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Es geht mir um die Symbolik und die Themen: Umgang mit Trauer, Beziehung, Perspektive, Leben - Tod
Stella Maris
Stella Maris
Wie lange sie beide schon auf der Bank am Ende der Seebrücke saßen, wusste er nicht. Zum Abschied hatte ihnen der Pfarrer am Grab ihrer Tochter die Hand gedrückt. "Rufen Sie mich an. Jederzeit", hatte er noch gesagt. In der Ferienwohnung würden sie gar kein Telefon haben, war es ihm auf der Fahrt hierher durch den Kopf gegangen. Aber an den Karton, an den hatte er gedacht. Es war einer von seinen alten Schuhkartons gewesen, den er ihr zum siebten Geburtstag geschenkt hatte, weil sie sich schon immer eine Schatzkiste gewünscht hatte. "Er war so grau, erinnerst du dich noch?", murmelte er. "Deshalb hab ich ihn doch einfach mit diesem Geschenkpapier umwickelt, das grüne mit den gelben Schmetterlingen, damit man die graue Farbe nicht mehr sieht." Er sagte das in das Sonnenlicht hinein. Jetzt holte er den Schuhkarton unter seinem Arm hervor und stellte ihn so, dass er zwischen ihnen stand. Er betastete vorsichtig das leicht vergilbte Papier und zeichnete mit seinem Finger den geschwungenen Umriss der Schmetterlingsflügel nach. Schließlich öffnete er den Karton und nahm behutsam die Gegenstände daraus hervor. Er breitete sie sorgsam aus. Ein bisschen wie ein Stillleben auf einem dieser Gemälde in der Künstlerkolonie die sie vergangenen Sommer zu dritt besucht hatten, dachte er. Den Kompass hatte er als letztes herausgenommen. "Den hat sie immer dabei gehabt, um den Weg zur Ferienwohnung zurückzufinden, weil sie das gerade in der Schule gelernt hatten", sagte er und blickte dabei auf das offene Meer. Dann besah er sich den Kompass wieder. Die Himmelsrichtungen waren noch deutlich zu erkennen, die Nadel war am oberen Ende abgebrochen. Sie zitterte ganz leicht, als er sachte mit seiner Fingerkuppe über das Glas strich. "Vielleicht kann man sie neu kalibrieren", wobei er das Wort "kalibrieren" ein wenig lauter sagte als den Rest des Satzes. "Ach lass' doch, zu schwierig." Dabei klang ihre Stimme ganz müde. "Aber sie bewegt sich noch ein bisschen. Das müsste doch gehen." Er hörte seine eigenen Worte wie in einem schalldichten Raum. Sie nichte stumm. Neben den Kompass hatte er ihre alte Spieluhr gelegt. Sie war wie eine kleine Blume gemacht und wenn man an der Schnur zog, spielte sie "Weißt du wie viel Sternlein stehen". Eines Tages hatte sich die Schnur verklemmt und noch immer hörte die Melodie an der gleichen Stelle auf. Jedes Mal hatte sie ihn dann angesehen um das Lied einfach mit ihm zusammen zu Ende zu singen. Erst danach hatte sie einschlafen wollen. Während er es jetzt ganz leise summte, berachtete er lächelnd ihren kleinen Bernsteinanhänger, den er fast übersehen hätte. Die Zahnfee hatte ihn ihr an einem braunen Lederbändchen gebracht. Sie hatte ihn zuvor in einem Souvenirladen im Ort entdeckt. "Der sieht ja aus wie ein Seestern!", hatte sie gerufen und war dabei neben ihm auf- und abgehüpft. "Stella Maris", der lateinische Begriff aus seinem Nautikerhandbuch war ihm damals spontan eingefallen. Das Lederbändchen musste wohl irgendwann abgerissen sein. Wenn er den Anhänger langsam im Sonnenlicht hin- und herbewegte, schimmerte er mattgolden. Er hatte ihr einmal erklärt, dass Bernstein im Salzwasser immer oben schwimmt und sie hatte darauf bestanden, es sofort auszuprobieren. Nun ließ er den Anhänger in seine Hand gleiten, stand auf und ging auf das Geländer zu. Er beugte sich ein Stück vornüber, nur ein kleines, so dass er das Wasser besser sehen konnte. Jetzt, da die Sonne so tief stand, musste er dabei plötzlich an einen dunkel angelaufenen Silberspiegel denken, dessen Farbe das Meer allmählich angenommen hatte. Er öffnete seine Hand ein wenig.
"Komm", sagte seine Frau und berührte sanft seine Schulter. Langsam drehte er sich um und sie gingen über die Seebrücke zurück auf die Häuser hinter den Dünen zu. Er spürte noch lange die Sonne in seinem Rücken und der Stern war ganz warm in seiner Hand.