- Anmerkungen zum Text
Dieser Text ist als Teil einer möglichen Erzählreihe konzipiert, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit dem selben Thema beschäftigen und zahlreiche erzählerische Möglichkeiten bieten.
Sterne verschwinden nicht einfach so
Am 21. Mai begann die Dunkelheit.
Ich saß in dem Zug, der mich zurück nach Bremen bringen sollte und ärgerte mich über die schlechte Netzabdeckung in Ostfriesland. Das Laden einer Seite auf meinem Handy dauerte Minuten, falls es überhaupt gelang. Ich verbrachte also viel Zeit damit, aus dem Fenster des Regionalexpresses zu schauen und die vorbeiziehende Landschaft zu begutachten. Das flache Land mit seinen endlosen Feldern an diesem regnerischen Tag erzeugte in mir ein angenehmes Gefühl der Traurigkeit, welches mich von der Langeweile ablenkte.
Ich schaute auf mein Handy, das mir nun die Nachrichtenseite anzeigte, die so endlos lange geladen hatte. Wie die Landschaft am Fenster rauschten auch die belanglosen Meldungen auf dem Bildschirm an meinen Augen vorbei. Tote Prominente, von denen ich noch nie etwas gehört hatte, korrupte Politiker, wütende Bürger, die gegen Stromtrassen auf die Barrikaden gingen und eine tote Katze. Die Meldungen, die mich interessierten an diesem Tag, hatte ich bereits vor meiner Reise konsumiert, Überraschungen blieben mir somit erspart. Ich tippte die Adresse eines anderen Nachrichtenportals in die Zeile ein und wartete erneut auf die unsichtbare Strahlung, die mein Handy für mich in lesbare Häppchen verwandeln würde. Über die Lautsprecher im Zug wurde der nächste Halt angesagt. Draußen kündigte sich eben jenes Dorf durch die steigende Frequenz von Bauernhöfen an. Als der Zug hielt schaute ich wieder auf mein Handy, denn an den Bahnhöfen war das Netz etwas besser. Was ich las, waren die selben Nachrichten verpackt in anderen Überschriften. Nur etwas reißerischer, denn auf dieser Internetseite war die Zielgruppe anders definiert. Im Süden regnet es stark, Überschriften wie "Jetzt droht das Jahrhunderthochwasser" werden in den Raum gestellt und ich wische mit dem Finger weiter. Eine Überschrift lässt mich innehalten: "Astronomen rätseln über verschwundenen Stern". Aufmerksam schaue ich mir den Eintrag an und achte darauf, nicht auf einen externen Link zu klicken, auch nach dem Wort "Anzeige" halte ich Ausschau um nicht in eine Falle gelockt zu werden. Nein, dieser Bericht kommt aus der Rubrik "Wissen", also rufe ich den Artikel auf mit der Erwartungshaltung, ihn innerlich ohne große Mühen zerpflücken zu können. Zwar studierte ich nie Astronomie, noch irgendetwas Vergleichbares, doch sind solche schlecht recherchierten oder bewusst irreführenden Artikel auch mit etwas fundiertem Halbwissen gut zu entlarven. Ich lese mir den Artikel aufmerksam durch, er ist ausgesprochen kurz und liefert daher nur wenig inhaltliche Tiefe. Diverse Astronomen aus diversen Ländern behaupten, ein Stern, der stets mit einfachen Teleskopen zu sehen gewesen war, sei in der vergangen Nacht nicht aufzuspüren gewesen, obwohl beste Bedingungen geherrscht hätten. Dies sei in höchstem Maße ungewöhnlich, denn durch die bloße Größe des Sternes, der sich in etwa 680 Lichtjahren Entfernung befände, wäre nur ein riesiges Objekt in der Lage, das Licht zu verdecken. Laut eines indischen Wissenschaftlers sei es denkbar, dass ein schwarzes Loch, welches irgendwo zwischen Erde und des verschwundenen Sternes vorbeizieht, eine mögliche Erklärung. Ich dachte einige Zeit nach, kam für mich aber zu dem Schluss, dass ein Stern, der eine Nacht nicht zu sehen war, wohl keine besondere Meldung darstellte und meines Wissens nach waren schwarze Löcher noch nie so nah in der kosmischen Nachbarschaft beobachtet, oder auch nur vermutet worden.
Der Zug rollte nun wieder an größeren Orten, gar Städten vorbei, dennoch reichte das Netz nur in der Nähe der Bahnhöfe aus. Ich steckte das Handy ein und schaute die restliche Fahrt aus dem Fenster, träumte vor mich hin und wartete auf mein Ziel.
Der nächste Tag, es war der 22. Mai, präsentierte sich mit kaltem Wind und feinstem Sprühregen – Wetter, welches Bremens hässlichste Eigenschaft mit Nachdruck untermalte: grauer Beton. Rund um den Bahnhof waren die Hochstraße, die Bausünden der sechziger und siebziger Jahre und Schmutz so aufdringlich unästhetisch, dass es beinahe wieder in Charme mündete. Ich überredete mich nach dem Frühstück zu einem Spaziergang im Bürgerpark, der gar nicht weit von meiner Wohnung entfernt war und so schlimm dieses Wetter die Stadt traf, umso besser stand es dem Bürgerpark mit seinen Wiesen und Wäldern und Gewässern,den kleinen Bächen, die sich wie Adern durch die gesamte Anlage zogen. Ich genoss die feinen Tröpfchen auf der Haut und die Tatsache, dass diese ausreichten, um die meisten Menschen von einem Spaziergang fernzuhalten. So kam das angenehme Gefühl in mir auf, in der Natur alleine zu sein. Hin und wieder nahm ich mein Handy zur Hand, schrieb meiner Freundin eine Nachricht und schaute, was die Nachrichten hergaben. Natürlich hatte ich bereits nach dem Aufstehen mich zur Lage in der Welt informiert und konnte mich deshalb recht oberflächlich der Suche nach Schlagzeilen widmen – bis ich vereinnahmt wurde von einer Fortsetzung der Geschichte zum verschwundenen Stern. Ich las von mindestens drei weiteren Sternen, die augenscheinlich ohne jeden Grund nicht mehr zu sehen waren. Auch einige Wissenschaftler der führenden Raumfahrtorganisationen hätten sich bereits geäußert.
