Was ist neu

Steinsegler

Mitglied
Beitritt
19.02.2014
Beiträge
86
Zuletzt bearbeitet:

Steinsegler

Die Kolumne war alles andere als ein einträglicher Job, aber sie hatte ihm neben den paar Euro jede Menge Freikarten und die Anerkennung seiner Schwiegereltern gesichert. Sie war – genaugenommen – die Eintrittskarte in seine bürgerlichen Existenz gewesen, dachte Gerd, als er den Brief des Herausgebers sorgfältig zusammenfaltete und in das Kuvert zurückschob, als könnte man die Vertragsauflösung dadurch ungeschehen machen. Dass mit Julias Einkommen ohnehin die wesentlichen Ausgaben bestritten wurden, war ihm klar, auch wenn er weit davon entfernt war, die ebenso komplizierten wie langweiligen Geldflüsse ihres hypothekenbelasteten Zweipersonenhaushalts genau zu durchschauen. Er wusste nicht einmal, wie viel sie mit ihrer Beratungstätigkeit verdiente, genauso gut hätte man ihn fragen können, worin diese seltsame Arbeit eigentlich bestand, Realitätenconsulting. Als er ihr nach dem Abendessen den Brief hinüberschob, nahm sie es gelassen. Sie überflog ihn wie einen belanglosen Werbeprospekt, während sie zwei Löffel vom Nachtisch (Crème Brûlée mit Mandelmilch, beides von ihm selbst zubereitet) naschte. Als sie ihn zurückreichte, nickte sie auffallend zufrieden, als wäre es ihr gelungen, zwischen den Zeilen eine zuversichtliche Botschaft herauszulesen, die ihm in der Trostlosigkeit des Nachmittags verborgen geblieben war.
„Einige Leute werden enttäuscht sein, wenn sie nächste Woche das Blatt aufschlagen“, sagte er.
„Natürlich“, sagte Julia. Sie streichelte ihm über die Hand und setzte damit eine rätselhafte innerkörperliche Mechanik in Gang, die seine Augen zum Brennen brachte, die Schultern zucken ließ, und am Ende entfuhr ihm ein Seufzer, der an das Horn eines Ozeandampfers denken ließ. Das darauffolgende Schweigen und die warme Hand taten ihm gut, doch als er aufstand, um den Tisch abzuräumen, deutete sie an, dass sich das Malheur aus finanzieller Sicht in Grenzen hielt, wozu sich Sorgen machen. Zweifellos sollte ihn dieser Hinweis beruhigen, doch stattdessen spürte er einen Stich. Julia tat den Fall als Lappalie ab. Und obschon ihre Sichtweise etwas Tröstliches hatte, fand er es nicht richtig, dass sie seinen Beitrag zur Wohlfahrt ihrer kleinen Schicksalsgemeinschaft so deutlich herunterspielte. Der Verdacht, dass das Ende der Kolumne seinen Status als vollwertiger Ehepartner weiter untergraben könnte, stieg in ihm hoch, und dieses Gefühl hielt an, während er sich um die Küche und den Abwasch kümmerte und Julia sich im Wohnzimmer gelangweilt durch das Abendprogramm zappte. Danach ging er geradewegs in sein Arbeitszimmer und griff zu irgendeinem Buch, das er erst zur Seite legte, als aus dem Schlafzimmer die gleichmäßigen Atemgeräusche einer Schlafenden drangen.

