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Sterben in der Ewigen Stadt
„Oh mein Gott!", hauchte der Polizist, als man die Türe des öffentlichen Abortes aufgebrochen hatte. Sein Kollege erbrach sich klatschend auf den Boden. Die Feuerwehrmänner hielten sich Tücher vor die Nasen, nachdem sie mit Brecheisen die Türe der Klozelle aufgebrochen hatten. Ein Bahnhofswächter hatte die Polizei informiert, da sich mehre Menschen über abartigen Gestank auf der Damentoilette beschwert hatten.
Drei Tage hatte Monika Voitek tot in der engen Scheußlichkeit im Bahnhof Tiburtina gelegen. Im Gestank von Urin, Kot und Chlor hatte sie ihre letzten Atemzüge ausgehaucht. Abgemagert lag sie in schmutziger Kleidung am Boden. Ein Löffel, eine Spritze, ein Feuerzeug, ein Fläschchen waren die letzten Gegenstände, die Monika verwendet hatte.
Max, ihr Freund, war schon längere Zeit verschwunden. Seinetwegen war Monika in die Ewige Stadt gekommen. Besseren Stoff gebe es hier, billigere Ware, meinte er. So war sie ihm, teils aus Zuneigung, teils aus Gewohnheit an sein Bei-ihr-Sein , hierher gefolgt. Im sechsundzwanzigsten Lebensjahre hatte sie ihren letzten, einsamen Rausch, der sie auf sonderbar leichten Wolken in das Reich der Unterwelt getragen hatte.
Max war die Idee ganz plötzlich eingefallen. Jemand hätte ihm erzählt, dass man leichter an das Gift herankäme, dass es billiger wäre, man sich leichter durchschlagen könne, dort in Rom. Eine Adresse hatte er auch erhalten. Er brauche nur zu sagen, er käme von Hans. Am nächsten Morgen waren sie losgefahren. Teils per Anhalter, teils mit dem Zug, wenn sie genug Geld erbettelt oder geklaut hatten, sodass nach dem Erwerb des Fluchtmittels in eine andere Welt noch etwas übrig geblieben war.
Zwölf Wiener teilten sich das heruntergekommene Obdach eines Abbruchhauses in einem Außenbezirk, welches die Stadt in ihrer ewigen Gleichgültigkeit vergessen hatte. Monika und Max verkauften ihre ausgemergelten Körper des Nachts in den Ruinen der Thermen des Diokletian oder im Hauptbahnhof Termini. Das Buhlen war unbarmherzig, es kam oft zu Streit. Zu viele hatten für ihre Abhängigkeit aufzukommen. Meistens sahen die Carabinieri oder Polizisten einfach weg, wenn gehandelt wurde. Viel tun konnten sie nicht, wegen der Gesetze, wegen des überwältigenden Ausmaßes der aus Abhängigkeit und Geldgier bestehenden Nebenwelt, die vom Rest der Stadt kaum zur Kenntnis genommen wurde.
Manchmal gab es auch Razzien, wenn sich zu viele Handelsbeziehungen entwickelt hatten, sodass die andere, die offizielle Welt, sich in ihrem Selbstverständnis gestört fühlte. Behandschuhte Hände von Polizisten tasteten die vergifteten Körper ab, suchten nach dem Stoff, nach Dokumenten. Die Mehrheit der Abhängigen und deren Versorger liefen rechtzeitig davon, jeder für sich alleine.
An einem heißen Sommertag erinnerte sich die Stadtverwaltung plötzlich an das abbruchreife Haus. Die Behörde sandte Inspektoren. Sie meldeten die ungesetzliche Raumbenutzung der Polizei. Die Wohngemeinschaft löste sich daraufhin auf. Max war verschwunden. Monika lebte auf der Straße. Bis zu jenem Tag.
