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Steinsegler
Die Kolumne war alles andere als ein einträglicher Job, aber sie hatte ihm neben den paar Euro jede Menge Freikarten und die Anerkennung seiner Schwiegereltern gesichert. Sie war – genaugenommen – die Eintrittskarte in seine bürgerlichen Existenz gewesen, dachte Gerd, als er den Brief des Herausgebers sorgfältig zusammenfaltete und in das Kuvert zurückschob, als könnte man die Vertragsauflösung dadurch ungeschehen machen. Dass mit Julias Einkommen ohnehin die wesentlichen Ausgaben bestritten wurden, war ihm klar, auch wenn er weit davon entfernt war, die ebenso komplizierten wie langweiligen Geldflüsse ihres hypothekenbelasteten Zweipersonenhaushalts genau zu durchschauen. Er wusste nicht einmal, wie viel sie mit ihrer Beratungstätigkeit verdiente, genauso gut hätte man ihn fragen können, worin diese seltsame Arbeit eigentlich bestand, Realitätenconsulting. Als er ihr nach dem Abendessen den Brief hinüberschob, nahm sie es gelassen. Sie überflog ihn wie einen belanglosen Werbeprospekt, während sie zwei Löffel vom Nachtisch (Crème Brûlée mit Mandelmilch, beides von ihm selbst zubereitet) naschte. Als sie ihn zurückreichte, nickte sie auffallend zufrieden, als wäre es ihr gelungen, zwischen den Zeilen eine zuversichtliche Botschaft herauszulesen, die ihm in der Trostlosigkeit des Nachmittags verborgen geblieben war.
„Einige Leute werden enttäuscht sein, wenn sie nächste Woche das Blatt aufschlagen“, sagte er.
„Natürlich“, sagte Julia. Sie streichelte ihm über die Hand und setzte damit eine rätselhafte innerkörperliche Mechanik in Gang, die seine Augen zum Brennen brachte, die Schultern zucken ließ, und am Ende entfuhr ihm ein Seufzer, der an das Horn eines Ozeandampfers denken ließ. Das darauffolgende Schweigen und die warme Hand taten ihm gut, doch als er aufstand, um den Tisch abzuräumen, deutete sie an, dass sich das Malheur aus finanzieller Sicht in Grenzen hielt, wozu sich Sorgen machen. Zweifellos sollte ihn dieser Hinweis beruhigen, doch stattdessen spürte er einen Stich. Julia tat den Fall als Lappalie ab. Und obschon ihre Sichtweise etwas Tröstliches hatte, fand er es nicht richtig, dass sie seinen Beitrag zur Wohlfahrt ihrer kleinen Schicksalsgemeinschaft so deutlich herunterspielte. Der Verdacht, dass das Ende der Kolumne seinen Status als vollwertiger Ehepartner weiter untergraben könnte, stieg in ihm hoch, und dieses Gefühl hielt an, während er sich um die Küche und den Abwasch kümmerte und Julia sich im Wohnzimmer gelangweilt durch das Abendprogramm zappte. Danach ging er geradewegs in sein Arbeitszimmer und griff zu irgendeinem Buch, das er erst zur Seite legte, als aus dem Schlafzimmer die gleichmäßigen Atemgeräusche einer Schlafenden drangen.
Die nächsten Tage spielte Julia die Rolle der verständnisvollen Ehefrau und unterstützte seine Sichtweise, die in der Kündigung einen unverdienten Schicksalsschlag sah. Selten ließ sie durchblicken, dass es nicht sehr klug gewesen war, ständig gegen den Neoliberalismus zu wettern, wenn das überschuldete Blatt längst einem Bankenkonsortium gehörte.