Die nächsten Tage spielte Julia die Rolle der verständnisvollen Ehefrau und unterstützte seine Sichtweise, die in der Kündigung einen unverdienten Schicksalsschlag sah. Selten ließ sie durchblicken, dass es nicht sehr klug gewesen war, ständig gegen den Neoliberalismus zu wettern, wenn das überschuldete Blatt längst einem Bankenkonsortium gehörte.
Dann kam der Samstag, und zum ersten Mal seit achtundneunzig Wochen erschien die Beilage ohne seine Kolumne. Immerhin, Julias Gleichgültigkeit hatte ihn davor bewahrt, in ein Loch existenzieller Verzweiflung zu stürzen, und dafür musste er ihr dankbar sein. Dennoch: Seine Rolle als Kulturschaffender, als ein nützliches Glied der Gesellschaft stand auf dem Spiel, sollte es ihm nicht irgendwie gelingen, ein vergleichbares Projekt an Land zu ziehen – und das in einer Zeit, in der sich die Medienwirtschaft des Landes im freien Fall befand! Aber was noch viel schlimmer war: Das sublimierte Fluchtverhalten, mit dem er sich die letzten Jahre gewohnheitsmäßig über Wasser hielt, die übliche Bewältigungsstrategie für all seine Alltagsprobleme, griff jetzt nicht mehr. Normalerweise hätte er ein vergleichbares Unglück zum Wochenthema einer Kolumne gemacht und sich die Sorgen einfach vom Leib geschrieben, im Glauben an das seit den Tagebuchtagen seiner Jugend vertraute Wunder, dass die Verschriftlichung seiner Probleme gleichzeitig deren Lösung war. Nein, Julia hatte Unrecht, es waren mehr als die paar Euros, die Eintrittskarten und das respektvolle Lächeln seiner Schwiegereltern, die er eingebüßt hatte. Es ging um die innere Festigkeit, die ihm das Schreiben verlieh und die er seinem Dasein beim besten Willen nicht auf anderem Weg abtrotzen konnte, so sehr er sich auch bemühte.
„Habe ich dir gesagt, dass meine Eltern uns zum Abendessen einladen?“
Julia riss ihn aus seinen Gedanken, und Gerd brauchte länger als gewöhnlich, um eine passende Antwort zu finden. Nein, sie hatte es ihm nicht gesagt, wozu auch, er hatte samstags gewöhnlich keine Pläne, doch diesmal störte ihn, dass sie Einladungen in seinem Namen annahm, ohne ihm Bescheid zu geben. In seiner momentanen Verfassung wirkte dieses Versäumnis wie eine vorweggenommene Entmündigung.
„Ok. Warum nicht.“
Sie kannte ihn gut, und als sie die ungewöhnliche Intonation am Ende seiner Frage bemerkte, blieb sie wie festgefroren an der Schwelle zu seinem Arbeitszimmer stehen.
„Ist noch was?“
Gerd schüttelte den Kopf, ohne sich zu ihr umzudrehen. Er konzentrierte sich auf den Cursor, der seit einer Viertelstunde geduldig auf und ab blinkte, und versuchte den nächsten Buchstaben zu erraten. Erst viel später, als er sich am Beifahrersitz den Gurt festzurrte, rückte er mit der Sprache heraus.
„Die Kolumne. Weißt du, man muss ihnen vielleicht nicht alles auf die Nase binden. Du weißt wie sie sind. Man könnte vielleicht behaupten, dass sie sich einfach totgelaufen hat, und ich bereits ein neues Projekt vorbereite.“
„Ein neues Projekt?“
„Ist doch egal. Sagen wir, ich habe mit dem Verlag Stillschweigen vereinbart.“
Julia schüttelte amüsiert den Kopf und startete den Wagen. Die ganze Fahrt über wurde das Thema nicht mehr angeschnitten. Gerd hätte sich lächerlich gefühlt, ihr eine explizite Zustimmung zu seiner neuen Version der Wahrheit abzuringen. „Es ist kein Lüge“, sagte er sich. „Ich habe nächste Woche den Termin bei Herzl, verkaufe ihm eine neue Kolumne, und damit hat es sich.“
Der Abend lief von Anfang an nicht gut. Er stieß sein Wasserglas um, und in dem darauffolgenden Serviettentanz der beiden Frauen drückte ihn sein Schwiegervater behutsam in die Couch und klopfte ihm auf den Kopf wie einem Lausbuben, der nach seinem Streich ein wenig Zuspruch und Verständnis brauchen konnte. Zu seiner Überraschung sprach während des Aperitifs niemand die verschwundene Kolumne an, obwohl die angefeuchtete Wochenendbeilage die ganze Zeit zwischen ihnen auf dem Couchtisch lag und seine Schwiegermutter eine seiner eifrigsten Leserinnen war. Stattdessen verstrickte sie ihn in harmlose Causerien, die ihn einschläferten. Julia redete mit ihrem Vater über die Arbeit, ein lupenreines Männergespräch, gespickt mit Fachwörtern aus der Finanzwirtschaft, während er selbst, wie üblich, das Damenprogramm absolvierte. Vielleicht würde Christine ihm beim Abschied wieder ein Kochrezept aufdrängen.
Sie ist präpariert, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Natürlich! Die Vorstellung, dass Julia sein Missgeschick mit den Eltern längst abgesprochen hatte, ohne ihn davon in Kenntnis zu setzen, war ihm die ganze Zeit nicht in den Sinn gekommen. Zum ersten Mal seit der Kündigung stieg echter Ärger in ihm hoch. Ein guter, starker Ärger, der die Larmoyanz der letzten Tage in einer einzigen Sekunde wegwehte. Um seinen Verdacht sofort zu überprüfen, griff er zur Zeitschrift und blätterte darin herum, schlug dann für alle gut sichtbar die Seite auf, wo einst seine Kolumne ihren Platz hatte und sich nun eine Reportage über Schweizer Uhren und ihre chinesischen Zwillingsbrüder breit machte. Sie erfüllte ihn mit weiterem Grimm. Hatte er eine klaffende Lücke erwartet? Er las ein paar Sätze, scheinbar gedankenlos, doch zwischendurch schielte er hinüber zu seiner Schwiegermutter, die gütig lächelte und sich weigerte, den Ball aufzunehmen.
„Ich bin jetzt übrigens arbeitslos, Christine“, sagte er ganz aus dem Zusammenhang, als sie ihn nach seinen Rückenproblemen fragte, und nachdem er nichts tat, um den Satz in einen erklärenden Rahmen zu stellen, wuchs das Schweigen zwischen ihnen zu so bedrohlicher Größe an, dass sich Julia aus ihrem Vatergespräch ausklinkte und hastig das Geheimprojekt ins Spiel brachte. Ihr verschwörerischer Tonfall und das törichte Nicken der beiden Alten wirkten auf Gerd so lächerlich, dass er entgegen seiner sonstigen Gewohnheit laut auflachen musste. Der Whiskey seines Schwiegervaters begann sein kleines Drama endlich in eine vernünftige Perspektive zu rücken.
Nach dieser unerquicklichen Szene übersiedelte man rasch ins Esszimmer, und der Ortswechsel nährte bei allen die Hoffnung, Gerd möge seine bedenkliche Laune auf der Couch zurückgelassen haben. Christine servierte die Vorspeise, und ihr Gatte schenkte jedem ein Glas Weißwein ein. Man prostete sich zu, doch niemand sprach einen Toast. Und auch während des Essens gab es neben den üblichen Höflichkeiten kein Tischgespräch. Was nicht ausgesprochen wird, verstopft die Gedanken. Das Ticken der Standuhr höhnte unausgesetzt aus der Ecke und erinnerte alle Anwesenden daran, dass sie sich nichts zu sagen hatten. Der Hirschbraten war so zäh wie die Versuche seiner Schwiegereltern, die Konversation mit alten Urlaubsanekdoten zu beleben, und Gerd ließ die halbe Portion am Teller liegen. Nach dem Espresso brachen sie sofort auf. Gerd hatte einiges getrunken, und Julia fürchtete eine Szene. Sie schob ihn mit dem Mantel in der Hand durch das Vorzimmer, doch es gelang ihm am Ende, sich noch einmal zu den beiden Gastgebern umzudrehen, einen Finger an die Lippen zu legen und verschwörerisch das Wort „Geheim“ zu flüstern.
Auch im Fahrzeug wurde nur das Nötigste gesprochen, Julia schien zu müde für einen Streit. Man sah ihrem Gesicht die Anstrengung der Arbeitswoche an und ahnte die Schmerzen hinter ihren Schläfen. Fast tat es ihm leid, dass er durch seine Empfindlichkeiten den Abend ruiniert hatte.
„War das notwendig?“
Ihr Angriff erfolgte ohne Vorwarnung, unmittelbar nach der Autobahnausfahrt, als er sich bereits in Sicherheit wähnte.
„Sie haben es gewusst“, antwortete Gerd.
„Bitte?“
„Meine Kolumne. Du hast ihnen alles verraten.“
„Wie kommst du darauf?“
„Du hast Sie gut vorbereitet.“
Julia, das wusste er, hatte nicht die Kaltblütigkeit, ihm ins Gesicht zu lügen, aber ihre Aufmerksamkeit wurde vom Verkehr in Anspruch genommen, und mit Blick auf den Mittelstreifen log es sich leichter.
„Vielleicht solltest du Dr. Herzl eine Enthüllungskolumne anbieten. Undercover-Reporter Gerd Weber deckt auf!“
Gerd ließ es dabei beruhen, doch als sie ausstiegen, ging er nicht mit ins Haus, sondern stieg die Treppe hinunter zum Baggersee, um flache Steine ins schwarze Wasser zu werfen, die sich allerdings weigerten, öfter als zweimal aufzuhüpfen. Rund um den See leuchteten zwanzig Einfamilienhäuser wie das ihre, und Gerd fragte sich, ob ihre Bewohner in diesem Moment ein glücklicheres Leben führten als er selbst. Er fühlte sich wie ein Reisender ohne Koffer in einem fremden Land, dessen Alphabet er nicht beherrschte. Er fühlte sich allein.
Am nächsten Tag – Julia war früh aufgestanden und hatte nichts als eine Einkaufsliste für den Supermarkt am Esstisch zurückgelassen –, notierte er sich nach dem Frühstück ein paar Stichwörter für das Gespräch mit Herzl und als ihm nichts mehr einfiel, ging er wieder hinunter zum See. Er sammelte alle flachen Steine ein, die er finden konnte, und ließ sie einen nach dem anderen über das Wasser springen. Es ging vor allem darum, das Handgelenk locker zu halten und sich nicht zu verkrampfen. Mit roher Gewalt bewirkte man gar nichts. Entscheidend war die Schnellkraft. Ob es Fachliteratur dazu gab? Unter welchem Stichwort sollte man danach suchen?
„Ein Hobby ohne Namen“, dachte Gerd amüsiert, und doch hätte er schwören können, einst dafür ein Wort besessen zu haben. Das Bild eines anderen Baggersees stieg vor ihm auf, ohne Häuser, ohne parzellierte Uferzugänge, die jungen Stimmen der anderen Kinder und wie sich das pralle Licht der Mittagssonne auf den segelnden Kieseln reflektierte. Aber das Wort war so wenig greifbar wie die Steine von damals. Die Erwachsenensprache schien es nicht der Mühe wert zu finden, derart sinnlose Tätigkeiten zu benennen, und Gerd erfand kurzerhand das Wort Steinsegeln. Gestatten, Gerd Weber. Steinsegler. Am nächsten Tag schaffte er einmal sieben und zweimal sechs Sprünge. Am dritten Tag ging sein Vorrat zur Neige, aber der letzte Stein hüpfte achtmal über den See.
Der Termin bei Herzl war ein Desaster, er bekam ihn nur ein paar Minuten zu Gesicht. Als er begann, seine Idee zu skizzieren, und sich zweimal verhedderte, bat Herzl ihn, alles in einer E-Mail zusammenzufassen und an seine Sekretärin zu schicken. Fünf Minuten später stand er wieder vor der spiegelnden Fassade des Medienhauses, eine uneinnehmbare Festung aus Glas.
Anstatt auf dem kürzesten Weg nach Hause zu fahren, machte er einen Abstecher beim Baumarkt und belud den Kofferraum mit zwei Fünfzigkilosäcken weißen Kieselsteinen aus der Gartenabteilung. Sie waren herrlich flach und von der gleichmäßigen Größe einer Kinderhand. Als er um fünf das Auto in die Garage stellte, füllte er eine alte Plastiktasche mit soviel Steinen, wie er tragen konnte, und schleppte sie hinunter zum See. Die Aufregung des Nachmittags hatte seine Konzentration angegriffen, aber bereits nach einer Viertelstunde erreichte er seine Normalform. Zweimal eine Fünf, zweimal eine Sechs, eine Sieben.
Als er spät ins Haus zurückging, fühlte er sich ausgeglichen.
„Schreibst du gar nichts mehr?“ fragte Julia.
Die ganze Woche hatte er seinen Computer gemieden, als trüge er Mitschuld an seiner Misere. Wenn Julia ihn aus dem Haus locken wollte, lehnte er unter Vorwänden ab. Sie hatte abends häufig gesellschaftliche Verpflichtungen und war es gewohnt, ihn mitzuschleppen. Doch Gerd hatte keine Lust, von erfolgreichen Menschen auf den Verlust seiner Kolumne angesprochen zu werden. Herzls Büro hatte auf sein E-Mail noch nicht geantwortet, und wenn er ehrlich zu sich war, durfte er sich keine großen Chancen ausrechnen. Wie ein verwundetes Tier zog er es vor, seine Wunden fernab der Öffentlichkeit zu lecken.

