Mitglied
- Beitritt
- 02.10.2014
- Beiträge
- 2
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Stell' dir vor du schwebst
„Stell dir vor du schwebst.“ sagte er. Und nach einer Pause: „Stell dir vor du schwebst. Stell dir vor, du bist so leicht, dass du vom Boden abhebst, ganz sachte, wie schwerelos.“ Er sah ihr erwartungsvoll in die Augen. Nach einigen Sekunden Stille fügte er ungeduldig und auffordernd hinzu: „Schließ‘ die Augen, wie wir es besprochen haben.“
Sie tat wie geheißen, obwohl ihr nicht danach war. Mit geschlossenen Augen saß sie da und lehnte sich in dem großen, gepolsterten Lederbürostuhl zurück. Ihr Arme und Hände lagen etwas angespannt auf den Armlehnen des Stuhls. Ihre gesamte Haltung wirkte steif. Leise sagte er: „Entspann dich, atme langsam und tief ein und aus, finde deinen Rhythmus.“ Sie wurde nur noch angespannter. Sie kniff ihre Augen nun regelrecht zu und fühlte sich irgendwie schlecht. Ihr war das ganze sehr unangenehm, weil es sie an die Entspannungskassetten ihrer Mutter erinnerte. Dieser ganze New Age Kram war ihr suspekt, sie konnte rein gar nichts damit anfangen. Es war ihr auch unangenehm mit verschlossenen Augen vor diesem fremden Menschen zu sitzen, es gab ihr das Gefühl die Situation nicht unter Kontrolle zu haben und irgendwie schämte sie sich auch. Trotzdem blieb sie sitzen.
Er tat und sagte nun nichts mehr. In dem kleinen Raum herrschte fast vollkommene Stille. Sie hörte lediglich seinen ruhigen Atem und das scheinbar immer lauter werdende Rauschen der Klimaanalage. Unangenehm war sie sich ihres Körpers bewusst und fühlte sich angestarrt. Der Drang die Augen zu öffnen, um zu sehen, ob ihr Gegenüber sie ansah, war enorm. Doch sie beherrschte sich, zumindest ihre Augenlieder konnte sie kontrollieren.
Mit der Zeit, für sie war es eine Ewigkeit, lockerten sich ihre an den Lehnen festgekrallten Hände etwas und sie begann etwas weniger schnell zu atmen. Es war nun angenehm warm und der Stuhl bequem. Sie sank noch etwas tiefer in das Polster und ihre Gedanken begannen zu schweifen. Die Situation, in der sie sich befand, amüsierte sie nun so, wie es die Entspannungskassetten-Sessions ihrer Mutter komplett mit Meditationsmatte und Räucherstäbchen, immer getan hatten. Es war schon absurd, dass sie nun hier saß. Ein winziges, für den Betrachter kaum wahrnehmbares, Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Sie dachte: „Nur gut, dass mich jetzt keiner von der Arbeit hier sehen kann. Die würden sich schlapplachen und dann vielleicht eine Diskussion über mathematisch-logische und experimentell-empirische Rationalität und die vollkommene Irrationalität meines jetzigen Handelns vom Zaun brechen.“ Und dann trotzig: „Na und, soll’n sie lachen und lästern, ein paar von denen glauben an Gott, wie rational ist das?“
