziemlich Lange gefeilt.

auch wenn ich nicht so ganz verstehe, wer eigentlich Interesse daran hat, die Menschen in dieser Fabrik gefangen zu halten und sinnloses Zeug bauen zu lassen ...
Warum werden die Leute eigentlich unterdrückt? Sehr gute Frage. Wer sollte das wollen. Jetzt wo du es erwähnst, merke ich, dass ich mit meiner Überlegung, die Angabe von Gründen wäre nicht nötig, falsch liege.

Ein bisschen hat mich das an den Film "Die Insel" erinnert ... die bauen da nämlich auch so Dinge, von denen keiner weiß, wozu sie gut sind und wie sie funktionieren, nur damit sie beschäftigt sind.
Es könnte gut sein, dass ich mich von dem Film unbewusst habe inspirieren lassen. Ich glaube ich werde mir den Film noch einmal ansehen.

Tatsächlich geht es in meiner Geschichte ja auch darum, dass Leute etwas herstellen, von dem sie glauben, es wäre für das Überleben der Menschheit wahnsinnig wichtig, sie tatsächlich aber eigentlich nur beschäftigt werden sollen. Im Grunde wollte ich eine Parabel zur heutigen Arbeitswelt, zum Diktat der Industrie schreiben. Das ist mir zugegebenermaßen kam gelungen.

Herzlichen Dank für deine Reaktion.
Georg

 

Hi Schrei Bär!

Willkommen in der SF-Rubrik!
Deine Geschichte am Bildschirm zu lesen ist fast unmöglich, deshalb habe ich sie mir vorgestern ausgedruckt. Ich sehe gerade, dass Du danach noch etwas geändert hast, könnte also sein, dass ein paar Dinge nicht mehr aktuell sind, die folgen.
Also dann: Einige Fehler sind noch drin, besonders am Ende häufen sie sich. Du machst relativ oft Absätze, also Leerzeilen, auch innerhalb von Szenen. Warum? Ich finde, das unterbricht den Lesefluss. Üblich ist ein Absatz eigentlich, wenn ein zeitlicher oder räumlicher Sprung folgt; eventuell auch bei einer Rückblende.
Zur Perspektive: Es gibt drei Protagonisten, Du wechselst die Perspektive und lässt uns an den Gefühlen und Sichtweisen aller drei Personen teilhaben. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, ich bin aber der Meinung, die Geschichte ist nicht lang genug, um dies zu rechtfertigen, und eigentlich ist es auch nicht notwendig. Alles aus Olivers Sicht zu erzählen und später Arthurs bzw. Melissas Erlebnisse im Dialog nachzuholen wäre doch auch ok. Außerdem überlebt Oliver als einziger. :D
Zum Stil / Timing: Teilweise sehr gelungen, teilweise holprig.
Diese Szene passt z.B. vom Timing super, und man kann sie sich ohne große Beschreibung gut vorstellen:

»Was für ein Idiot!«
»Wie bist Du denn an den geraten?«, fragte Arthur.
»Man hat's eben nicht leicht«, seufzte Oliver.
Arthur klopfte auf den Tisch und ging.
Oft erzählst du, anstatt zu zeigen. Viele Dialoge könnten gekürzt werden. Gerade im Mittelteil spekulieren die Figuren, anstatt wirklich etwas zu tun. Einige Szenen bringen die Geschichte keinen Millimeter voran. Manche Formulierungen klingen wie Fremdkörper neben Story/Stimmung/Rest, z.B. "der feine Zwirn" oder das "Just...". Auch die Konflikte sind oft zu sprunghaft und dadurch leidet die Glaubwürdigkeit.
Zu Inhalt: Der Anfang beginnt vielversprechend, doch im Mittelteil erschlafft die Story. Das Herumirren durch die Gänge zieht sich ziemlich. Dann taucht der alte Mann auf, tischt den beiden Männern eine Story auf, die so überhaupt nicht zum Rest der Geschichte und auch zur Grundstimmung passt und irgendwie überflüssig ist.
Langsam erinnerte sich Oliver, woher er den Mann kannte. Der Kerl war ihm vor ein paar Tagen auf dem Flur der Krankenstation begegnet.
Das sollte der Leser auch mitbekommen.
Danach kommt eine ganz andere Lösung, die viel besser passt. Die solltest du besser ausarbeiten, wie z.B. auch das hier:
frei sein von dem künstlichen schlechten Gewissen, das ihr bei der repräsentativen Bestrafung eingeimpft worden war.
Das hätte Potential und wäre für den Leser viel interessanter zu erfahren.
Einige logische Dinge sind mir noch aufgefallen, die nicht so ganz stimmig sind. Als Arthur ganz am Anfang fehlt, wird das sofort entdeckt und bestraft. Als die drei abhauen, kümmert das scheinbar keinen, obwohl ihre Arbeitsstellen unbesetzt bleiben. Wieso? Warum werden Melissa und Arthur kurzerhand umgebracht, Oliver aber nicht? Was hat das alles mit dem Sternenfenster zu tun? Gibt es diese Aliens wirklich? Ich wurde nicht so ganz schlau aus dem Ganzen, sorry.
Aber: Der Grundgedanke ist gut, den könntest du aber viel besser ausarbeiten. Ich würde bei den Drogen einhaken, bei einer Perspektive bleiben und die Sternenfenster-Sache komplett streichen, dafür eventuell einen kleinen Einblick in die „reale Welt“ gewähren, als eine Art Schlussszene. Okay, richtig neu ist die Idee zwar nicht, aber etwas wirklich neues zu erfinden, ist auch verdammt schwer. Die Protagonisten könnten noch ein wenig interessanter bzw. einzigartiger sein.