Am nächsten Tag war offenbar schulfrei, denn auf seinem Platz standen zwei Jungen mit bunten Segeljacken. Der eine hatte seine Badehose mitgenommen, aber es war noch zu kalt, um ins Wasser zu gehen, eben erst waren die ersten Blüten an den Enden der Kirschzweige aufgeplatzt. Gerd stellte seine Plastiktasche neben das Stoffbündel mit den Badesachen und tat, als würden ihn die Kinder nicht stören. Nach dem dritten Stein, einer respektablen Sechs, wechselten sie in einer fremden Sprache ein paar Worte.
„Russen“, dachte Gerd, und fragte sich, wie sich der Zuzug ihrer Familien wohl auf die Preise der umliegenden Immobilien auswirken würde, sowie auf den Wert ihres eigenen Hauses. Er könnte Julia beim Abendessen dieses gehaltvolle Diskussionsthema anbieten und machte sich gedanklich eine Notiz.
„Mein Vater schafft zwölf“, sagte der kleinere Junge ohne jeden Akzent.
„Es kommt nicht darauf an, was andere Leute schaffen“, sagte Gerd und reichte ihm einen Stein.
„Ich will auch einen“, sagte der größere Junge, und Gerd gab jedem zwei Steine.
Sie warfen abwechselnd, und Gerd gewann mit einer makellosen Sieben. Sie schauten ihren Würfen nach, bis die Wellenkreise einander berührten und sich dann auflösten.
„Was machen Sie beruflich?“, fragte der erste Junge.
Gerd betrachtete die beiden etwas genauer. Der Kleine: dicke Brillengläser und ein Gesicht voller Sommersprossen, mutmaßlicher Hang zur Besserwisserei. Der andere sah wie ein typischer Russe aus, blond, mit wasserhellen Russenaugen und diesen hohen Wangenknochen. Er würde ein guter Sportler werden, hatte bereits die tiefe, flache Sportlerstimme, die auf physisch intakte, nicht sehr interessante Menschen hinweist, auf Kerle, die gerne für harte Jungs gehalten werden; ein Gehabe, das in den Jahren der Pubertät nur imitiert wird, bis es sich festwächst.
„Undercoverjournalist“, sagte Gerd.
Der kleine Junge nickte, schien aber nicht sehr beeindruckt zu sein.
„Wisst ihr überhaupt, was das ist?“
„Nein, sagte der andere Junge. „Nicht genau.“
„Ist auch besser so“, sagte Gerd. „Mein Beruf ist streng geheim.“
Die Jungen musterten ihn von Kopf bis Fuß und schienen erst jetzt ein wenig Respekt vor ihm zu entwickeln. Er griff wieder zu den Steinen, warf eine Vier, Sechs und Fünf, und die beiden wischten sich die sandigen Hände an ihren Hosen ab und verschwanden.
„Ich glaube es ziehen Russen an den See“, sagte er, als er die Fischsuppe servierte.
Julia nickte, doch sie biss nicht so begeistert an, wie er es erwartet hatte. Sie murmelte ein paar Wörter, von denen ihm lediglich der Begriff Verkehrswert im Gedächtnis haften blieb. Nach dem letzten Bissen schob sie ihren Teller zur Seite und griff in den Zeitungsstapel. Auf der Titelseite stand in großen Lettern „Karriere“, doch Julia blätterte zielstrebig zu den kleinen Inseraten im hinteren Bereich der Beilage, wo sich die wenig lukrativen Stellenangebote befanden. Vermutlich hätte sie ihn am liebsten zurück in eine schmierige Werbeagentur geschickt, dachte Gerd, damit er sich sein Geld als Texter verdienen konnte, wie damals vor acht Jahren, als sie sich kennenlernten. Machte sie sich Sorgen um seinen Verkehrswert? Gerd dachte fröstelnd an die verlorenen Jahre, in denen er Reklametexte schrieb und bloß im Herzen Schriftsteller war, an seinen Zynismus und die feige Tapferkeit, mit der er sich tagtäglich in die Arbeit prügelte. Im Rückblick schien es ihm, als hätte Julia seine Verzweiflung immer recht gut gefallen, es entsprach ihrem Sinn für Gerechtigkeit, dass man seinen Lebensunterhalt im Schweiße seines Angesichts zu verdienen hatte.
„Schau mal, das Magazin der Metzgerinnung sucht einen Redakteur. Es erscheint sechs Mal im Jahr.“
„Zu blöd. Ich habe mich eben entschlossen, Vegetarier zu werden“, sagte Gerd und räumte die Teller ab. Nach dem Abwasch ging er noch auf einen Sprung hinunter zum See.