Ihr junges Leben war nicht gut verlaufen. Ihre Mutter hatte zwei Arbeitsstellen, um sich und ihre Tochter durchzubringen. Monika war immer einsam gewesen. Nach der Schule hatte sie eine Lehre als Schneiderin absolvieren wollen, doch gab es für sie keinen Bedarf. Sie hatte versucht, andere Lehrstellen zu finden, ihr Bemühen war vergebens. Später schlug sich Monika mit Gelegenheitsarbeiten durch. Sie lernte Max kennen. Er schien ihr ähnlich zu sein. Auch er war einsam, war von der gutbürgerlichen, wohlhabenden Familie verstoßen worden, da er die hohen Anforderungen seiner Eltern nicht erfüllen konnte. In der Schule lernte er sehr schlecht, hatte unentschuldigte Fehlstunden. Mit achtzehn brach er die Ausbildung ab, wurde aus seinem Zuhause hinausgeworfen, lebte in den Tag hinein. Monika fand Max aufregend. Jemand, der es schaffte, einfach ins Ungewisse zu leben, von Wohngemeinschaft zu Wohngemeinschaft ziehend, schnorrend auf den Straßen sich über Wasser haltend. Sie liebten sich nicht. Doch die Tatsache, die Gesellschaft jemandes zu haben, der einfach nur anwesend war, genügte Monika, um bei ihm zu bleiben.
Irgendwann hatte Max ihr diesen Weg aus der Einsamkeit gezeigt. Süß waren die ersten Räusche, leicht schwebte sie ins Land des Vergessens, bis sie, aus dem Traume erwacht, nach mehr verlangte und nicht mehr davon loskommen konnte.
Mit weißen Masken vor den Gesichtern, legte die Rettungsmannschaft Monikas Leichnam auf die Bahre. Eine Silberfolie bedeckte die junge Tote.
*****
Alexandra Jantschitz erwachte aus einem bösen Traum. Die Gespenster der Vergangenheit waren wieder aufgetaucht. Schlaftrunken blickte sie auf den kleinen Plastikwecker. Fünf Uhr morgens. Eineinhalb Stunden weniger Schlaf. Autolärm von der Via Tiburtina drang durch die geschlossenen Fensterläden. Alexandra ohrfeigte sich selbst. Weshalb sie nicht einfach mit alledem abschließen könne, dachte sie voller Wut. Im Traume hatte sie das widerliche Grinsen Magdas, der Frau, die sie vor Jahren ihre beste Freundin wähnte, gesehen.
Mit unbarmherziger Regelmäßigkeit drangen die Gespenster von damals in ihren Kopf. Sie bemächtigten sich ihres Geistes, ihrer Seele. Hass und Ablehnung keimten in ihr auf, wuchsen an, wucherten in ihr. Nach einiger Zeit der Qual verschwanden die Geister wieder. Alexandra hatte dann Ruhe, bis sie zurückkamen.
Ihre Jugendzeit war oberflächlich betrachtet ganz durchschnittlich verlaufen. Aus bürgerlicher Mittelschicht stammend, in geordnete Verhältnisse geboren. Höhere Schule mit Maturaabschluss. Anschließend Universitätsstudium. Alexandra fühlte sich schon von Kindheit an stets von den hohen Anforderungen ihrer Familie unter Druck gesetzt. Es gelang ihr nicht, die von Lehrern und Eltern gewünschten Leistungen zu erbringen. Bei vielen Prüfungen versagte sie. Zahlreiche teure Privatstunden führten nicht zum ersehnten Erfolg.
Alexandra war sehr einsam. Sie hatte keine Freundinnen. Oft wurde sie von den Klassenkameraden verspottet. Sie fühlte sich minderwertig. Schüchtern, die Tränen erstickend, ertrug sie die Häme. „Minderbegabt", meinte eine der Professorinnen des Gymnasiums. Man solle sie doch aus der Schule nehmen, sie einen anständigen Beruf erlernen lassen, wie es eben dem niederen Mittelstand gebühre. Dies, meinte jene Lehrkraft zu ihrer Mutter am Elternsprechtag, sei keine Schande.
An jenem Abend kam ihre Mutter tränenüberströmt nach Hause. Machte ihr Vorwürfe, dass sie sich nicht genug anstrenge, dass sie sich selbst mehr quälen solle, um den Anforderungen zu entsprechen. Alexandra war verzweifelt. Sie wusste nicht, wie sie das anstellen solle, da sie ja ohnehin die gesamte Zeit für die Schule aufwendete. Ihre Rolle als Außenseiterin machte ihr die Unterrichtsstunden zum Spießroutenlauf. Schüchtern, verschrocken, still und in sich gekehrt verdrückte sie in den Pausen ihr Gabelfrühstück. Im Sport war sie ungeschickt, behäbig, schlaksig. Oft wurde sie deshalb ausgelacht.