So, jetzt noch ein paar konkrete Anmerkungen zum Text:

doch niemand hatte sich etwas zuschulde kommen lassen.
zu Schulden kommen lassen.
Man wird sicher wohl noch kümmern dürfen, dachte er,
Da stimmt was nicht. :)
Seine Peiniger schlug ihm mit der Faust ins Gesicht.
Das Wort „Peiniger“ kommt etwas früh, die Typen haben Arthur ja gerade mal geschubst und zu Boden geworfen.
Wortlos ging Melissa zurück an ihren Arbeitsplatz
ArbeitsplatzPUNKT
er hatte den Mann schon einmal gesehen, aber sein Name wollte ihn nicht einfallen.
wollte ihm nicht
Reiss dich zusammen
Reiß
Nachdem sie das ausgebrochen hatte, liefen ihr Tränen über das Gesicht.
ausgesprochen?
Melissa, Oliver und Arthur saßen gemeinsam in der Kantine. Sie hatte sich von der repräsentativen Bestrafung erholt. Die Arztmaschine hatte an Arthur ganze Arbeit geleistet. Nichts erinnerte mehr an die Schlägerei.
Kürzen, z.B. so: Melissa, Oliver und Arthur saßen in der Kantine. Sie hatte sich von der repräsentativen Bestrafung erholt. Die Arztmaschine hatte ganze Arbeit geleistet, nichts erinnerte mehr an die Schlägerei.
und aus den wenigsten Parzellen drang noch Licht
wenigen
»Ist das Wasser?«, fragte Melissa. »Das rauscht ganz schön durch. Beachtliche Strömung.«
Arthur schulterte seinen Rucksack und folgte dem Kanal zielstrebig.
»Keine Ahnung, ob das Wasser ist. Los, weiter«.
»Kann ich mir nicht recht vorstellen, besonders wenn man bedenkt, dass Wasser so knapp ist«, beantwortete Oliver Melissas frage. Dass der Kerl immer so einen Stress machen musste, dachte Oliver. »Nur mit der Ruhe, Kumpel, man wird sich doch noch orientieren dürfen.«
»Hier gibt es nicht viel zu orientieren. Um die Ecke ist die Tür, danach betreten wir unbekanntes Terrain.«
»Alsdann«, sagte Melissa und Oliver freute sich darüber, dass ihre Ressentiments offenbar verflogen waren.
Wozu die ganzen Überlegungen, die zu nichts führen? Es sind recht viele Wiederholungen drin.
Ein deutlich hörbares Summen gesellte sich zu dem anderen Geräuschen, bevor
zu den anderen
und Melissa schöpfte Hoffnung, dass sie und Arthur ihnen tatsächlich entwischen können würden.
Das liest sich nicht schön.
Melissa wischte ihre Tränen ab und streckte eine Hand nach ihm aus.
Melissa weint zu oft, als dass es den Leser ehrlich berührte.
»Oliver, wir sollten von hier verschwinden, wer weiß, ob die Verstärkung gerufen haben.«
Angesichts der lebensbedrohlichen Situation, sollten sie dann nicht verschwinden müssen?
auch das unaufhörliche Brummen, das die ganze Zeit über allem gelegen hatte, konnte man nicht vernehmen.
Moment mal, seitenlang hat es nicht gebrummt. :D Das muss im Text früher eingebaut werden.
»Ich habe versucht Euch zu wecken, aber da war nichts zu machen. Ihr habt überhaupt nichts mitbekommen.«
Das genügt nicht als Erklärung, waren sie betäubt?
ohne Waffe war er eben auch nur noch ein Niemand, ist
Füllwörter raus.
Neugier nahm Besitz von Oliver. Er ging um den Apparat herum und spielte mit dem Effekt, malte verschiedene Muster und freute sich wie ein kleines Kind.
Warum schämt sich Oliver anschließend? Was ist so schlimm daran?
»Ach du Scheisse!«
Scheiße