Eine Beratung mit seinem Buchhändler ergab, dass es keine Fachliteratur zu seiner Freizeitbeschäftigung gab. Er war auf Trial und Error angewiesen. Seine bisherigen Erfahrungen deuteten darauf hin, dass neben dem flachen Eintrittswinkel auch der Spin, mit dem der Stein auf der Wasseroberfläche auftraf, entscheidend war. Auch begann er, sich mit der idealen Form der Wurfgeschoße auseinander zu setzen. Sehr flache Wurfsteine waren zu leicht. Sie hüpften anfangs zu weit und verloren dabei an Schwung. Unwuchtige Steine, die auf einer Seite dicker waren als auf der anderen, führen zu unvorhersagbaren Ergebnissen. Waren sie aber zu rund, war es schwer, ihnen genug Spin mitzugeben. Langsam begann seine Hand ein Gefühl dafür zu entwickeln, welcher Stein besser oder schlechter geeignet war, und wie man seine Nachteile durch den richtigen Griff korrigieren konnte, und so verging die Zeit.
Sie redeten selten und fast immer ging es um Gerds berufliche Zukunft. Es schien Julia einen kleinen Genuss zu bereiten, ihn mit den Ansprüchen der Arbeitswelt zu konfrontieren, und er wurde hellhörig für die leisen Zwischentöne ihrer Tischgespräche. Manchmal ließ sie eine Doppelseite mit Stellenanzeigen offen am Frühstückstisch liegen, und immer wieder versah sie ein Inserat mit einem roten Kreis. Da sie während der Woche rotierte, wurden die Wochenenden der bevorzugte Schauplatz solcher Auseinandersetzungen. Vorausschauend zog er am Sonntagmorgen den Teil mit den Stellenanzeigen aus der Mitte der Zeitung und schob ihn unter einen Stapel mit Magazinen, doch als er aus dem Bad kam, lag er wieder obenauf, und nach dem Frühstück schmökerte Julia mit großem Interesse darin. In ihren rasch hin und her wandernden Pupillen witterte er die Sehnsucht, ihn in einen Klon seiner Nachbarn zu verwandeln, die jeden Morgen um halbacht mit unauffälligen Krawatten in ihre dunklen Dienstwägen stiegen. Er sprach kein Wort darüber, aber der Preis, den er für eine solche Zurückhaltung zahlte, war, dass das Zurückgehaltene in ihm ad infinitum auf kleiner Flamme weiterbrodelte.
Als am Samstag darauf keine Zeitung vor der Tür lag, war sie überrascht.
„Ich habe das Abo abbestellt“, klärte Gerd sie auf. Warum sollten sie einer Zeitung als Leser die Treue halten, die ihn als Schreiber im Stich gelassen hatte?
„Und das geht von heute auf morgen? Haben wir nicht bis Ende des Jahres bezahlt?“
„Hire and Fire“, entgegnete Gerd. „So funktioniert das in der modernen Wirtschaft.“ Er gratulierte sich zu dieser Schlagfertigkeit und rieb sich innerlich die Hände. Genaugenommen hatte er in der kaufmännischen Abteilung angerufen und einer jungen Frau zu verstehen gegeben, er betrachte die weitere Zustellung der Zeitung als Belästigung und würde notfalls mit Anwalt dagegen vorgehen. Julia stieß heftig Luft durch die Nase, wie jedes Mal, wenn Gerd von der modernen Wirtschaft sprach. Sie schien den kleinen Seitenhieb auf ihre Weltanschauung diesmal besonders intensiv zu empfinden. Das Wochenende versprach interessant zu werden.
Am Nachmittag überraschte ihn Julia mit Gästen, als er vom Training zurückkam. Die Kuhns lebten in einem Vorzeigehäuschen, zwei Steinwürfe von ihrem entfernt, ein Vorzeigepaar, das man jederzeit in einen Werbespot für Anlageprodukte, Lebensversicherungen oder – hätten sie bloß ein paar Kinder gehabt – Cornflakes stellen konnte. Alles in ihrem Fünfzimmerhaushalt roch nach Erfolg, sogar die Toiletten, wovon Gerd sich vor etlichen Wochen selbst überzeugt hatte, als er mit Julia bei ihnen zum Tee war. Vielleicht war es diese nicht beglichene Einladungsschuld, die Julia dazu bewog, sie nach dem Einkaufen einfach mitzunehmen, und nun saßen sie in ihrer Wohnlandschaft, tranken einen Gin Tonic und sahen ihn amüsiert an. Wussten auch sie vom Ende der Kolumne? Gerd bemerkte, dass ihn der Gedanke kalt ließ. Auf die üblichen Fragen antwortete er knapp und ausweichend, doch dann lockte Frank ihn mit dem Zeigefinger zur Couch. „Übrigens“, er senkte die Stimme und tat ganz vertraulich, „könntest du dir vorstellen, zwei oder drei Mal pro Woche in der Firma ein Korrektorat der wichtigeren Schriftstücke zu machen? Du würdest uns einen wahnsinnigen Gefallen tun.“
Er hatte sich zu Gerd vorgelehnt, doch seine Augen hüpften hin und her, sie konnten sich nicht zwischen Julia und ihm entscheiden, vor allem als er vom „wahnsinniger Gefallen“ sprach. Den ersten Vokal dehnte er so entsetzlich, dass Gerd davon übel wurde, was seine Reaktionsfähigkeit herabsetzte. Er haspelte etwas von einem schlechtem Zeitpunkt, er könne nichts versprechen, er sei gut ausgelastet. Doch als Frank ihn fragte, wie er sich denn nun die Zeit vertreibe, konnte er es sich nicht verkneifen, seine Steine zu erwähnen. Julias Stirn kräuselte sich. Bislang hatte sie es vorgezogen, seine neue Lieblingsbeschäftigung zu ignorieren, doch nun schlug Frank ihm kurzerhand einen Wettkampf vor, und ihr blieb nichts anderes übrig, als sich ihnen anzuschließen.
Frank war Verkaufsleiter eines Sportartikelherstellers und entsprechend kompetitiv. Schon als sie den knirschenden Kieselweg hinunterstapften, unterhielt er sie mit Heldentaten aus seiner Kindheit. Normalerweise hätte ihn seine Selbstverliebtheit abgestoßen, doch diesmal betrachtete Gerd ihn mit der unverdienten Milde, die der erste warme Frühlingstag auch in den bittersten Menschen freisetzt. Dann verteilte er die Steine. Schon Franks erster Wurf gelang, sein Stein flutschte siebenmal über das Wasser. Danach warfen Cornelia und Julia jeweils eine Zwei, doch während Cornelia laut aufkreischte und ehrlich mit sich haderte, blieb Julia angesichts ihres Misserfolgs völlig teilnahmslos. Dann warf Gerd, sein Auge zeichnete die Linie vor, und auch sein Stein hüpfte siebenmal auf. Er wollte es damit gut sein lassen, doch Frank verlangte ein Stechen, und Cornelia schloss sich dieser Forderung vehement an. Frank konzentrierte sich wie vor einem Golfturnier, und alle standen still um ihn herum. Als er den Stein wegschleuderte, erwartete jeder einen triumphalen Wurf, doch das Projektil hüpfte bloß dreimal und sackte in den See. Nun stellte sich Gerd schräg zum Ufer, knickte das rechte Bein ein und federte ein paarmal auf und ab, bis er die richtige Höhe gefunden hatte, erst dann ließ er den Stein über das Wasser segeln.
„Ich glaube das war öfter als zehn“, sagte Cornelia.
Gerd hatte zwölf Sprünge gezählt, doch er behielt seine Meinung für sich. Es war belanglos. Er dachte an die beiden kleinen Russen, mit denen er lieber geworfen hätte.
„Der Sieg gehört dir“, sagte Frank und reichte ihm die Hand wie nach einem echten Wettkampf.
„Was soll’s“, sagte Gerd. „Der Stein siegt eigentlich nie. Langfristig gewinnt immer das Wasser.“
„Laotse“, sagte Cornelia. „Das weibliche Prinzip besiegt das männliche.“
Dann bat sie ihn, seine Technik genauer zu erläutern, und sie warf unter seiner Anleitung noch ein paar Steine. Gerd zeigte ihr, wie sie ihre Schnellkraft verbessern konnte und trat dabei hinter sie, doch beim Ausholen – vielleicht hatte er aus didaktischen Gründen etwas übertrieben – landete seine Faust in Franks Gesicht. Julia schrie auf, Cornelia tat einen Satz zur Seite und schlug sich die Hände vor das Gesicht. Frank hielt sich die Nase. Schnell war Julia mit einem Taschentuch zur Stelle. Natürlich war es ein Unfall. Ob er einen Arzt bräuchte? Frank winkte ab. Es war nicht viel passiert, das versicherte man einander mehrere Male, aber der Nachmittag war ruiniert, und die Kuhns verabschiedeten sich kühler als Gerd es von früheren Anlässen in Erinnerung hatten. Sie drehten sich nicht um, als sie das Gartentor hinter sich ins Schloss fallen ließen.
Julia stand vor dem Haus und hielt die Arme über der Brust verschränkt. Es würde Streit geben. Dabei war es tatsächlich ein wunderschöner Tag gewesen. Über ihnen spannte sich immer noch ein blauer Himmel, und es war schade, dass man ihn auf dies Art verschwenden musste.
„Du hast es absichtlich getan.“
„Und wenn schon“, dachte Gerd und sagte: „Es war ein Unfall.“
„Ich möchte, dass dieses Steinewerfen aufhört. Merkst du nicht, dass du dich lächerlich machst?“
„Steinsegeln“, sagte Gerd. „Es heißt Steinsegeln.“
Sie wischte auf Höhe seiner Augen mit der flachen Hand eine unsichtbare Scheibe, als wäre sie plötzlich eine Südländerin. „Du bist ja nicht mehr bei Trost.“
„Wer im Glashaus sitzt, werfe den ersten Stein.“
„Und was hältst du von diesem Sprichwort: Man beißt nicht die Hand, die einen füttert?“

Ein kleiner, festgetrockneter Blutfleck auf einer der Uferplatten aus Beton war alles, was von dem Missgeschick übrig geblieben war. Aber wer, fragte sich Gerd, biss die Hand nicht? Ein aufsässiges Haustier? Ein Hamster? Leider fiel ihm diese Gegenfrage erst jetzt ein, als er längst wieder unten am See stand, allein. Und leider hatte er, bevor er das Garagentor zudonnerte, vergessen, Munition mitzunehmen, und inzwischen war nicht einmal mehr am Nachbargrundstück ein brauchbarer flacher Stein zu finden. Lange stand er regungslos da und betrachtete eine Plastiktasche, die in den Ästen hing. Dann zog er sich die Schuhe aus und ging einen Schritt in den See hinein. Das kalte Wasser prickelte auf seinen Waden, und die vom Wasser rundgeschliffenen, moosigen Steine kitzelten seine Fußsohlen wie kalte Fische. Das Wasser kühlte ihn innen und außen.
Und dann fand er ihn. Sogar mit den Zehen konnte man erkennen, dass er perfekt war. Der ideale Stein. Er schien etwas wuchtig, aber seine Form war makellos, er würde in der Hand liegen wie eine Waffe. Er hob ihn aus dem Wasser, trocknete ihn mit seinem Hemd und wog ihn lange, bis er die Temperatur seines Körpers annahm. Er unterdrückte den Wunsch, ihn in den See hinauszuschleudern, was aber nicht schwierig war. Nein, dieser Stein war zu kostbar, um ihn loszulassen. Er legte ihn in seine leere Plastiktasche und stieg hinauf zum Haus, aus dem ihm das blaue Licht des Fernsehers entgegen flackerte. Diesmal würde das männliche Prinzip nicht unterliegen.

 

Hallo,
das ist eine herausragende Geschichte. Aber ich musste mich zwingen, sie zu lesen. Sogar als ich sie spannend fand, musste ich mich dazu zwingen. Ganz erstaunlich. Sie macht keinen Appetit auf sich, es entsteht keine Lebensfreude, ist zu gedeckelt, geradezu planiert durch den Ton des Textes, der zur Hauptfigur passt.