Dann liefen die Ereignisse der letzten Tage wie ein Film vor ihrem inneren Auge ab. Die Ergebnisse der letzten Testreihen und Messungen, die sie auf der Arbeit durchgeführt hatte. Die Abendessen mit ihrer Familie, Gespräche, banale Dinge, wie der morgendliche Pipi-Spaziergang mit ihren beiden Hunden. Sie begann das Wochenende zu planen, dachte darüber nach, was sie für das Essen mit ihren Eltern einkaufen musste: „Schmand, Lammkotelettes, Rosmarin, einen italienischen Rotwein für Pa, Schnittbohnen“. Sie hielt inne, plötzlich stellte ihr Gehirn wieder auf jetzt und hier um, warum war sie hier? Ach ja, der New Age Kram. Ein kurzer Moment des Beobachtet Fühlens, dann sagte sie sich: „Jetzt bin ich schon mal hier, da kann ich es ja auch einfach mal versuchen, vielleicht kann ich es ja tatsächlich in einer meiner zahlreichen schlaflosen Nächte nutzen, um runterzukommen, um das ewige Kreisen meiner Gedanken zu unterbrechen.“ Und sie versuchte sich bewusst locker hinzusetzen und erneut die vorherige Stille und Wärme einkehren zu lassen. „Wie kann ich mich dazu bringen, mir realistisch vorzustellen, das ich Schwebe? Hmm, durch Assoziation?“
Und sie stellte sich ein Flugplatzrollfeld vor, auf dem ein riesiger Jumbojet abflugbereit mit grollendem Getriebe stand. Sie ließ das Flugzeug langsam starten und sah in Gedanken, wie es plötzlich massiv beschleunigte, um fast am Ende der Bahn, mit nach oben gerichteter Nase, abzuheben. Sie versuchte sich die rauschende Luft um das Flugzeug herum und die umgebende Kälte vorzustellen. Dann platzierte sie sich in das Innere der Maschine, sah die langen, aufeinanderfolgenden Sitzreihen und saß schließlich in einem der Sitze, der sich wie der Lederbürostuhl, auf dem sie in Wirklichkeit saß, anfühlte. Vor ihrem inneren Auge entstand das Bild, das sie sehen würde, würde sie auf einem Fensterplatz sitzen und durch das runde Fenster auf die unendlich scheinende Wolkenlandschaft unter ihr schauen. „So schön.“ dachte sie und versuchte ihren gedanklichen Körper aus dem Flugzeug heraus und in diese wattige Wolkenlandschaft hinein zu versetzen. Mitten in dieser Vorstellung warf ihr ihr Gehirn eine Erinnerung zu. Die Erinnerung an einen 14-stündigen Flug von LA nach Düsseldorf. 14 Stunden eingeklemmte Beine, viel zu kalte Klimaanlagenluft, die ihre Schleimhäute austrocknen ließ, kein Schlaf und eine etwa 70 Jährige Inderin auf dem Nebensitz, deren Kopf ihr ständig auf die Schulter rutschte, wenn die ältere Dame einschlief und sie schlief viel und tief, noch dazu schnarchte sie und sprach kein Wort Englisch, wenn sie denn dann mal wach war.
In Reaktion auf diese nicht gerade angenehme Erinnerung, verkrampfte sich ihr Körper erneut und nur unter geistiger Anstrengung gelang es ihr, sich wieder einigermaßen zu beruhigen und den Gedanken abzuschütteln. „Assoziation mit einem Flugzeugflug? Nee.“ dachte sie. „Wie wär es stattdessen mit Raumschiffenterprise…unendliche Weiten…“ und sie grinste „Besser nicht, sonst kommen mir vermutlich Alien-Gedanken an meinen Kollegen Sven und das muss nicht sein, aber ein Vogelflug könnte doch vielleicht gehen…“ So stellte sie sich nun einen Vogel vor, einen Albatros, der über die Weiten des Ozeans gleitet. Spätestens seitdem sie das Lied „Der Albatros“ der Deutschrock-Band Karat zum ersten Mal gehört hatte, stand der Albatros für sie für Freiheit und für die Sehnsucht nach Freiheit. Welche Vorstellung könnte also besser sein, um seinen Geist zu befreien und schweben zu lassen.