So, ich hoffe, dass ich Dir helfen konnte :shy: und nicht zu schlimm "gewütet" habe.

Beste Grüße
Plasma

 

Hallo Plasma!

Willkommen in der SF-Rubrik!
Dankeschön! Das ist meine Lieblingsrubrik, obwohl leider nicht so viel passiert wie in anderen Rubriken.

Du machst relativ oft Absätze, also Leerzeilen, auch innerhalb von Szenen./QUOTE]
Ich wollte damit eigentlich kleine Pausen ausdrücken.

Zur Perspektive: Es gibt drei Protagonisten, Du wechselst die Perspektive und lässt uns an den Gefühlen und Sichtweisen aller drei Personen teilhaben. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, ich bin aber der Meinung, die Geschichte ist nicht lang genug, um dies zu rechtfertigen, und eigentlich ist es auch nicht notwendig. Alles aus Olivers Sicht zu erzählen und später Arthurs bzw. Melissas Erlebnisse im Dialog nachzuholen wäre doch auch ok.
nachdem die Protagonisten nach und nach sterben, war für mich ganz klar, die Perspektive wechseln zu müssen. Oliver ist die Hauptperson, deshalb ist die Geschichte anfangs aus seiner Sicht geschrieben. Nachdem Oliver plötzlich weg ist, muss natürlich aus Sicht eines anderen geschrieben werden. Melissa ist die zweitwichtigste Person. Ich habe deshalb aus ihrer Sicht weitergeschrieben. Dass ich aber aus Arthurs Perspektive geschrieben hätte, ist mir nicht aufgefallen.

Oft erzählst du, anstatt zu zeigen.
das habe ich mir immer wieder vor Augen geführt und zu vermeiden versucht, ist mir aber nicht immer geglückt. Eine Sache unter vielen, die ich noch zu lernen habe, aber ich arbeite daran.

Viele Dialoge könnten gekürzt werden.
das habe ich mir schon gedacht, aber so vieles erschien mir notwendig. Natürlich ist es auch die Aufgabe eines Autors, zu komprimieren. Ich habe beim Schreiben einen Hang zur Geschwätzigkeit, ganz im Gegensatz zu meiner sonst eher schweigsamen Art. Komische eigentlich.

Gerade im Mittelteil spekulieren die Figuren, anstatt wirklich etwas zu tun./QUOTE]
Ich steckte während des Schreibens in einem Dilemma, nämlich, wie ich die vielen meiner Ansicht nach notwendigen Dialoge meiner Figuren mit ihren Gedanken und ihren Aktionen, auflockern kann.

Einige Szenen bringen die Geschichte keinen Millimeter voran.
Mir war einfach nicht klar, dass Szenen immer ineinander greifen sollten. Für mich war immer klar, Geschichten als Sammlung von Teil-Abenteuern zu sehen. Dem ist natürlich nicht so, aber mir ist das jetzt, nach diesen Kritiken erst richtig bewusst geworden. Es braucht einen triftigen Grund, warum in den Gängen herum geirrt wird, zum Beispiel hätten die drei dem Kerl, den Oliver entdeckt hatte, nachstellen müssen, dann wäre das schon weitaus plausibler. Ich finde es in meiner Geschichte zwar durchaus nachvollziehbar, aber es müsste alles etwas knackiger sein, die Gründe müssten deutlicher werden, es dürfen keine unabhängigen Szenen sein, sondern ein Zusammenhängendes ganzes. Das habe ich verstanden.