Es ist ein ganz erstaunlicher Text, weil wirklich so viel für ihn spricht, aber er in Sack und Asche geht. Das liegt an der Sprache in der ersten Hälfte, die lange gleich bleibt. Die sich in belanglosen Bandwurmsätzen ergeht, die viele zu glatte Formulierungen hat, der Text bummelt steril und uncharmant vor sich hin, während sich dann in den Dialogen und Szenen wirklich gutes Zeug ereignet.

Aber der Text hat keine Mittel oder setzt keine Mittel ein, um in irgendeiner Form den Ton zu variieren oder das Tempo zu verändern, es ist nichts in der Form, was den Inhalt stützt oder was im Leser ein Kribbeln auslöst, ein "Wie geht das weiter? Was passiert?", sondern es bummelt so weg.
Und dann kann man sagen: Der Protagonist bummelt ja auch sein Leben weg. Und unterdrückt seine Weut und seine Gefühle. Und das macht der Text ja auch. Ja, macht er. Aber "Form unterstützt Inhalt" ist ein ziemlich abstraktes Konzept. Wegen dem allein mag keiner einen Text.
Dieser Text täte unheimlich gut daran, den Leser a) sinnlich anzusprechen, b) das Tempo zu verändern und variabler in den Effekt zu werden, die er auslöst und c) auf dieses Deutsch grade zu Beginn zu verichten, bei dem man das Gefühl hat, man kennt jeden Sastz schon aus den Tageszeitungen, dieses Allerwelts-Schrift-Deutsch ist furchtbar.
Ich könnte das jetzt lang und breit im Detail durchgehen, warum die Sprache so komisch wirkt, aber ich hab gesehen, du bist ein böser Junge und antwortest nicht gescheit auf Kommentare oder kommentierst andere nicht, deshalb lass ich das.

Noch mal: Das ist ein wirklich toller Text, der in meinen Augen schlecht präsentiert wird. Obwohl die Gründe für diese Präsentation absolut einleuchtend sind. Die Präsentation passt perfekt zum Text, er wird dadurch in meinen Augen aber trotzdem nicht besser.
Der Text, den du hast, der müsste dieselben Gefühle auslösen wie ein Wes-Anderson-Film. Das wär der perfekte Ton für das, was du sagen möchtest, denke ich. Da wär er genau so bitter, würde die gleichen Frage nach Nützlichkeit, Persönlichkeit, sozialem Status, Männlichkeit, der Versorger-Rolle, die Notwendigkeit von Anerkennung stellen - aber charmanter, freundlicher.

Hier ist auf jeden Fall viel Talent zu bestaunen, bin ich mir sehr sicher
Quinn

 

Hallo Quinn,
Paul Thomas Anderson – hoffe ich doch.
Ich nehme mir deine Anmerkungen zu Herzen und kann mir auch gut vorstellen, dass ich dazu hier etwas schreibe, sobald ich mir einen Reim drauf gemacht habe. Brauche etwas Zeit. Ich vermute, dass du in den kritischen Teilen deines Beitrags die Meinung vieler Leser gut auf den Punkt gebracht hast. Ich quäle meine Leser ja fast noch mehr als meine Figuren, fürchte ich.
Danke schon mal für deine Rückmeldung.

baronsamedi

 

Nein, Wes Anderson. Das war schon richtig. Das ist auch ein wichtiger Unterschied.

 

Hallo Quinn,

das interessiert mich jetzt doch sehr. Wes Anderson? Ich vermute, dass ich ihn versehentlich für einen Regisseur von schwungvollen, aber flachen Komödien mit hohem Travestie-Anteil gehalten habe, die auf ein ironie- und anspielungssüchtiges Collegepublikum zugeschnitten sind. Ich verfolge sein Werk aus diesem Grund die letzten Jahre nicht mehr. Ich denke dabei an Filme wie Royal Tenebaums und Rushmore.
Meistens gibt es auch den Aspekt einer durchgeknallten Familie, die exzentrische Talente hervorbringt oder hervorgebracht hat. Es fällt mir sehr schwer, aus dieser Welt einen Funken auf meine Figurenwelt überspringen zu lassen. Bist du dir sicher, dass das eine Spur ist, auf der ich fündig werde? Ich wollte mich nur noch mal vergewissern. Vielleicht kannst du mir auch einen konkreten Film nennen, der mich auf die richtige Fährte führt, ich wäre dir dankbar.
Ich ahne jetzt zumindest, was du mit Sack und Asche gemeint hast.

Wie auch immer, ich vermute, soviel Sonne kann ich beim besten Willen nicht in meine Welt lassen. Andererseits weiß ich, dass du vorher genau den Punkt getroffen hast, an dem ich ansetzen muss. Denn natürlich hätte ich gerne, dass Leute mein Zeug gerne/lieber lesen.

 

Wes Anderson kann meisterhaft Tragik mit Heiterkeit verbinden, indem er lächerliche Figuren schafft, die sich ernst nehmen und dadurch Größe gewinnen.
Aber das ist halt: Wenn das für dich schon flache Heiterkeit und Frohsinn ist, dann ist das natürlich kein Weg für dich. Dann bin ich aber auch niemand, der dir irgendwas zu deinem Text sagen kann.

Ich finde der Text brauch dringend einen Hopser in seinem Schritt. Wenn du das nicht möchtest, wenn dir das "zuviel Sonne" ist, dann bin ich nicht dein Leser. Wenn du jetzt aus dem Text, den du hast, dann das noch schwermütiger und noch getragener und noch grandiöser hinbiegen willst, dann weiß ich es auch nicht.

Du hast im Kern ein ironisches Thema. Da ist ein Mann, der sich selbst Bedeutung beimisst und leidet, aber niemanden interessiert es. Aber er geht davon aus, dass es alle interessieren muss. Dass er, die Stimme des Volkes, nun nicht mehr gehört wird. Und dann findet er eine Sache, in der er gut ist, und das findet der Rest exzentrisch bis lächerlich. Und dann beschließt er das einzige Problem zu lösen, das er sieht, nämlich seine Frau.
Also für mich ist das eine im Kern hochironische Geschichte. Möchtest du als Leser denn wirklich, dass ich mit einem Mann leide, der nach 92 Wochen nun nicht mehr seine Kolumne schreiben darf und der dadurch seines Lebensinhalt verliert? Soll ich mit dem "ernsthaft leiden"? Das ist Barton Fink, den du hier hast. So einer Figur kommt man am besten mit Mitteln der Farce und der Ironie bei.

Wenn du das grandios und dramatisch möchtest und hier eine echte "Leidensgeschichte" erzählen willst, dann hab ich den Text aber komplett missverstanden. Aber ein pseudo-intellektueller "Trophy Husband", der an der eigenen Bedeutungslosigkeit leidet, und für den es das Schlimmste ist, wieder einen gut bezahlten Job als Werbetexter anzunehmen ... also ...

 

"Du hast im Kern ein ironisches Thema. Da ist ein Mann, der sich selbst Bedeutung beimisst und leidet, aber niemanden interessiert es. Aber er geht davon aus, dass es alle interessieren muss. Dass er, die Stimme des Volkes, nun nicht mehr gehört wird. Und dann findet er eine Sache, in der er gut ist, und das findet der Rest exzentrisch bis lächerlich. Und dann beschließt er das einzige Problem zu lösen, das er sieht, nämlich seine Frau.
Also für mich ist das eine im Kern hochironische Geschichte. Möchtest du als Leser denn wirklich, dass ich mit einem Mann leide, der nach 92 Wochen nun nicht mehr seine Kolumne schreiben darf und der dadurch seines Lebensinhalt verliert? Soll ich mit dem "ernsthaft leiden"? Das ist Barton Fink, den du hier hast. So einer Figur kommt man am besten mit Mitteln der Farce und der Ironie bei."

Ja, eine ironische Figur, das siehst du völlig richtig. Ich habe mich aber bemüht, ihm in seiner Wehleidigkeit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, also ihn nicht als die Witzfigur zu zeichnen, die er von außen wahrscheinlich ist. Ihn also stark von innen her zu zeigen. Natürlich ist sein Protest lächerlich, aber ich will doch zeigen, dass hier jemand um seine Würde kämpft, zunächst mit lächerlichen und zum Schluss ja auch mit ernsten, aber bedenklichen Mitteln, aber eben doch ein Kampf um Würde.
Das heißt, ich darf diese Ironiekarte fast nie ausspielen, oder? Hier ist wohl der Unterschied zu Anderson.
Aber ich muss mich vorerst mal mit deinem ersten Input beschäftigen, da ist noch einiges drin.