Dann kam der Samstag, und zum ersten Mal seit achtundneunzig Wochen erschien die Beilage ohne seine Kolumne. Immerhin, Julias Gleichgültigkeit hatte ihn davor bewahrt, in ein Loch existenzieller Verzweiflung zu stürzen, und dafür musste er ihr dankbar sein. Dennoch: Seine Rolle als Kulturschaffender, als ein nützliches Glied der Gesellschaft stand auf dem Spiel, sollte es ihm nicht irgendwie gelingen, ein vergleichbares Projekt an Land zu ziehen – und das in einer Zeit, in der sich die Medienwirtschaft des Landes im freien Fall befand! Aber was noch viel schlimmer war: Das sublimierte Fluchtverhalten, mit dem er sich die letzten Jahre gewohnheitsmäßig über Wasser hielt, die übliche Bewältigungsstrategie für all seine Alltagsprobleme, griff jetzt nicht mehr. Normalerweise hätte er ein vergleichbares Unglück zum Wochenthema einer Kolumne gemacht und sich die Sorgen einfach vom Leib geschrieben, im Glauben an das seit den Tagebuchtagen seiner Jugend vertraute Wunder, dass die Verschriftlichung seiner Probleme gleichzeitig deren Lösung war. Nein, Julia hatte Unrecht, es waren mehr als die paar Euros, die Eintrittskarten und das respektvolle Lächeln seiner Schwiegereltern, die er eingebüßt hatte. Es ging um die innere Festigkeit, die ihm das Schreiben verlieh und die er seinem Dasein beim besten Willen nicht auf anderem Weg abtrotzen konnte, so sehr er sich auch bemühte.
„Habe ich dir gesagt, dass meine Eltern uns zum Abendessen einladen?“
Julia riss ihn aus seinen Gedanken, und Gerd brauchte länger als gewöhnlich, um eine passende Antwort zu finden. Nein, sie hatte es ihm nicht gesagt, wozu auch, er hatte samstags gewöhnlich keine Pläne, doch diesmal störte ihn, dass sie Einladungen in seinem Namen annahm, ohne ihm Bescheid zu geben. In seiner momentanen Verfassung wirkte dieses Versäumnis wie eine vorweggenommene Entmündigung.
„Ok. Warum nicht.“
Sie kannte ihn gut, und als sie die ungewöhnliche Intonation am Ende seiner Frage bemerkte, blieb sie wie festgefroren an der Schwelle zu seinem Arbeitszimmer stehen.
„Ist noch was?“
Gerd schüttelte den Kopf, ohne sich zu ihr umzudrehen. Er konzentrierte sich auf den Cursor, der seit einer Viertelstunde geduldig auf und ab blinkte, und versuchte den nächsten Buchstaben zu erraten. Erst viel später, als er sich am Beifahrersitz den Gurt festzurrte, rückte er mit der Sprache heraus.
„Die Kolumne. Weißt du, man muss ihnen vielleicht nicht alles auf die Nase binden. Du weißt wie sie sind. Man könnte vielleicht behaupten, dass sie sich einfach totgelaufen hat, und ich bereits ein neues Projekt vorbereite.“
„Ein neues Projekt?“
„Ist doch egal. Sagen wir, ich habe mit dem Verlag Stillschweigen vereinbart.“
Julia schüttelte amüsiert den Kopf und startete den Wagen. Die ganze Fahrt über wurde das Thema nicht mehr angeschnitten. Gerd hätte sich lächerlich gefühlt, ihr eine explizite Zustimmung zu seiner neuen Version der Wahrheit abzuringen. „Es ist kein Lüge“, sagte er sich. „Ich habe nächste Woche den Termin bei Herzl, verkaufe ihm eine neue Kolumne, und damit hat es sich.“
Der Abend lief von Anfang an nicht gut. Er stieß sein Wasserglas um, und in dem darauffolgenden Serviettentanz der beiden Frauen drückte ihn sein Schwiegervater behutsam in die Couch und klopfte ihm auf den Kopf wie einem Lausbuben, der nach seinem Streich ein wenig Zuspruch und Verständnis brauchen konnte. Zu seiner Überraschung sprach während des Aperitifs niemand die verschwundene Kolumne an, obwohl die angefeuchtete Wochenendbeilage die ganze Zeit zwischen ihnen auf dem Couchtisch lag und seine Schwiegermutter eine seiner eifrigsten Leserinnen war. Stattdessen verstrickte sie ihn in harmlose Causerien, die ihn einschläferten. Julia redete mit ihrem Vater über die Arbeit, ein lupenreines Männergespräch, gespickt mit Fachwörtern aus der Finanzwirtschaft, während er selbst, wie üblich, das Damenprogramm absolvierte. Vielleicht würde Christine ihm beim Abschied wieder ein Kochrezept aufdrängen.
Sie ist präpariert, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Natürlich! Die Vorstellung, dass Julia sein Missgeschick mit den Eltern längst abgesprochen hatte, ohne ihn davon in Kenntnis zu setzen, war ihm die ganze Zeit nicht in den Sinn gekommen. Zum ersten Mal seit der Kündigung stieg echter Ärger in ihm hoch. Ein guter, starker Ärger, der die Larmoyanz der letzten Tage in einer einzigen Sekunde wegwehte. Um seinen Verdacht sofort zu überprüfen, griff er zur Zeitschrift und blätterte darin herum, schlug dann für alle gut sichtbar die Seite auf, wo einst seine Kolumne ihren Platz hatte und sich nun eine Reportage über Schweizer Uhren und ihre chinesischen Zwillingsbrüder breit machte. Sie erfüllte ihn mit weiterem Grimm. Hatte er eine klaffende Lücke erwartet? Er las ein paar Sätze, scheinbar gedankenlos, doch zwischendurch schielte er hinüber zu seiner Schwiegermutter, die gütig lächelte und sich weigerte, den Ball aufzunehmen.
„Ich bin jetzt übrigens arbeitslos, Christine“, sagte er ganz aus dem Zusammenhang, als sie ihn nach seinen Rückenproblemen fragte, und nachdem er nichts tat, um den Satz in einen erklärenden Rahmen zu stellen, wuchs das Schweigen zwischen ihnen zu so bedrohlicher Größe an, dass sich Julia aus ihrem Vatergespräch ausklinkte und hastig das Geheimprojekt ins Spiel brachte. Ihr verschwörerischer Tonfall und das törichte Nicken der beiden Alten wirkten auf Gerd so lächerlich, dass er entgegen seiner sonstigen Gewohnheit laut auflachen musste. Der Whiskey seines Schwiegervaters begann sein kleines Drama endlich in eine vernünftige Perspektive zu rücken.
Nach dieser unerquicklichen Szene übersiedelte man rasch ins Esszimmer, und der Ortswechsel nährte bei allen die Hoffnung, Gerd möge seine bedenkliche Laune auf der Couch zurückgelassen haben. Christine servierte die Vorspeise, und ihr Gatte schenkte jedem ein Glas Weißwein ein. Man prostete sich zu, doch niemand sprach einen Toast. Und auch während des Essens gab es neben den üblichen Höflichkeiten kein Tischgespräch. Was nicht ausgesprochen wird, verstopft die Gedanken. Das Ticken der Standuhr höhnte unausgesetzt aus der Ecke und erinnerte alle Anwesenden daran, dass sie sich nichts zu sagen hatten. Der Hirschbraten war so zäh wie die Versuche seiner Schwiegereltern, die Konversation mit alten Urlaubsanekdoten zu beleben, und Gerd ließ die halbe Portion am Teller liegen. Nach dem Espresso brachen sie sofort auf. Gerd hatte einiges getrunken, und Julia fürchtete eine Szene. Sie schob ihn mit dem Mantel in der Hand durch das Vorzimmer, doch es gelang ihm am Ende, sich noch einmal zu den beiden Gastgebern umzudrehen, einen Finger an die Lippen zu legen und verschwörerisch das Wort „Geheim“ zu flüstern.
Auch im Fahrzeug wurde nur das Nötigste gesprochen, Julia schien zu müde für einen Streit. Man sah ihrem Gesicht die Anstrengung der Arbeitswoche an und ahnte die Schmerzen hinter ihren Schläfen. Fast tat es ihm leid, dass er durch seine Empfindlichkeiten den Abend ruiniert hatte.
„War das notwendig?“
Ihr Angriff erfolgte ohne Vorwarnung, unmittelbar nach der Autobahnausfahrt, als er sich bereits in Sicherheit wähnte.
„Sie haben es gewusst“, antwortete Gerd.
„Bitte?“
„Meine Kolumne. Du hast ihnen alles verraten.“
„Wie kommst du darauf?“
„Du hast Sie gut vorbereitet.“
Julia, das wusste er, hatte nicht die Kaltblütigkeit, ihm ins Gesicht zu lügen, aber ihre Aufmerksamkeit wurde vom Verkehr in Anspruch genommen, und mit Blick auf den Mittelstreifen log es sich leichter.
„Vielleicht solltest du Dr. Herzl eine Enthüllungskolumne anbieten. Undercover-Reporter Gerd Weber deckt auf!“
Gerd ließ es dabei beruhen, doch als sie ausstiegen, ging er nicht mit ins Haus, sondern stieg die Treppe hinunter zum Baggersee, um flache Steine ins schwarze Wasser zu werfen, die sich allerdings weigerten, öfter als zweimal aufzuhüpfen. Rund um den See leuchteten zwanzig Einfamilienhäuser wie das ihre, und Gerd fragte sich, ob ihre Bewohner in diesem Moment ein glücklicheres Leben führten als er selbst. Er fühlte sich wie ein Reisender ohne Koffer in einem fremden Land, dessen Alphabet er nicht beherrschte. Er fühlte sich allein.
Am nächsten Tag – Julia war früh aufgestanden und hatte nichts als eine Einkaufsliste für den Supermarkt am Esstisch zurückgelassen –, notierte er sich nach dem Frühstück ein paar Stichwörter für das Gespräch mit Herzl und als ihm nichts mehr einfiel, ging er wieder hinunter zum See. Er sammelte alle flachen Steine ein, die er finden konnte, und ließ sie einen nach dem anderen über das Wasser springen. Es ging vor allem darum, das Handgelenk locker zu halten und sich nicht zu verkrampfen. Mit roher Gewalt bewirkte man gar nichts. Entscheidend war die Schnellkraft. Ob es Fachliteratur dazu gab? Unter welchem Stichwort sollte man danach suchen?
„Ein Hobby ohne Namen“, dachte Gerd amüsiert, und doch hätte er schwören können, einst dafür ein Wort besessen zu haben. Das Bild eines anderen Baggersees stieg vor ihm auf, ohne Häuser, ohne parzellierte Uferzugänge, die jungen Stimmen der anderen Kinder und wie sich das pralle Licht der Mittagssonne auf den segelnden Kieseln reflektierte. Aber das Wort war so wenig greifbar wie die Steine von damals. Die Erwachsenensprache schien es nicht der Mühe wert zu finden, derart sinnlose Tätigkeiten zu benennen, und Gerd erfand kurzerhand das Wort Steinsegeln. Gestatten, Gerd Weber. Steinsegler. Am nächsten Tag schaffte er einmal sieben und zweimal sechs Sprünge. Am dritten Tag ging sein Vorrat zur Neige, aber der letzte Stein hüpfte achtmal über den See.
Der Termin bei Herzl war ein Desaster, er bekam ihn nur ein paar Minuten zu Gesicht. Als er begann, seine Idee zu skizzieren, und sich zweimal verhedderte, bat Herzl ihn, alles in einer E-Mail zusammenzufassen und an seine Sekretärin zu schicken. Fünf Minuten später stand er wieder vor der spiegelnden Fassade des Medienhauses, eine uneinnehmbare Festung aus Glas.
Anstatt auf dem kürzesten Weg nach Hause zu fahren, machte er einen Abstecher beim Baumarkt und belud den Kofferraum mit zwei Fünfzigkilosäcken weißen Kieselsteinen aus der Gartenabteilung. Sie waren herrlich flach und von der gleichmäßigen Größe einer Kinderhand. Als er um fünf das Auto in die Garage stellte, füllte er eine alte Plastiktasche mit soviel Steinen, wie er tragen konnte, und schleppte sie hinunter zum See. Die Aufregung des Nachmittags hatte seine Konzentration angegriffen, aber bereits nach einer Viertelstunde erreichte er seine Normalform. Zweimal eine Fünf, zweimal eine Sechs, eine Sieben.
Als er spät ins Haus zurückging, fühlte er sich ausgeglichen.
„Schreibst du gar nichts mehr?“ fragte Julia.
Die ganze Woche hatte er seinen Computer gemieden, als trüge er Mitschuld an seiner Misere. Wenn Julia ihn aus dem Haus locken wollte, lehnte er unter Vorwänden ab. Sie hatte abends häufig gesellschaftliche Verpflichtungen und war es gewohnt, ihn mitzuschleppen. Doch Gerd hatte keine Lust, von erfolgreichen Menschen auf den Verlust seiner Kolumne angesprochen zu werden. Herzls Büro hatte auf sein E-Mail noch nicht geantwortet, und wenn er ehrlich zu sich war, durfte er sich keine großen Chancen ausrechnen. Wie ein verwundetes Tier zog er es vor, seine Wunden fernab der Öffentlichkeit zu lecken.
Am nächsten Tag war offenbar schulfrei, denn auf seinem Platz standen zwei Jungen mit bunten Segeljacken. Der eine hatte seine Badehose mitgenommen, aber es war noch zu kalt, um ins Wasser zu gehen, eben erst waren die ersten Blüten an den Enden der Kirschzweige aufgeplatzt. Gerd stellte seine Plastiktasche neben das Stoffbündel mit den Badesachen und tat, als würden ihn die Kinder nicht stören. Nach dem dritten Stein, einer respektablen Sechs, wechselten sie in einer fremden Sprache ein paar Worte.
„Russen“, dachte Gerd, und fragte sich, wie sich der Zuzug ihrer Familien wohl auf die Preise der umliegenden Immobilien auswirken würde, sowie auf den Wert ihres eigenen Hauses. Er könnte Julia beim Abendessen dieses gehaltvolle Diskussionsthema anbieten und machte sich gedanklich eine Notiz.
„Mein Vater schafft zwölf“, sagte der kleinere Junge ohne jeden Akzent.
„Es kommt nicht darauf an, was andere Leute schaffen“, sagte Gerd und reichte ihm einen Stein.
„Ich will auch einen“, sagte der größere Junge, und Gerd gab jedem zwei Steine.
Sie warfen abwechselnd, und Gerd gewann mit einer makellosen Sieben. Sie schauten ihren Würfen nach, bis die Wellenkreise einander berührten und sich dann auflösten.
„Was machen Sie beruflich?“, fragte der erste Junge.
Gerd betrachtete die beiden etwas genauer. Der Kleine: dicke Brillengläser und ein Gesicht voller Sommersprossen, mutmaßlicher Hang zur Besserwisserei. Der andere sah wie ein typischer Russe aus, blond, mit wasserhellen Russenaugen und diesen hohen Wangenknochen. Er würde ein guter Sportler werden, hatte bereits die tiefe, flache Sportlerstimme, die auf physisch intakte, nicht sehr interessante Menschen hinweist, auf Kerle, die gerne für harte Jungs gehalten werden; ein Gehabe, das in den Jahren der Pubertät nur imitiert wird, bis es sich festwächst.
„Undercoverjournalist“, sagte Gerd.
Der kleine Junge nickte, schien aber nicht sehr beeindruckt zu sein.
„Wisst ihr überhaupt, was das ist?“
„Nein, sagte der andere Junge. „Nicht genau.“
„Ist auch besser so“, sagte Gerd. „Mein Beruf ist streng geheim.“
Die Jungen musterten ihn von Kopf bis Fuß und schienen erst jetzt ein wenig Respekt vor ihm zu entwickeln. Er griff wieder zu den Steinen, warf eine Vier, Sechs und Fünf, und die beiden wischten sich die sandigen Hände an ihren Hosen ab und verschwanden.
„Ich glaube es ziehen Russen an den See“, sagte er, als er die Fischsuppe servierte.
Julia nickte, doch sie biss nicht so begeistert an, wie er es erwartet hatte. Sie murmelte ein paar Wörter, von denen ihm lediglich der Begriff Verkehrswert im Gedächtnis haften blieb. Nach dem letzten Bissen schob sie ihren Teller zur Seite und griff in den Zeitungsstapel. Auf der Titelseite stand in großen Lettern „Karriere“, doch Julia blätterte zielstrebig zu den kleinen Inseraten im hinteren Bereich der Beilage, wo sich die wenig lukrativen Stellenangebote befanden. Vermutlich hätte sie ihn am liebsten zurück in eine schmierige Werbeagentur geschickt, dachte Gerd, damit er sich sein Geld als Texter verdienen konnte, wie damals vor acht Jahren, als sie sich kennenlernten. Machte sie sich Sorgen um seinen Verkehrswert? Gerd dachte fröstelnd an die verlorenen Jahre, in denen er Reklametexte schrieb und bloß im Herzen Schriftsteller war, an seinen Zynismus und die feige Tapferkeit, mit der er sich tagtäglich in die Arbeit prügelte. Im Rückblick schien es ihm, als hätte Julia seine Verzweiflung immer recht gut gefallen, es entsprach ihrem Sinn für Gerechtigkeit, dass man seinen Lebensunterhalt im Schweiße seines Angesichts zu verdienen hatte.
„Schau mal, das Magazin der Metzgerinnung sucht einen Redakteur. Es erscheint sechs Mal im Jahr.“
„Zu blöd. Ich habe mich eben entschlossen, Vegetarier zu werden“, sagte Gerd und räumte die Teller ab. Nach dem Abwasch ging er noch auf einen Sprung hinunter zum See.
Eine Beratung mit seinem Buchhändler ergab, dass es keine Fachliteratur zu seiner Freizeitbeschäftigung gab. Er war auf Trial und Error angewiesen. Seine bisherigen Erfahrungen deuteten darauf hin, dass neben dem flachen Eintrittswinkel auch der Spin, mit dem der Stein auf der Wasseroberfläche auftraf, entscheidend war. Auch begann er, sich mit der idealen Form der Wurfgeschoße auseinander zu setzen. Sehr flache Wurfsteine waren zu leicht. Sie hüpften anfangs zu weit und verloren dabei an Schwung. Unwuchtige Steine, die auf einer Seite dicker waren als auf der anderen, führen zu unvorhersagbaren Ergebnissen. Waren sie aber zu rund, war es schwer, ihnen genug Spin mitzugeben. Langsam begann seine Hand ein Gefühl dafür zu entwickeln, welcher Stein besser oder schlechter geeignet war, und wie man seine Nachteile durch den richtigen Griff korrigieren konnte, und so verging die Zeit.
Sie redeten selten und fast immer ging es um Gerds berufliche Zukunft. Es schien Julia einen kleinen Genuss zu bereiten, ihn mit den Ansprüchen der Arbeitswelt zu konfrontieren, und er wurde hellhörig für die leisen Zwischentöne ihrer Tischgespräche. Manchmal ließ sie eine Doppelseite mit Stellenanzeigen offen am Frühstückstisch liegen, und immer wieder versah sie ein Inserat mit einem roten Kreis. Da sie während der Woche rotierte, wurden die Wochenenden der bevorzugte Schauplatz solcher Auseinandersetzungen. Vorausschauend zog er am Sonntagmorgen den Teil mit den Stellenanzeigen aus der Mitte der Zeitung und schob ihn unter einen Stapel mit Magazinen, doch als er aus dem Bad kam, lag er wieder obenauf, und nach dem Frühstück schmökerte Julia mit großem Interesse darin. In ihren rasch hin und her wandernden Pupillen witterte er die Sehnsucht, ihn in einen Klon seiner Nachbarn zu verwandeln, die jeden Morgen um halbacht mit unauffälligen Krawatten in ihre dunklen Dienstwägen stiegen. Er sprach kein Wort darüber, aber der Preis, den er für eine solche Zurückhaltung zahlte, war, dass das Zurückgehaltene in ihm ad infinitum auf kleiner Flamme weiterbrodelte.
Als am Samstag darauf keine Zeitung vor der Tür lag, war sie überrascht.
„Ich habe das Abo abbestellt“, klärte Gerd sie auf. Warum sollten sie einer Zeitung als Leser die Treue halten, die ihn als Schreiber im Stich gelassen hatte?
„Und das geht von heute auf morgen? Haben wir nicht bis Ende des Jahres bezahlt?“
„Hire and Fire“, entgegnete Gerd. „So funktioniert das in der modernen Wirtschaft.“ Er gratulierte sich zu dieser Schlagfertigkeit und rieb sich innerlich die Hände. Genaugenommen hatte er in der kaufmännischen Abteilung angerufen und einer jungen Frau zu verstehen gegeben, er betrachte die weitere Zustellung der Zeitung als Belästigung und würde notfalls mit Anwalt dagegen vorgehen. Julia stieß heftig Luft durch die Nase, wie jedes Mal, wenn Gerd von der modernen Wirtschaft sprach. Sie schien den kleinen Seitenhieb auf ihre Weltanschauung diesmal besonders intensiv zu empfinden. Das Wochenende versprach interessant zu werden.
Am Nachmittag überraschte ihn Julia mit Gästen, als er vom Training zurückkam. Die Kuhns lebten in einem Vorzeigehäuschen, zwei Steinwürfe von ihrem entfernt, ein Vorzeigepaar, das man jederzeit in einen Werbespot für Anlageprodukte, Lebensversicherungen oder – hätten sie bloß ein paar Kinder gehabt – Cornflakes stellen konnte. Alles in ihrem Fünfzimmerhaushalt roch nach Erfolg, sogar die Toiletten, wovon Gerd sich vor etlichen Wochen selbst überzeugt hatte, als er mit Julia bei ihnen zum Tee war. Vielleicht war es diese nicht beglichene Einladungsschuld, die Julia dazu bewog, sie nach dem Einkaufen einfach mitzunehmen, und nun saßen sie in ihrer Wohnlandschaft, tranken einen Gin Tonic und sahen ihn amüsiert an. Wussten auch sie vom Ende der Kolumne? Gerd bemerkte, dass ihn der Gedanke kalt ließ. Auf die üblichen Fragen antwortete er knapp und ausweichend, doch dann lockte Frank ihn mit dem Zeigefinger zur Couch. „Übrigens“, er senkte die Stimme und tat ganz vertraulich, „könntest du dir vorstellen, zwei oder drei Mal pro Woche in der Firma ein Korrektorat der wichtigeren Schriftstücke zu machen? Du würdest uns einen wahnsinnigen Gefallen tun.“
Er hatte sich zu Gerd vorgelehnt, doch seine Augen hüpften hin und her, sie konnten sich nicht zwischen Julia und ihm entscheiden, vor allem als er vom „wahnsinniger Gefallen“ sprach. Den ersten Vokal dehnte er so entsetzlich, dass Gerd davon übel wurde, was seine Reaktionsfähigkeit herabsetzte. Er haspelte etwas von einem schlechtem Zeitpunkt, er könne nichts versprechen, er sei gut ausgelastet. Doch als Frank ihn fragte, wie er sich denn nun die Zeit vertreibe, konnte er es sich nicht verkneifen, seine Steine zu erwähnen. Julias Stirn kräuselte sich. Bislang hatte sie es vorgezogen, seine neue Lieblingsbeschäftigung zu ignorieren, doch nun schlug Frank ihm kurzerhand einen Wettkampf vor, und ihr blieb nichts anderes übrig, als sich ihnen anzuschließen.
Frank war Verkaufsleiter eines Sportartikelherstellers und entsprechend kompetitiv. Schon als sie den knirschenden Kieselweg hinunterstapften, unterhielt er sie mit Heldentaten aus seiner Kindheit. Normalerweise hätte ihn seine Selbstverliebtheit abgestoßen, doch diesmal betrachtete Gerd ihn mit der unverdienten Milde, die der erste warme Frühlingstag auch in den bittersten Menschen freisetzt. Dann verteilte er die Steine. Schon Franks erster Wurf gelang, sein Stein flutschte siebenmal über das Wasser. Danach warfen Cornelia und Julia jeweils eine Zwei, doch während Cornelia laut aufkreischte und ehrlich mit sich haderte, blieb Julia angesichts ihres Misserfolgs völlig teilnahmslos. Dann warf Gerd, sein Auge zeichnete die Linie vor, und auch sein Stein hüpfte siebenmal auf. Er wollte es damit gut sein lassen, doch Frank verlangte ein Stechen, und Cornelia schloss sich dieser Forderung vehement an. Frank konzentrierte sich wie vor einem Golfturnier, und alle standen still um ihn herum. Als er den Stein wegschleuderte, erwartete jeder einen triumphalen Wurf, doch das Projektil hüpfte bloß dreimal und sackte in den See. Nun stellte sich Gerd schräg zum Ufer, knickte das rechte Bein ein und federte ein paarmal auf und ab, bis er die richtige Höhe gefunden hatte, erst dann ließ er den Stein über das Wasser segeln.
„Ich glaube das war öfter als zehn“, sagte Cornelia.
Gerd hatte zwölf Sprünge gezählt, doch er behielt seine Meinung für sich. Es war belanglos. Er dachte an die beiden kleinen Russen, mit denen er lieber geworfen hätte.
„Der Sieg gehört dir“, sagte Frank und reichte ihm die Hand wie nach einem echten Wettkampf.
„Was soll’s“, sagte Gerd. „Der Stein siegt eigentlich nie. Langfristig gewinnt immer das Wasser.“
„Laotse“, sagte Cornelia. „Das weibliche Prinzip besiegt das männliche.“
Dann bat sie ihn, seine Technik genauer zu erläutern, und sie warf unter seiner Anleitung noch ein paar Steine. Gerd zeigte ihr, wie sie ihre Schnellkraft verbessern konnte und trat dabei hinter sie, doch beim Ausholen – vielleicht hatte er aus didaktischen Gründen etwas übertrieben – landete seine Faust in Franks Gesicht. Julia schrie auf, Cornelia tat einen Satz zur Seite und schlug sich die Hände vor das Gesicht. Frank hielt sich die Nase. Schnell war Julia mit einem Taschentuch zur Stelle. Natürlich war es ein Unfall. Ob er einen Arzt bräuchte? Frank winkte ab. Es war nicht viel passiert, das versicherte man einander mehrere Male, aber der Nachmittag war ruiniert, und die Kuhns verabschiedeten sich kühler als Gerd es von früheren Anlässen in Erinnerung hatten. Sie drehten sich nicht um, als sie das Gartentor hinter sich ins Schloss fallen ließen.
Julia stand vor dem Haus und hielt die Arme über der Brust verschränkt. Es würde Streit geben. Dabei war es tatsächlich ein wunderschöner Tag gewesen. Über ihnen spannte sich immer noch ein blauer Himmel, und es war schade, dass man ihn auf dies Art verschwenden musste.
„Du hast es absichtlich getan.“
„Und wenn schon“, dachte Gerd und sagte: „Es war ein Unfall.“
„Ich möchte, dass dieses Steinewerfen aufhört. Merkst du nicht, dass du dich lächerlich machst?“
„Steinsegeln“, sagte Gerd. „Es heißt Steinsegeln.“
Sie wischte auf Höhe seiner Augen mit der flachen Hand eine unsichtbare Scheibe, als wäre sie plötzlich eine Südländerin. „Du bist ja nicht mehr bei Trost.“
„Wer im Glashaus sitzt, werfe den ersten Stein.“
„Und was hältst du von diesem Sprichwort: Man beißt nicht die Hand, die einen füttert?“
Ein kleiner, festgetrockneter Blutfleck auf einer der Uferplatten aus Beton war alles, was von dem Missgeschick übrig geblieben war. Aber wer, fragte sich Gerd, biss die Hand nicht? Ein aufsässiges Haustier? Ein Hamster? Leider fiel ihm diese Gegenfrage erst jetzt ein, als er längst wieder unten am See stand, allein. Und leider hatte er, bevor er das Garagentor zudonnerte, vergessen, Munition mitzunehmen, und inzwischen war nicht einmal mehr am Nachbargrundstück ein brauchbarer flacher Stein zu finden. Lange stand er regungslos da und betrachtete eine Plastiktasche, die in den Ästen hing. Dann zog er sich die Schuhe aus und ging einen Schritt in den See hinein. Das kalte Wasser prickelte auf seinen Waden, und die vom Wasser rundgeschliffenen, moosigen Steine kitzelten seine Fußsohlen wie kalte Fische. Das Wasser kühlte ihn innen und außen.
Und dann fand er ihn. Sogar mit den Zehen konnte man erkennen, dass er perfekt war. Der ideale Stein. Er schien etwas wuchtig, aber seine Form war makellos, er würde in der Hand liegen wie eine Waffe. Er hob ihn aus dem Wasser, trocknete ihn mit seinem Hemd und wog ihn lange, bis er die Temperatur seines Körpers annahm. Er unterdrückte den Wunsch, ihn in den See hinauszuschleudern, was aber nicht schwierig war. Nein, dieser Stein war zu kostbar, um ihn loszulassen. Er legte ihn in seine leere Plastiktasche und stieg hinauf zum Haus, aus dem ihm das blaue Licht des Fernsehers entgegen flackerte. Diesmal würde das männliche Prinzip nicht unterliegen.