In ihrem Kopf segelte der schöne Vogel mit voll ausgebreiteten Schwingen durch die salzige Meerluft, durch kleineste Änderungen der Flügelstellung flog er weite Bögen, zog er die Flügel zum Körper, stürzte er auf die Wasseroberfläche zu, um dann gleich wieder steil nach oben zu fliegen. Die Vorstellung war kraftvoll und es gelang ihr sich voll in das Bild hineinzuversetzen. Sie war der Albatros, sie flog und glitt über das Blau und Grün und Weiß der Wellen hinweg. „Wundervoll!“
Mitten in dieses Gedankenbild zeichnete ihr Hirn plötzlich und ungefragt die Erinnerung an einen wiederkehrenden Traum, den sie seit Jahren hatte. In diesem Traum konnte sie durch eine leichte, ruckartige Bewegung mit den Beinen, einen winzigen Sprung, vom Boden aufsteigen und dann ganz behutsam wieder hinabsinken. Durch einen beherzteren Sprung gelang es ihr wirklich abzuheben und dann in Bauchlage auf einem Punkt zu schweben oder durch entsprechende Arm und Bein Bewegungen durch die Luft zu schwimmen. Meist befand sie sich in diesem Traum in ihrer ersten Wohnung, in der sie während ihres Studiums gelebt hatte und meist begann der Traum im kleinen Flur der Wohnung. Zu Beginn stand sie immer in diesem Flur, fühlte sich warm und leicht und fühlte eine tiefe innere Geborgenheit, so wie sie sich an einem kalten Wintertag auf dem Sofa unter einer warmen, kuscheligen Decke, mit einer Tasse heißer Schokolade fühlte. Dann wurde ihr Körper immer leichter und leichter und im Traum dachte sie: „Ich bin jetzt so leicht, wenn ich springe, dann bleibe ich bestimmt in der Luft.“ Und das tat sie dann auch. Der Traum war vom Ablauf her immer so gut wie gleich, mit kleinen Änderungen, mal war es hell im Raum, mal dunkel, mal war sie alleine, mal waren andere Menschen dort. Aber immer machte sie nach einigen Versuchen den großen Sprung, der sie hoch, fast unter die Zimmerdecke und in Brustlage versetzte und entdeckte kurz darauf die Schwimmbewegungen. Von da an schwamm sie dann in ihrer Wohnung durch die Luft. Vom Flur aus in das Schlafzimmer, dann das Badezimmer, die Küche und schließlich das Wohnzimmer. Nie verließ sie die Wohnung, nie stand ein Fenster oder die Türe offen. Jedes Mal fühlte sie während dieser Traumerfahrung ganz ähnlich, meist fühlte sie eine leichte Aufregung fast einen Rausch. Im Bauch hatte sie ein Kribbeln, wie beim ersten Date oder auf der Achterbahn. Diese anfänglich leichte Aufregung entwickelte sich im Verlauf ihres schwebenden Spaziergangs durch ihre Wohnung zu einem Hochgefühl, einer Euphorie, wobei sie sich stets halb dessen bewusst war, dass sie wohl träumen musste.
Einen kurzen Moment lang gelang es ihr zu ihrem Albatrosbild zurückzukehren und plötzlich fühlte sie sich genauso wie in ihrem Traum vom Fliegen. Dieselbe Leichtigkeit, Wärme und Geborgenheit. Sie spürte wie sie leichter wurde, ihr war als würden ihre Arme ganz von selbst von den Stuhllehnen abheben, das Kribbeln im Bauch war jetzt schon da und sie kicherte. Sie musste wohl weggedöst sein und jetzt träumte sie. Sie fühlte sich leichter, schwereloser fast ohne Substanz und dachte: „Ich träume.“ Seltsam, dass ihr Traum nun hier in dem kleinen Büroraum stattfand und er sie nicht in ihre alte Studentenbude versetzte. Sie sah ihr Gegenüber vor sich, er las in einem kleinen Büchlein mit rotem Einband und schaute einmal zu ihr auf. Das Gefühl der Leichtigkeit nahm immer noch zu und sie drücke sich mit den Händen ein wenig vom Stuhl weg, es ging ganz einfach, sie war tatsächlich verdammt leicht. Mit etwas mehr Schwung drückte sie sich ab und schon schwebte sie gut einen Meter über dem Schreibtisch, vor dem sie gerade noch gesessen hatte und vor dem ihr Gegenüber unverändert saß. Noch befand sich ihr Körper in sitzender Stellung, doch als sie sich ein wenige nach vorne Beugte, die Arme und Beine von sich reckte, begab sie sich mit Leichtigkeit in die ausgestreckte Bruststellung, die so typisch war für ihren Traum. Sie begann zu schwimmen, flog etwas höher, bis sie mit ihrem Kopf die Decke streifte und drehte eine Runde durch das Zimmer. Sie kicherte albern. Nach einigen weiteren Runden, bei denen sie mal schneller mal langsamer flog, riss sie im Vorbeifliegen übermütig einen Stapel Blätter vom Schreibtisch und machte einen energischen Armzug Richtung Decke. Ein Blatt Papier hielt sie noch in Händen. Sie zerriss es in kleine Schnipsel und ließ sie auf den Mann am Schreibtisch, der sie zwischendurch aufmerksam angesehen hatte, herunterrieseln, wobei sie frech grinste.