Ein Mitarbeiter der NASA erklärte in dem Artikel: "Die Sterne seien weder im sichtbaren Spektrum, noch im lang oder kurzwelligen Lichtspektrum aufzuspüren. Es scheint, als seien sie materiell verschwunden...". Einer der Sterne hätte die 1300-fache Sonnenmasse und der Abstand zwischen den betroffenen Sternen schließe jeglichen kausalen Zusammenhang aus. Weiterhin gab die NASA bekannt, das Phänomen nun intensiv zu untersuchen und sich an keinen Spekulationen beteiligen zu wollen.
Sterne verschwanden. Objekte, deren Größe die von Planeten wie der Erde um das zig tausendfache überstiegen. Ich steckte mein Handy in die Hosentasche und versuchte, meiner Vorstellungskraft eine sinnvolle Erklärung abzugewinnen, gab jedoch nach kurzer Zeit auf und rationalisierte das Problem herunter. Unerklärliche Phänomene blieben nur so lange spannend, wie sie unerklärt blieben. Schon als Kind begeisterte ich mich für UFO-Sichtungen, Spukerscheinungen und Lichtphänomene. Als ich älter wurde und mir die wissenschaftlichen Erklärungen zu den Gruselgeschichten unter die Nase fielen und ich erkannte, dass viele dieser fantastischen Geschichten von zwielichtigen Personen verbreitet wurden, verlor ich mehr und mehr die Faszination für derlei Spinnereien, während meine Verehrung für die Wissenschaft wuchs. Insgeheim wünschte ich mir eine sensationelle, die Vorstellungskraft sprengende Erklärung für das Verschwinden der Sterne, erwartete jedoch die nüchterne Analyse mit Belegen und Folgerungen, die meiner Fantasie den Atem rauben würden. Fast schon ungeduldig sollte ich in den nächsten Tagen auf diese Erklärung warten, denn immer mehr Sterne wurden verlustig gemeldet. Mal waren sie in einer Entfernung von 75.000 Lichtjahren zur Erde, dann wieder in kosmischer Nachbarschaft von wenigen hundert Lichtjahren und es wurden jede Nacht mehr. Die Teleskope der Welt verloren jeglichen Sichtkontakt zu den gigantischen Feuerbällen, die das Universum erhellten. Da das Leben eines Sternes häufig in einer gewaltigen Explosion endete und diese sich optisch bedeutend bemerkbar machte, waren alle denkenden und forschenden Menschen ratlos.
Ab einem gewissen Punkt wurde aus dem steigenden Interesse der Öffentlichkeit Angst. Der jüngste Tag wurde in den Medien heraufbeschworen und bald schien der nahende Weltuntergang wissenschaftlich belegt. Sterne verschwanden. Sterne wie unsere Sonne und noch viele Größere. Scheinbar willkürlich wurde ihr Licht, welches Leben spendete, gelöscht. Was passierte mit den Planeten, die diese Sonnen umkreisten? Gab es Leben auf ihnen? Wann geht uns das Licht aus?
Große Phänomene konnten die Wissenschaft für Jahrhunderte beschäftigen, ohne dass es eine befriedigende Antwort gab, nun aber schien die Zeit zu entrinnen. Innerhalb von Wochen wurde das Universum um uns immer dunkler und lediglich eine Sache schien sicher: Nur in der Milchstraße, die Galaxie, die uns beherbergte, verschwanden Sterne. Die anderen Galaxien, Abermillionen Lichtjahre entfernt, schienen unbeeindruckt vom Lichterschwund.
Gotteshäuser aller Religionen empfingen die Massen für die letzten Gebete. Hochrechnungen ergaben, dass spätestens am Anfang des nächsten Jahres der letzte Stern der Milchstraße erloschen sei. Basierend auf der steigenden Frequenz des Verschwindens. Da die Sterne jedoch in einer rein zufälligen Reihenfolge ohne erkennbares Muster verschwanden, konnte unsere Sonne jeden Moment erloschen sein.
Es war die Nacht auf den 3. Januar und ich sitze mit meiner Freundin auf dem Balkon und schaute über die Dächer Bremens. Die öffentliche Ordnung war nur in wenigen Teilen der Erde zusammengebrochen. Alle versuche zwielichtiger Nachrichtenportale, den globalen Bürgerkrieg auszurufen, blieben erfolglos. Vielmehr hatten die meisten Menschen versucht, das Beste aus ihrem Leben zu machen und die vermeintlich restlichen Tage in vertrauter Umgebung mit ihren Liebsten zu verbringen. Da jedoch kaum mehr jemand einer geregelten Arbeit nachging, litt die Versorgung auch in Deutschland massiv. Vor einem guten halben Jahr hätten wir bei einem Stromausfall einen beeindruckenden Nachthimmel mit zahllosen Sternen bestaunen dürfen. Nun saßen wir in der Dunkelheit des Kosmos, der uns uns umgibt und neben den wenigen Sternen, die noch leuchteten, nur der helle Mond, der uns versicherte, dass unsere Sonne noch schien.