Alexandra blickte oft verträumt vor sich hin. Sie träumte von Italien. Warum gerade von jenem Land, wusste sie eigentlich nicht. Es war ihr Fluchtort, ihr kleines Paradies, das ihr niemand nehmen konnte. Am Abend, wenn sie ungestört in ihrem Zimmer saß, betrachtete sie Bilder italienischer Städte und Landschaften, die sie aus Zeitungen ausgeschnitten hatte. Heimlich blätterte sie in dem kleinen Wörterbuch, das sie billig in einem Antiquariat erstanden hatte. Einmal, als sie von einer ihrer Privatstunden nach Hause fuhr, gab sie ihr letztes Taschengeld für eine italienische Zeitung aus, die sie später in der Schreibtischschublade versteckte.
Verzückt betrachtete sie vor dem Einschlafen die magische Aneinanderreihung der Buchstaben jener sie geheimnisvoll verzaubernden Welt. Bilder von Häusern, Politikern, Künstlern, selbst die Werbeanzeigen, waren Lockrufe aus Alexandras Gelobtem Land. Zur Osterzeit, wenn Alexandra in der Innenstadt alleine herumspazierte, starrte sie die aus ihrem Traumland kommenden Touristen bewundernd an, lächelte in sich hinein, dachte wie es wohl sei dort, malte sich Landschaften, Menschen, Gebäude in den schönsten Farben.
Als im Unterricht Italien behandelt wurde, war Alexandra nicht wieder zu erkennen. Vieles war ihr bereits bekannt, unverfroren stellte sie Fragen, wollte mehr wissen. Die Professorin meinte, dass man ein anderes Land behandeln müsse, Frankreich sei schließlich wichtiger. An jenem Tag wurde sie von Magda angesprochen, ausgefragt, weshalb sie sich dermaßen für Italien interessiere. Alexandra schien eine Freundin gefunden zu haben. Die anderen Kameraden beäugten sie neugierig aus der Entfernung, nannten sie „die Italienerin", doch traten sie in keinen näheren Kontakt zu ihr.
Magda brachte ihr bei, Alkohol zu trinken. Alexandra ging dorthin, wo Magda hinzugehen pflegte. Magda war lebenserfahrener, hatte schon Beziehungen mit Jungen. Ihr Freundeskreis war groß. Meistens saß Alexandra bei den Treffen nur stumm dabei, es sei denn, Magda unterhielt sich ein wenig mit ihr. Nach der Matura blieben sie weiterhin zusammen. Magda bestimmte, Alexandra folgte. Einmal hatte sich Alexandra verliebt, redete stundenlang darüber, wie sehr sie den Mann verehrte, bis Magda ihn vor ihren Augen verführte, sie daraufhin auslachte, als Alexandra ihr mit wütenden Tränen in den Augen Vorwürfe machte. Sie solle sich doch nichts daraus machen, meinte sie mit aufgesetztem Lächeln, das sei doch bürgerlich reaktionär, so eifersüchtig zu sein. Der Angebete lechzte angeheitert nach Magdas Mund. Alexandra verschwand schweigend.
Vergeblich versuchte sie einige Tage später ihre Freundin zu erreichen. Alexandra wollte sich versöhnen, hatte sie doch sonst niemanden. Sie war von Magda abhängig geworden. Jene rief Alexandra monatelang nicht an. Auch ließ sie sich von ihrer Mutter am Telefon verleugnen. Magda begann, schlecht hinter ihrem Rücken über sie zu sprechen. Als Alexandra Magda besuchte, war jene spöttisch, missgelaunt. Sie meinte, dass sie sie langweile, dass sie spießig und unerträglich verklemmt sei und sie unterhaltsamere Gesellschaft brauche. Die Freundschaft war zerbrochen. Alexandra hörte auf, Magdas Hündchen zu sein. Geblieben war ihr die Wut auf sich selbst, dass sie all dies mit sich geschehen hatte lassen, ohne auch nur den leisesten Akt der Gegenwehr zu unternehmen.