 

"Das ist Barton Fink, den du hier hast."

Gutes Stichwort. Ich liebe die Filme der Coen Brüder. Sie sind getragen von einem Gefühl, das ich in manchen von meinen Texten haben will. Auch in diesem. Weiß nur noch nicht, wie ich das einfangen soll.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo baronsamedi,
die Geschichte hat mich am Lesen gehalten, obwohl nicht viel passierte. Für mich war es so, dass Julia im Laufe der Handlung so an Sympathie gewann, wie diese für ihren Mann abnahm. Die Verrücktheit des Steinwefers wurde angenehm langsam aufgebaut sorgte während der Szene mit dem Nachbarehepaar am See für den Wechsel.
Der Erzählstil hat mir gefallen.
Das noch:

Da sie während der Woche rotierte, wurden die Wochenende der bevorzugte Schauplatz solcher Auseinandersetzungen.
Wochenenden
... und inzwischen war nicht einmal mehr am Nachbargrundstück ein brauchbarere flacher Stein zu finden.
ein brauchbarer
War unterhaltsam zu lesen!
Viele Grüsse
Fugu

 

Ich habe mich aber bemüht, ihm in seiner Wehleidigkeit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, also ihn nicht als die Witzfigur zu zeichnen, die er von außen wahrscheinlich ist. Ihn also stark von innen her zu zeigen. Natürlich ist sein Protest lächerlich, aber ich will doch zeigen, dass hier jemand um seine Würde kämpft, zunächst mit lächerlichen und zum Schluss ja auch mit ernsten, aber bedenklichen Mitteln, aber eben doch ein Kampf um Würde.
Ich glaube, dass Du diese Würde stillschweigend voraussetzt. Du würdest vermutlich Probleme bekommen, ihm wirklich Würde anzudichten, denn er hat schlicht keine.

Mir fehlt ein Verhältnis, der Kontext in dem die Geschichte steht. Als Autor hast Du die Wahl, aus welchem Blickwinkel Du die Figur betrachtest und mein Eindruck ist, dass Dir dieser Blickwinkel nicht ganz klar war oder ist. Und deswegen hängt die Geschichte in der Luft und verschenkt ihr größtes Potential. Dieser Typ könnte wirklich tragisch sein und tausendmal interessanter sein, wenn er wirklich lächerlich, wirklich würdelos dargestellt wäre. Aber so siehst Du ihn eindeutig nicht.

Sein Protest so wie er jetzt da steht, ist nicht lächerlich. Die Leute übergehen ihn und er ärgert sich, er fühlt sich wertlos und ärgert sich. Was ist daran lächerlich?
Sein Protest wäre lächerlich und tragisch, wenn Du dem Leser zeigen würdest, wie bedeutungslos es ist, ob der sich ärgert. Bedeutungslosigkeit ist tragisch. Vielleicht wohnt ihr sogar eine gewisse Würde inne. Aber dazu gehört ein anderer Blickwinkel.

Soweit meine Gedanken.

LG
Ane

 

Die Figur hat: a) Eine Frau gewählt, die sich offenbar überhaupt nicht für ihn interessiert. b) Einen Freundeskreis, der überhaupt kein Interesse an dem hat, was er macht. c) Schreibt er eine Kolumne, die offenbar keiner liest, den er kennt. d) Kann diese Kolumne sofort gestrichen werden, ohne dass sich wer für ihn ausspricht. e) Glaubt er offenbar, dass ihm diese Kolumne "zusteht" und ohne sie fühlt er sich nutzlos.

Jetzt gäbe es - gerade heute, wenn man das ernst nimmt - ja x Möglichkeiten, so eine Kolumne fortzusetzen: Im Internet vor allem. Oder wenn er gut ist und eine Leserschaft hat bei Konkurrenzmagazinen. Aber sich als "Journalist" hinzusetzen und zu sagen: Ich hab kein Forum mehr, ich schmolle: Das ist nicht das Verhalten eines Menschen, dessen Probleme ich ernst nehmen kann. Das ist der Knackpunkt hier, deshalb wirkt die Figur total kindisch auf mich und ich dachte das wär auch so ironisch angelegt.
Ich hab wirklich nicht geahnt, dass der Autor diese Figur so total ernst nimmt. Da spricht für mich dann aber ein gerüttet Maß Naivität daraus, wenn man so eine Form von "Behörden-Journalismus" unterstützt: Der hat jetzt eine Kolumne und die hat er bis zum Lebens-Ende!

Auch diese Idee immer: da ist einer gegen den Neoliberalismus, dafür hassen ihn die Firmen und er wird gefeuert ... wenn man das wirklich erzählen möchte, dann braucht das Stoff. Gegen den Neoliberalismus kann man auf jeden Fall sein.
Wenn du vor Ort anfängst über Läden oder Personen zu berichten, dann gibt es sicher Ärger. Ich hab das bisschen mitgemacht. Da wirst du wirklich zum Chef gerufen und der sagt dir: "Das und das kann passieren, wir könnten verklagt werden, wir könnten Anzeigenkunden verlieren, wir könnten den und den Kontakt verlieren". Und da gibt es einen Brief vom Magistrat an den Verleger. So was passiert.
Das kann man dann aber auch erzählen und nicht sagen "Ich hab gegen den Neoliberalismus gewettert, deshalb wurde ich entlassen" - das ist die Begründung von Spinnern, sorry.

Ich bin tatsächlich bisschen irritiert, dass es dann heißt: Wenn du Journalist wärst, könntest du diesen Bedeutungsmangel nachvollziehen. Ja mei: Wenn man eine Kolumne hat, die keiner liest, dann hat man keine Bedeutung. Man hat ein Auskommen, ja.

Es gibt auf jeden Fall große Probleme im Journalismus, dass man mehr Wort pro Euro schreiben muss und dass darunter die Qualität leidet. Aber diese Figur in dem Text ist doch kein "leuchtendes Vorbild für Journalismus", sondern das ist einer, der glaubt, ihm steht eine Kolumne, ein Forum zu, obwohl das offenbar kein Mensch liest.
Und wer ist denn dafür verantwortlich? Jawohl er selbst.

Also als "ernster" Text funktioniert der für mich überhaupt nicht. Der funktioniert als Farce, als tragik-komisches Geschichte über einen gekränkten Mann, der unter einem Bedeutungsverlust leidet. Das ist aber alles selbstverschuldet, was der mitmacht.
Aber der Text funktioniert überhaupt nicht in Richtung: Der arme Mann, die Wirtschaft ist gegen ihn, die Frau ist gegen ihn, ständig widerfährt ihm Unrecht, Drama-Drama. Da hätte man den Text komplett anders aufziehen müssen.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Marc, Ane, Quinn, Fugusan

von Patricia Highsmith gibt es eine Geschichte, deren Namen ich nicht weiß. Ein Typ wohnt über einem Innenhof und ist genervt, weil unten immer rücksichtslose Jugendliche Fussball spielen. Er startet als sympathisches Opfer in die Geschichte, fühlt sich tyrannisiert von diesen jungen Leuten, die ihm sofort frech kommen, als er sie mal freundlich bittet, jetzt am Abend nicht mehr so laut zu spielen. Aber dann tut er etwas sehr Überzogenes und wirft einen Stein auf die Leute hinab, und einer der Spieler bricht zusammen.
Ich glaube an ihrer Geschichte hat mich interessiert, wie einer Figur die Sympathie entzogen wird, weil sie einfach eine Grenze überschreitet, über die man als anteilnehmender Leser nicht zu gehen bereit ist.
Bei mir in dieser Geschichte ist das eher so ein langsames Wegdriften, das sich vorbereitet durch sein etwas kindisches Verhalten bei den Schwiegereltern und sich dann steigert.
Zwischendurch sollte man immer auch den Eindruck habe: Recht hat er, lass dich nicht verarschen! Zieh dein Ding durch! Ich habe das oben Kampf um Würde genannt, was aber nicht ganz passt. Das Steinewerfen ist ja eher so eine Art Übersprungshandlung als echte Selbstverwirklichung.
Man könnte auch sagen, es wird ihm der Boden seiner komfortablen Existenz weggezogen und plötzlich wird klar, dass er ziemlich seltsame Anlagen hat, die sich nun durchsetzen. Ich glaube, damit wollte ich den Lesern ein bisschen gruseln. Es wäre schön, wenn man sich zunächst ein bisschen für ihn schämt, wie für einen problematischen Verwandten, der sich bei einer Familienfeier schlecht benimmt, dem man aber prinzipiell wohlwollend gegenüber steht. Und gegen Schluss kann das dann noch einmal umschlagen in echte Ablehnung.