Dann taucht der alte Mann auf, tischt den beiden Männern eine Story auf, die so überhaupt nicht zum Rest der Geschichte und auch zur Grundstimmung passt und irgendwie überflüssig ist.
dem kann ich leider überhaupt nicht zustimmen, denn das ist einer der wichtigsten Punkte der Geschichte, dass den Leuten Märchen erzählt werden, um sie unter Kontrolle halten zu können. Natürlich was die Geschichte nicht wirklich zum Rest, aber darum geht es doch, es soll dermaßen abgedreht sein, der Geschichte soll dermaßen unglaublich sein, dass die Arbeiter sie nur noch glauben können, dafür das Theater mit der Weltkugel. Deshalb habe ich auch Hinweise eingebaut, zum Beispiel die Demontage-Halle, die in den Weltraum ragen müsste usw.
die Leute werden nach Strich und Faden belogen, werden gewaltsam unterdrückt, gegeneinander ausgespielt (administrative Bestrafung) und so weiter, und am Ende findet sich die Wahrheit. Das ist die Geschichte.

Langsam erinnerte sich Oliver, woher er den Mann kannte. Der Kerl war ihm vor ein paar Tagen auf dem Flur der Krankenstation begegnet.
Das sollte der Leser auch mitbekommen.
Danach kommt eine ganz andere Lösung, die viel besser passt. Die solltest du besser ausarbeiten,
An dieser Stelle habe ich Hinweise aus Kritiken zu meinen anderen Geschichten beherzigt: dem Leser etwas zutrauen.
Arthur lag in der Krankenstation, weil er verprügelt worden war. Bei der von dir angemerkten Stelle habe ich vorausgesetzt, dass sich der Leser schon denken können wird, dass auch Oliver Arthur besucht hat. Immerhin hat der Mann im Nadelstreifen Arthur ebenfalls besucht.

Als Arthur ganz am Anfang fehlt, wird das sofort entdeckt und bestraft. Als die drei abhauen, kümmert das scheinbar keinen, obwohl ihre Arbeitsstellen unbesetzt bleiben. Wieso?
Bei der Stelle mit den Fahrrädern habe ich angedeutet, dass in der Fabrik in Schichten gearbeitet wird. Die drei agieren also außerhalb ihrer Schicht, weshalb sie auch nicht fehlen. Allerdings haben sie außerhalb ihrer Schicht in der Fabrik auch nichts verloren, darum ihre Vorsicht.

Warum werden Melissa und Arthur kurzerhand umgebracht, Oliver aber nicht?
Weil am Ende der Geschichte einer von den dreien die Wahrheit herausfinden muss und ein offener Schluss entstehen soll.

Was hat das alles mit dem Sternenfenster zu tun? Gibt es diese Aliens wirklich?
das Sternenfenster ist der Raum mit der Weltkugel, die den Menschen, die sich auf die Entdeckungsreise machen, vorgaukeln soll, dass sie sich im Weltraum befinden. Der Gedanke an eine Flucht kommt gar nicht erst auf, denn wo will man schon hin, wenn man sich auf einem Raumschiff befindet?
Spätestens beim letzten Satz sollte jeder erkennen, dass die Außerirdischen nicht existieren.

Ich würde bei den Drogen einhaken
Welche Drogen?
Beim Schreiben habe ich keine Drogen konsumiert :D

die Sternenfenster-Sache komplett streichen
Kommt überhaupt nicht in Frage, das ist die Geschichte, das ist ein extrem wichtiges Bestandteil! ;)

einen kleinen Einblick in die „reale Welt“ gewähren, als eine Art Schlussszene.
was Oliver hinter der letzten Tür entdeckt, sollte ein einladender, Freiheit versprechender Ort sein. Ich wollte bewusst offen lassen, ob er sich draußen weiter umgeschaut, oder ob er sich auf den Weg macht, seine Kollegen darüber zu berichten. Vielleicht könnte ich in der Ferne noch ein paar Häuser zeigen, aber mehr geht eigentlich nicht.

Angesichts der lebensbedrohlichen Situation, sollten sie dann nicht verschwinden müssen?
da habe ich mich in einem Problembereich geritten. Die beiden Wachleute in dem Raum mit dem Becken sind das Personal für diesen Raum. Im eigentlichen Sinne keine Wachleute, da habe ich aber schlecht gearbeitet, denn erstens habe ich sie fälschlicherweise immer Wachleute genannt und zweitens hätte ich das deutlicher machen müssen. Letzten Endes sind es Wachleute, zumindest verhalten sie sich entsprechend. Ein Schwachpunkt, stimme ich zu.