Alexandra hatte ein Auslandsstipendium beantragt. In der Universität von Padua. Alexandras bestes Jahr. Eingebettet in die wohlige Geborgenheit der Universität und einer warmherzigen Gastfamilie, war sie in ihrem Gelobten Land. Trotz der neuen, unbekannten Umgebung, trotz der neuen Freundschaften, die sie plötzlich zu schließen im Stande war, kehrten die Geister aus der Vergangenheit immer wieder zurück, in Träumen, oder unversehens unter Tags, aus heiterem Himmel. In Padua lernte sie viel und kehrte nach Wien zurück, um das Studium abzuschließen
Schließlich war Alexandra nach Rom gezogen, um zu erfahren, dass das Leben dort nicht besser als in Wien war, sondern einfach nur anders. Neu anzufangen, ein neues Leben aufzubauen, alles hinter sich zu lassen, hatte sie sich vorgenommen. Hier war Alexandra ein wenig selbstbewusster geworden. Es war ihr gelungen, eine Stelle als Reiseleiterin zu ergattern. Hier, dachte sie, in einer Stadt, die fast doppelt so groß war, wie ihre Heimatstadt, würde sie ein anderer Mensch werden, freier, unabhängiger, gelöster. Doch immer wieder kehrten die Geister zurück, riefen ihr ins Gedächtnis, was sie mit sich geschehen hatte lassen. Immer noch litt sie an Minderwertigkeitsgefühlen, empfand große Wut auf sich selbst. Sogar nach einigen Jahren in der Ewigen Stadt, die sie ganz alleine bewältigen konnte, gelang es ihr nicht, sich zur Wehr zu setzen, wenn sich wieder einmal jemand vor ihr aufbäumte.
Sechs Uhr war es geworden. In der kleinen Wohnung war es stickig. Roms Sommernächte erdrückten die Menschen mit schwüler, schwerer Hitze. Um halb neun sollte sie Touristen von einem Hotel beim Vatikan abholen. Stadtrundfahrt, Forum Romanum, Capitol, zurück zum Vatikan, Besichtigung der Museen. Missmutig setzte sie die kleine, silbern glänzende Kaffeemaschine auf die Gasflamme. Alexandra war auch hier einsam. Ein paar wenige Bekannte hatte sie, doch die konnten nur wenig Zeit erübrigen. Kinder waren zu versorgen, Ehemänner zu hätscheln, alternde Eltern und Schwiegereltern zu betreuen.
Im Frühling pflegte Alexandra dann und wann die Kuppel des Petersdoms hochzusteigen, inmitten der Tausenden Besucher, die ihre Besichtigungspflicht erfüllten. Wenn sie keuchend die schmalen Treppen erklommen hatte, stand sie lange Zeit oben, auf die Stadt hinabblickend. Ergötzte sich daran, wie Rom mit all den Kuppeln, Kirchtürmen, Palästen, Gärten groß, ewig und gleichgültig vor ihr lag.
Der Traum ging ihr nicht aus dem Kopf. Die Geister waren mitgekommen nach Rom. Sie waren nicht in Wien geblieben, wie Alexandra es erhofft hatte. Magdas Fratze hatte sich für diesen Tag fest in ihr Gedächtnis gefressen. Neuerlich kam das geheuchelte, falsche Mitleidslächeln der Lehrer, die sich aufblähenden Vorgesetzten, die sie in diversen Firmen als Werkstudentin erlebt hatte. Die Gespenster hatten sie fest im Griff. Alexandra biss von einem trockenen Kringel ab, stürzte den Kaffee die Kehle hinunter. In einer Bar würde sie dann kräftiger frühstücken.
Die Geister wollten nicht verschwinden. Diesmal schienen sie besonders hartnäckig zu sein. Jene elenden Fratzen, die bohrenden Gedanken, der gegen sie selbst gerichtete Zorn, ließen Alexandra die rote Ampel übersehen. „Halt, zurück, der Bus!", rief ein Mann. Das Quietschen der Autobusreifen übertönte den lärmigen Verkehr. Geruch nach verbranntem Gummi erfüllte die Straße. Weinend stieg der Busfahrer von seinem Vehikel. Eine Blutlache bedeckte den erhitzten Asphalt.
Polizei kam, eine Menschentraube hatte sich versammelt. „Da kann man nichts mehr machen", brummte der Notarzt traurig, als er Alexandras Tod feststellen musste.