„Seltsamer Traum.“ dachte sie. „Ganz anders als sonst und so real.“ Und doch sie musste träumen, der ganze New Age Kram und das Entspannen, die Assoziationen hatten sie wohl schläfrig gemacht. Sie wollte aufwachen, doch irgendwie klappte es nicht. „Ob ich wohl Schnarche oder noch besser Sabbere? Das wär‘ so peinlich. Ob ich aufwache wenn ich mich kneife?“ Sie kniff sich selbst feste in den Arm, doch nicht passierte, sie sah immer noch von oben auf Schreibtisch, Mann und Bürostuhl herab. „Vielleicht muss ich mich erst wieder hinsetzen, nicht mehr Fliegen, vielleicht wache ich dann auf.“ Langsam wurde ihr auch ein bisschen mulmig, weil der Traum diesmal so anders war und sie so bewusst denken konnte und die Traumgedanken nicht vage und eher Gefühle als Gedanken waren. Sie ließ sich heruntersacken, wurde plötzlich etwas schwerer, und nahm erneut auf dem Lederstuhl Platz; noch einmal kniff sie sich in den Oberarm.
Sie sah ihr Gegenüber an, er schaute ihr in die Augen. War sie jetzt wach oder träumte sie immer noch? Sie fühlte sich nicht wie kurz nach dem Aufwachen. Er sagte: „Siehst du, es geht doch. Das war ganz großartig für das erste Mal.“ Verdutzt sah sie ihn an. „Ehm, ja, ich habe mir vorgestellt, ein Albatros zu sein, das hat ganz gut geklappt. Aber dann muss ich wohl eingeschlafen sein, ich hatte einen wirklich komischen Traum.“ Er sah sie weiterhin an und sagte: „Es hat recht lange gedauert, ich hatte es schon aufgegeben, aber letztendlich hast du es geschafft. Übrigens eine sehr ungewöhnliche Art der Fortbewegung die du da hast. Das habe ich so auch noch nicht gesehen. Die meisten anderen breiten einfach die Arme aus und los geht’s, einige schlagen auch mit den Armen, als wären es Flügel.“. „Was? Mhh, was meinst du…ehm Sie? Ich verstehe nicht…ich hab‘ ja von vorne herein gedacht, dass das hier alles Quatsch ist, ich weiß auch gar nicht, warum ich überhaupt her gekommen bin.“ Stammelte sie. Ihr war nun flau im Magen und das Blut war ihr in den Kopf geschossen. Er erwiderte: „Es ist doch toll, das war wirklich eine ziemlich gute Leistung! „Nein, gar nichts ist toll, dass Sie mich hier so verarschen!!! Sie spürte Panik in sich aufsteigen und versuchte sich zu beruhigen. „Bleib ruhig, der macht sich einen Spaß mit dir, je mehr du dich jetzt aufregst, desto lustiger wird’s für ihn.“ dachte sie und setzte sich ganz aufrecht hin. „Ich will mich jetzt nicht aufregen.“ sagte sie und sah ihn an. Er bewegte den Kopf nach vorne und etwas fiel aus seinen Haaren heraus auf den Schreibtisch. Er schüttelte den Kopf ein wenig und es rieselte. Ungläubig starrte sie auf die Papierschnipsel vor ihm. Wie ein in die Ecke gedrängtes Tier schaute sie sich fahrig um, als würde sie nach einem Fluchtweg suchen. Dann sah sie den auf dem Boden liegenden Papierhaufen, sprang mit einer Wucht vom Stuhl auf, das dieser krachend umfiel und schrie: „Sie sind ja total verrückt!“ In einem drehte sie sich um, stürzte auf die Türe zu, riss sie auf und raste die Treppe hinab. Ihr Gegenüber sah ihr einen Moment lang gelassen nach und schaute dann mit einem Lächeln auf den Lippen wieder in sein kleines rotes Büchlein.