Keinesfalls sollte das so rüberkommen: Seht, weil der Medienkapitalismus so gnadenlos ist, muss der arme Kerl völlig ausflippen. Dabei wäre das ja auch nicht ganz falsch, aber ich halte Thesenliteratur ja als Leser schon nicht aus. Also diese Art von "Ernst" strebe ich sicherlich nicht an.

Ich habe über Quinns Aussagen oben vor ein paar Tagen nachgedacht und glaube, dass man die Geschichte auch als Farce hätte schreiben können. Nur das Ende hätte ich dann anders gesehen. Hatte dann auch so eine Idee, dass er oben den Stein einfach nur hinlegt, und seine Frau verwendet diesen perfekten Stein später als Seifenablage im Badezimmer oder so.

PS: Bei Highsmith kommt der Typ übrigens damit durch und wird nie zur Rechenschaft gezogen.

 

Hallo,

Ich habe die Geschichte vor ein paar Tagen gelesen. Vor allem die letzte „Szene“ hat einen starken Eindruck hinterlassen, so dass ich zwischendurch immer wieder daran denken musste. Das passiert mir, wenn Geschichten beim Lesen Bilder erzeugen, die sich dann verselbständigen und hängen bleiben, als Bilder/Szenen, nicht unbedingt nur als Text.
Du bietest uns mit "Gerd" einen Typen an, der wenig Eigenschaften hat, aber nicht zum Mann ohne Eigenschaften taugt. Das ist ein Typ, der ist grau, mittelmäßig, unauffällig - aber er ist dabei so wahnsinnig in seinem Narzissmus gekränkt, das er das Zeugs zum „nutcase“ hat.
Das könnte ein Fassbinder'scher *Herr R.* sein, einer der plötzlich Amok läuft. In den letzten Sätzen - da unten am See - braut sich was zusammen, eine Krise. Was macht er jetzt? Setzt er sich jetzt ruhig zu seiner Frau vor die Glotze? Oder was anderes? Implosion? Explosion? Der Text tickt weiter und das gehört für mich mit zu seiner guten Dramaturgie …
oder einfach: starker Text und angemessen auch gute Kommentare hier im Forum …

 

Hallo baronsamedi

Die Geschichte, deren Titel Steinsegler mich bisher nicht anzuziehen vermochte - dachte ich doch irrtümlich es handle sich um eine Vogelart aus der Ordnung Apodiformes -, ist souverän geschrieben. Ohne jeglichen Reibungsverlust bot sich mir der Einstieg an. Kolumnist für eine renommierte Zeitung setzt einen Background voraus, den ich mir in Wirtschaft oder Kultur, evtl. auch in Politik oder Soziales breitflächig etabliert vorstelle. Damit war mein Interesse geweckt. Einzig bei der Berufsbezeichnung von Julia kam mein Verständnis etwas ins Trudeln. Nun in diesem Metier, Consulting, gibt es natürlich vielfältige Variationen, also klinkte ich mein Zögern und Nachdenken, was mit Realitäten in diesem Bezug gemeint sein mag, aus. - Da kommt mir in den Sinn, die Österreicher beziehen es, glaube ich zumindest, auf Immobilien?

Die Figur von Gerd liess mich zunehmend etwas zaudern. Mit seiner labilen Persönlichkeit wirkte er mir zu wenig prädestiniert, als dass er jemals durch einen Redakteur als Kolumnist in Betracht gezogen werden konnte. Da fehlt mir etwas das ihn auszeichnete, das ihn für eine solche Berufung opportun wirken liess, aber auch einen eklatanten Bruch in seiner seelischen Entwicklung, die seine Mutlosigkeit und seine depressive verstimmte Haltung, die nicht neu zu sein scheint, erklärt. Wie er sich selbst eingesteht, ermöglicht eine solche Teilzeitarbeit kein Auskommen mit dem Einkommen, ist etwa gleichgestellt einem Volontär bei einer Zeitung. Aus Überzeugung schien er nicht vorwiegend Hausmann zu sein, und da keine Kinder vorhanden waren, bestand auch kein familiärer Zwang. Eine Frau wie Julia müsste da doch bereits früher Einwände gehabt haben.

„Russen“, dachte Gerd,

Den Gedanken hätte ich hier eher kursiv gesetzt, losgelöst von der Zeichensetzung, die bei der direkten Rede Anwendung findet. Also: Russen, dachte Gerd,

Julia stieß heftig Luft durch die Nase, wie jedes Mal, wenn Gerd von der modernen Wirtschaft sprach. Sie schien den kleinen Seitenhieb auf ihre Weltanschauung diesmal besonders intensiv zu empfinden.

Für mich als Leser blieb es da etwas offen, da bis anhin nicht erkenntlich war, dass zwischen den beiden diesbezüglich eine Diskrepanz besteht. Gerds Vorstellungen von Ökonomie sah ich bisher nur im Konflikt zur redaktionellen Orientierung. Auch später kristallisierte dies sich nicht.

Der Ausgang der Geschichte ist flach, er fand einen idealen Stein. Insgesamt ist es gut erzählt, einfühlsam geschrieben, doch löst es sich auf einer Ebene ohne jegliche Wandlung auf. Dies ist schade, da eine solche von einer Geschichte erwartet wird, in Abgrenzung zu andern Textformen.

Aufgrund des flüssigen Stils war es mir jedoch angenehm zu lesen, auch wenn es vom Inhalt her wenig hergibt, das mir nachhaltig im Gedächtnis bleiben wird.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hey baronsamedi,

und ein spätes, aber nicht weniger herzliches Willkommen von mir!

Zuerst das Gute. Ich habe den Text schon gern und mit Interesse gelesen. So rein sprachlich hat er mich wirklich angesprochen. Eigentlich auch die Idee dahinter, wie gesellschaftliches Ansehen mit einem Job gekoppelt ist, und wie man denkt, man ist plötzlich ein Niemand, wie sensibel man auf die Umwelt reagiert und Neid und Wut in einem keimt, das fand ich schon teilweise schön beobachtet. Also das Thema an sich finde ich toll. Auch wie langsam der Text ist, wieviel Zeit er sich nimmt, das ist ja kein Mega-Action-Plot, sondern das ist Alltag, gemächlicher Alltag und den muss man erst mal lesbar aufbereiten, ohne das der Leser zwischendrin aussteigt und sagt: kenne ich, langweilt mich.