So, ich hoffe, dass ich Dir helfen konnte und nicht zu schlimm "gewütet" habe.
Keine Sorge, ich hatte keine Lobeshymnen erwartet, nicht einmal mit verhaltenem Lob habe ich gerechnet, nein, mir war klar, dass das keine Jahrhundertgeschichte werden konnte. Ich hatte mir die gesetzt, das habe ich verwirklicht und meine Hauptanliegen dabei war, viel zu lernen. Dank eurer ausführlichen Kritiken habe ich extrem viel daraus gelernt. Mission erfüllt. Natürlich hätte ich mich darüber gefreut, wäre das ein Glücktreffer geworden, aber ich bin auch realistisch. Nicht unbedingt in meine Geschichten :D

Ganz herzlichen Dank also auch dir für deine kostbare Zeit. Die angemerkten Fehler werde ich natürlich verbessern.

Herzliche Grüße,
Georg

 

Hey Georg!

Es freut mich richtig, dass du so toll auf Kritik reagierst. Leider gibt es genug Leute, die nicht einmal antworten, aber das ist ja ein anderes Thema.

Kommt überhaupt nicht in Frage, das ist die Geschichte, das ist ein extrem wichtiges Bestandteil!
Ein wichtiger Aspekt bei der Überarbeitung ist immer, sich als Autor zwar etwas sagen zu lassen, aber nichts zu ändern, das man nicht selbst will oder wo man nicht dahintersteht. Jeder Leser sieht die Geschichte auf seine eigene Weise, und es ist die Arbeit des Autors, seine eigene Geschichte zu schreiben. Lass dich also nicht von dem Weg abbringen, den du für richtig hältst. :)

Lieben Gruß
Plasma

 

Hallo Schrei Bär!

Eine lange Geschichte und ich habe sie nur angelesen. Ich bin bis zu der Stelle gekommen, wo er den Schlüssel ins Wasser fallen ließ, und dazu kann ich nur sagen: Sind die blöd! Und wenn ich bei Protagonisten solch einen Eindruck kriege, lese ich nicht gerne weiter.

Aber da ich soweit gekommen bin, kann ich dir auch noch mitteilen, was mir sonst noch aufgefallen ist.

Erstmal: Was hat es mit den Gelben, Roten und Grünen auf sich? Hat das überhaupt irgendeine Relevanz für die Geschichte? Wenn nicht, kannst du das auch weglassen.

Übrigens, und mit dem späteren Abenteuer in diesen geheimen Gängen erinnert mich das sehr an einen alten SF-Film, Flucht ins 23. Jahrhundert. Da gab es auch Rote, Gelbe und Grüne - das war eine Alterseinteilung, und alle mussten sich runderneuern lassen (sprich sterben), wenn sie dreißig wurden. Zwei sind dann abgehauen und durch die Unterwelt (da gab es unter anderem auch Wasserbecken) an die Erdoberfläche gelangt. Dort trafen sie einen alten Mann ... und befreiten schließlich alle.

Zurück zu deinem Text. Eine weitere Unstimmigkeit, die mir aufgefallen ist: Die Tür hat drei Schlösser. Man braucht also drei Schlüssel. Warum will Oliver dann alleine gehen, oder danach zu zweit mit Arthur, wenn doch jeder nur einen Schlüssel hat?

Naja, das war das, was mir aufgefallen ist und abgesehen davon fand ich den Anfang des Textes recht spannend.

Grüße
Chris

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo!

Herzlichen Dank für deine Rückmeldung. Ich gehe direkt in die vollen:

Ich bin bis zu der Stelle gekommen, wo er den Schlüssel ins Wasser fallen ließ, und dazu kann ich nur sagen: Sind die blöd! Und wenn ich bei Protagonisten solch einen Eindruck kriege, lese ich nicht gerne weiter.
Als erstes fällt ihm der Schlüssel mir nichts dir nichts in den Kanal, das ist wirklich dämlich. Ich hielt das eigentlich für unproblematisch, immerhin brauchte ich ja einen Aufhänger für das ganze Theater mit dem Kanal, aber anscheinend ist das keine gute Idee gewesen.
Hätte das denn besser funktioniert, wenn ich Oliver insgesamt als etwas ungeschickt charakterisiert hätte, oder wäre es dann noch immer ein Ausstiegspunkt?
Quinn hatte ebenfalls darauf hingewiesen und den Vorschlag gemacht, ich sollte Oliver wenigstens abgelenkt sein lassen, sodass er den Schlüssel fallen lässt. Das spielt natürlich sofort wieder in den Bereich Charakterisierung der Figuren.

Was hat es mit den Gelben, Roten und Grünen auf sich? Hat das überhaupt irgendeine Relevanz für die Geschichte? Wenn nicht, kannst du das auch weglassen.
es hat lediglich am Anfang Relevanz, denn dort kommt es ja zu einer Auseinandersetzung zwischen den Gruppen, zum einen in der Kantine, zum anderen in der Fabrik (Schlägerei). Meine Grundidee für die Geschichte befasste sich viel stärker mit dem Problem der verschiedenen Gruppen, als des letzten Endes zum tragen kam. Die Arbeiter sollten sich ganz auf ihre Aufgaben konzentrieren, die in jeweilige Farben aufgeteilt hätten sein sollen, denn ich wollte damit einen Konflikt erzeugen, der die ganze Geschichte über im Hintergrund mitschwingt. Nämlich, dass jede Gruppe (Farbe) glaubt, ihre eigene Aufgabe sei die allerwichtigste. Deshalb auch die Schlüssel, die für jede Farbe anders waren, wodurch die Gruppe der drei schwer daran zuarbeiten die hatte, wirklich gemeinsam zu handeln.
Ich wollte dabei zu viel, das habe ich erkannt.

Übrigens, und mit dem späteren Abenteuer in diesen geheimen Gängen erinnert mich das sehr an einen alten SF-Film, Flucht ins 23. Jahrhundert. Da gab es auch Rote, Gelbe und Grüne - das war eine Alterseinteilung, und alle mussten sich runderneuern lassen (sprich sterben), wenn sie dreißig wurden. Zwei sind dann abgehauen und durch die Unterwelt (da gab es unter anderem auch Wasserbecken) an die Erdoberfläche gelangt. Dort trafen sie einen alten Mann ... und befreiten schließlich alle.
Jetzt, wo du es sagst, fällt es mir auch auf. Ich habe gerade gestern, als ich Besser geht's nicht angesehen habe, ziemlich über die Tatsache gestaunt, dass ich eine Szene meiner Geschichte »Fugentango« offenbar an eine Situation aus dem Film angelehnt habe, ohne mit dessen bewusst zu sein. Geht das nur mir so, oder ist das normal?

Zurück zu deinem Text. Eine weitere Unstimmigkeit, die mir aufgefallen ist: Die Tür hat drei Schlösser. Man braucht also drei Schlüssel. Warum will Oliver dann alleine gehen, oder danach zu zweit mit Arthur, wenn doch jeder nur einen Schlüssel hat?
Guter Einwand, insbesondere in Anbetracht Olivers Vorhabens, auf jeden Fall in die Fabrik zu gehen, auch wenn die anderen beiden nicht mitkämen. Ist mir gar nicht aufgefallen.

abgesehen davon fand ich den Anfang des Textes recht spannend.
das freut mich.

Danke für deine Mühe!
Georg

 

Hätte das denn besser funktioniert, wenn ich Oliver insgesamt als etwas ungeschickt charakterisiert hätte, oder wäre es dann noch immer ein Ausstiegspunkt?
Quinn hatte ebenfalls darauf hingewiesen und den Vorschlag gemacht, ich sollte Oliver wenigstens abgelenkt sein lassen, sodass er den Schlüssel fallen lässt. Das spielt natürlich sofort wieder in den Bereich Charakterisierung der Figuren.
Hey Georg,
nur kurz zu diesem Punkt: Ich habe gesagt: Er soll von Melissa abgelenkt werden - von irgendetwas besonders "Attraktivem", was sie tut.
Denn das hast du schon im Text gesät: Oliver ist verliebt in sie. Und jeder Leser wird nachvollziehen können, wenn man den, in dem man verliebt ist, in bestimmten Momenten einfach "anschmachtet".
Stell es dir so vor: Oliver hockt da grade und in dem Moment ... was weiß ich, streicht sich Melissa gerade das Haar zurück oder streckt sich oder bückt sich, oder weiß der Geier. Und Oliver klappt die Kinnlade runter und der Schlüssel fliegt ins Wasser.
Es ist nicht nur so, dass das weniger zufällig (oder dümmlich) wirken würde, sondern du greifst damit ein zentrales Motiv der bisherigen Handlung wieder auf.

Gruß
Quinn

 

Hallo Quinn,

das habe ich jetzt ein wenig verkürzt ausgedrückt gehabt. Ich meinte natürlich nicht irgend eine beliebige Ablenkung, sondern eine die von Melissa verursacht wird.
Langsam habe ich wirklich das Gefühl, dahinter zu steigen. Gefällt mir!

Georg

 

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