Aber!, je weiter ich im Text vorwärtskam, je mehr konnte ich den Prot. nicht für voll nehmen, d.h. ich habe ihn nicht mehr als Figur zu fassen bekommen. Mir war irgendwie überhaupt nicht klar, was jetzt eigentlich sein Problem ist. Erschwerend kommt hinzu, dass ich für Leute, die sich nur hinstellen und sagen die Gesellschaft ist schuld und jetzt soll die Gesellschaft mal machen, dass es mir wieder gut geht, so gar keine Sympathien hege.
Zurück zum Nichtverstehen des Problems. Die beiden leben im Rollentausch, Frau ernährt die Familie, Mann schmeißt den Haushalt. Damit ist er jetzt nicht ganz so glücklich, soweit geh ich ja noch mit. Bleibt aber unterm Strich, durch den Wegfall der Kolumne ändert sich erst mal nicht viel in deren Leben. Weder Haus noch Lebensstandard sind bedroht. Es reißt also nur ein Loch in sein Ego. Aber in welches Ego denn? Schreiben scheint für ihn jetzt nicht so der Ausgleich, die Aufwertung, die Profession zu sein, zu der er sich berufen fühlt. Denn wenn es so wäre, würde er jetzt 'nen Block aufmachen, sich sagen, ich habe den Luxus von Zeit, da meine Frau das Geld ranschafft (er hat sozusagen einen Mäzen) und das ist ja wohl ein mehr ein Segen als ein Fluch, wenn man dann soviel Zeit hat, dem nachzugehen, wofür man sich berufen fühlt. Oder er hat mehr Zeit für einen Roman, für Artikel über was weiß ich. Übrigens hab ich ihn als sehr kleingeistig wahrgenommen und mich die ganze Zeit gefragt, was so ein Typ in der Kolumne eigentlich zu sagen hätte, ob die nicht einfach nur schlecht ist und daher da Absetzen doch mehr als gerechtfertigt. Das ist ja eigentlich schon wieder gut gelungen, wenn dem so ist. Er selbst kann das so ja nicht sehen. Niemand sieht sich selbst als Kleingeist. Zurück. Also, Schreiben als Profession fällt aus. Kolumne weg, er schreibt nicht mehr. Also scheint er sich über diesen Minijob als gesellschaftlich vollwertiges Mitglied zu identifizieren (daher mein Kleingeistgedanke). Aber wenn Job so wichtig für sein Ego, warum in aller Welt lehnt er es dann so ab, in die Hände zu spucken und sich was Neues zu suchen? Weil er sich da in seiner - ich bin gebrochen worden - Situation so wohlfühlt? Da serviert man ihm Sachen auf dem Silbertablett und er immer nur so - heul, nee, ich will keine Almosen, ein Motiv, was ich durchaus verstehen kann, aber er selbst tut doch da auch nichts? Ich will nichts anderes, ich will meine beschissene Kolumne zurück, in der ich nichts zu sagen hab und ich schreib die sowieso nur, weil meine Schwiegermutter mich dafür mag, weil sie zu ihren Freundinnen sagen kann, mein Schwiegersohn hat das geschrieben! Ob das in der Realität so läuft oder nur in seinem Kopf, sei mal dahingestellt. Das ist schon auch ein interessanter Aspekt, der in so Geschichten mit reinspielt. Aber gut, Schwiegermutter scheint das jetzt nicht so zu stören, er zieht sich da selber weiter in das Loch, projiziert auf sein Umwelt seine eigenen Werte - aber was sind die?
Künstler im Herzen ist er nicht, Job will er nicht, Hausmann zu sein genügt ihm nicht, was zur Hölle will er?
Steine werfen. Okay. Er will in was gut sein. Er will sich beweisen, er kann auch etwas. Er bringt es auf 10/12 Aufsetzer. Das ist ja manchmal schon wirklich irre, womit Leute dann ihr Ego trösten, aber er flüchtet da eben in den Nonsinn und ich frag mich, warum? Existenz - alles gut. Frau - alles gut. Er könnte schreiben, ohne davon leben zu müssen - ein Lottogewinn! - weil ohne Druck. Und sag mir jetzt nicht, diese poplige Kolumne hat bisher sein Männerego am Leben gehalten. Das kauf ich dem Prot. nicht ab. Er ist so ne Heulboje für mich und zum Ende hin hab ich gedacht, gute Frau, was findest du eigentlich an dem Kerl? Wofür liebst du den? Was gibt er dir? Der weiß doch mit sich nichts anzufangen. Der ist wie so ein Kind, dass man in den Buddelkasten setzt und dort muss man ihn noch beschäftigen, weil er es selbst nicht kann.

Wie gesagt, gutes Thema, schöne Beobachtungen, toll geschrieben. Nur der Prot. der trägt das für mich nicht. Der ist für mich nicht der Prot. den eine solche Geschichte brauchen würde. Weil, dessen Probleme sind Luxusprobleme und seine Persönlichkeit einfach zu sehr mit Weichzeichner geschrieben, der macht da irgendwie rum, aber warum und weshalb, das geht für mich in ihm als Figur einfach nicht auf.

Trotzdem schön, dass Du hier her gefunden hast. Auch wenn es bei der Geschichte für mich nicht so ganz hinhaut, irgendwann fegste mich sicher vom Stuhl. Da bin ich mir sicher.

Beste Grüße, Fliege

 

Hallo Fliege,

du hast dich wirklich stark auf die Geschichte eingelassen, und auch ich konnte dadurch einen neuen Blick auf den Protagonisten werfen. Ja, alles was du sagst, ist irgendwie schlüssig, aber mir gingen beim Lesen deiner Anmerkungen viele Gedanken durch den Kopf – bis hin zu so zweifelhaften Konzepten wie "Nationalcharakter". Als ich in den 90ern das erste Mal mit dem Nachtzug von Wien nach Berlin gefahren bin, kriegte ich am Zielbahnhof die Tür nicht auf, dann schob mich so ein schlecht gelaunter Berliner Arbeiter, der frühmorgens in einem der Vororte zugestiegen war, beiseite, hieb mit dem Arm auf den Hebel und meinte: "Nicht so mädchenhaft, junger Mann!" Ich erwähne das, weil das, was du vom Protagonisten forderst, vergleichbar ist: dass er etwas mannhafter auftritt. Wie auch immer, ich glaube diese kleine morgendliche Begegnung hat meine Wahrnehmung des Deutschen oder Preussischen irgendwie mitgeprägt. Etwas Preussisch-Unerbittliches lag für mich auch immer über der Lektüre von Döblin u.ä. Ein eigener Ton, wo mich immer etwas fröstelt, auch wenn ich diesen Ton bewundere. Das war so ein Gedanke. Weiter will ich das hier nicht vertiefen.
Kann aber auch sein, dass ich noch einmal versuche, den Aspekt des Luxusproblems besser auf den Punkt zu bringen, indem ich das ganze in Richtung Humor umschreibe. Muss dafür halt einen guten Tag erwischen.
Danke jedenfalls für diesen Anstoss.

baronsamedi

 

Hallo baron samedi (ist eine Figur aus dem Vadou, oder?)

ich habe mich lange um diese Geschichte, bzw um ein Kommentar, herumgedrückt. Ich denke, in deinem Kopf sieht dieser Text ganz anders aus, als er dir dann aus den Fingern geflossen ist. Sprachlich ist das gut gemacht, keine Frage. Du montierst auch ein interessantes Bild, diesen Mann, der ohne irgendetwas da steht, der allem beraubt scheint. Ein Anti-Mann. Passt auch ins Zeitgeschehen. Der müsste nur noch in die Therapie. Da fehlt mir dann aber ein Gegengewicht. Fliege hat da vieles gesagt. Es müsste schon ein dickerer Job sein, lass ihn den Henri Nannen Preis gewonnen haben oder so, da muss Fallhöhe her. Sonst wirkt es tatsächlich nur wie ein lächerlicher Typ.

Mein Hauptproblem ist aber: Ich finde die Sprache ein wenig zu brav. Die ist sehr glatt, aber ich habe das Gefühl, unter dieser Oberfläche, da geht es richtig ab. Im Prinzip glaube ich deswegen auch, du wolltest einen anderen, einen härteren, schrofferen Text schreiben, und ich denke, das würde auch gut passen. Mehr Ecken, mehr Kanten. Ist nur meine Meinung.

Gruss, Jimmy

 

Hallo,
jetzt habe ich die Geschichte auch mal zu Ende gelesen. Ich glaube, ich habe sie 3-4 Mal angefangen, und bin immer so nach dem ersten Viertel ausgestiegen. Zu Unrecht eigentlich, der Text kann schon jede Menge, aber ich bin doch zwiegespalten.
Ich glaube, mich hat vor allem immer die Sprache vertrieben, ich konnte mich gar nicht auf sie einlassen. Bin mir nicht so sicher, welche Aspekte mich daran so gestört haben, vllt ist es dieses Sezierende, dieses steif-analytische, vllt fehlt mir hier ein wenig die Poesie, vllt benennst du nach meinem Geschmack ein paar Dinge zu viel, statt den Leser sie selbst fühlen zu lassen, keine Ahnung, zum Inhalt passt sie aber. Irgendwann habe ich hineingefunden, und bin recht beeindruckt wieder hinaus.
Doch, das ist zum größtenteil scharf beobachtet. Der moderne Mann und so, das habe ich in den Komms gelesen, er kocht auch richtig gut, ja, stimmt schon, und so von außen betrachtet, ist man schnell dazu geneigt, den Typen mit seinem Problem albern zu finden, aber ich finde ihn eigentlich gar nicht lächerlich, irgendwo armselig schon, das ist ja auch in der Geschichte angelegt, aber lächerlich - ne. Das ist halt seine Realität, seine persönliche Tragödie, das kann schon alles sein, will ich als Außenstehender gar nicht werten, wie man sich in einer Situation fühlt, wenn man seines Selbstverständnisses beraubt wird, wie bescheuert und weicheiig dieses nach meinen eigenen Maßstäben auch sein mag. Sympathie kriegt Gerd bei mir nicht, Mitleid auch nicht, aber ich sehe da schon die Tragik, also bekommt der mein Verständnis.
Ja, ich finde die Geschichte unterm Strich gut, auch wenn mich die Sprache so abgestoßen hat. Der Text trifft einen Nerv, reizt und penetriert diesen bis zu einer gelungenen Auflösung. Bleibt in Erinnerung.
Grüße
randundband

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom