- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Steinerne Krallen
Das Steinkrallengebirge war ein gefährlicher Ort für Menschen. Selten verirrte sich ein Wandersmann in die Weiten der todbringenden Schluchten und Vorsprünge. War dies der Fall starb jener an Hunger oder Durst. Es war gut dass sich niemand in diese kalte nordische Gegend verlief, denn es war das Zuhause der Norddrachen. In einem Clan lebten sie in Gemeinschaft, jagten und lebten zusammen in Einklang. Das war zwar keine Seltenheit, aber es gab genug Clanlose unter ihnen und keiner wurde dazu gezwungen in Zusammensein zu leben.
Lym schüttelte seine schwarzen Flügel und befreite sich so von den Schneeresten. Jede Nacht schneite es, doch die ledrige Haut schütze ihn vor der Kälte. Nach einem brüllenden Gähnen schmatzte er kurz und warf einen Blick auf die Höhle gegenüber von seinem Schlafplatz, wo sich Felumer mit der Zunge die Schuppen säuberte.
"Felumer!", rief er ihr zu und ihre Saphiraugen wanderten zu seinem Felsvorsprung hoch. Grüßend winkte sie mit dem Schwanz und spannte ihre Flügel ebenfalls. Doch bevor sie sich erheben konnte hatte sich Lym vom Vorsprung gestürzt und war im Gleitflug die wenigen Meter zu ihr gekommen.
"Wollen wir heute wieder auf die Bergspitze? Sag nicht Nein, bitte!" Die Blaugeschuppte grunzte amüsiert und leckte sich über die Schnauze.
"Ich habe Hunger. Nach dem Essen können wir gern nochmal darüber reden.", erwiderte sie herausfordernd und erhob ihren schlanken Körper. Ihr Körperbau war viel geschmeidiger als seiner, aber sie war auch ein Winddrache. Lym selbst war ein Steinkrallendrache, pechschwarz mit starken Klauen; dafür aber nicht so geschickt im Fliegen wie seine Freundin.
"Wir können doch runter zum Fluss! Ich habe dort gestern viele Fische gesehen!", erwiderte er, versucht möglichst ermunternd zu klingen.
"Du fängst doch so oder so keinen." neckte sie ihn und schnippte ihm mit der Schwanzspitze gegen die Nüstern. "Aber wenn du dir diese Peinlichkeit geben möchtest, bitte."
"Ich werde dir hundert Fische fangen!", versicherte Lym und schnaubte angeberisch. Ohne ein weiteres Wort dazu hatte sich Felumer mit einem ruckartigen Flügelschlag in den Abgrund gestürzt und glitt mit einem Aufwind über die Gebirgswand davon zum Tal. Lym knirschte mit den Zähnen, ein wenig verärgert. Sie wusste genau, dass er nicht so gut fliegen konnte und sich mehr auf die Jagd verstand als auf künstlerische Flugeinlagen.
Es dauerte einige Minuten bis er sie einholte, aber er schaffte es.
"Wo sind die anderen?", fragte er gegen den scharfen Wind und segelte auf einer Böe, um ihr ein wenig zu imponieren. Er mochte Felumer, ja sehr sogar.
"Nythmalae hat einen Rat berufen!", rief sie und in ihre Augen trat ein besorgter Glanz. "Die Menschen kommen von Tag zu Tag näher. Er sorgt sich." Lym tat das mit einem Brummen ab. Nythmalae war der Älteste des Clans und lebte schon sehr lange. Er hatte die ersten Menschen gesehen und seitdem hatten die sich ausgebreitet wie Schuppenfäulnis. Nur den erwachsenen Drachen war es gestattet das Gebirge zu verlassen, aber sie brachten jedes mal Geschichten mit und manchmal sogar Wunden oder Narben am Körper. Die Menschen lebten in dem Irrglauben dass alle Drachen Böses wollten und sie fressen würden. Dabei hielten Drachen gar nichts von Menschenfleisch, sie bevorzugten Bergziegen oder den Fisch aus den Flüssen.
Mit der Zeit hatten sich die Drachen mehr und mehr aus dem Land zurückgezogen; in die Berge und an die äußersten Ränder des Festlands. In den Schauergeschichten hieß es, dass die Menschen Drachenherzen aßen um sich zu stärken und das Blut tranken um Weisheit zu erlangen. Lym schüttelte leicht den Kopf. Wieso waren diese Menschen nur so dumm und naiv?
"Oh sieh mal!", rief Felumer und sah aufgeregt nach unten. "Dreisan ist zurück!" Sie begab sich in einen steilen Sturzflug und Lym hatte Schwierigkeiten ihr zu folgen. Aber tatsächlich, auf der Lichtung im Nadelwald war das dreckige grau von Dreisan zu erkennen, der vor einigen Monden auf eine Reise ausgeflogen war. Seine Schuppen waren von einem tiefen grau, mit braunen Flecken durchzogen. Als hätte er sich in einer Matschprüftze gewälzt. Sein wuchtiger Körper war einzigartig im Clan. Als Steinbeißer war sein Körper ein einziger Berg aus Muskeln und mit dem Maul konnte er leicht größere Felsen zerbeißen.
Aber als die beiden Jungdrachen zur Landung ansetzten, merkte Lym dass etwas mit dem Riesen nicht stimmte. Er lag auf der Seite und schnaufte schwer durch seine Nüstern. Lyms scharfe Augen erkannten sofort den schweren Metallspeer in seiner Flanke. Dunkles Blut tränkte das Moos um Dreisan herum und auch seine Gefährtin sah es nun.
"Nein! Was ist passiert?" rief sie aufgeregt und beschnupperte besorgt Dreisans Wunde. Mühevoll stemmte er sich auf und sah die beiden aus seinen grauen Augen an.
"Menschen.", grollte er und versuchte mit den Flügeln zu schlagen. Ein schmerzerfülltes Stöhnen entwich ihm und er versuchte nicht weiter sich zu bewegen.
"Felumer, hol Hilfe. Er wird eine Heilerin brauchen.", murmelte Lym ihr zu und sie schoß augenblicklich in die Höhe, zurück zum Gebirge.
"Wo ist das passiert?", fragte Lym und ließ sich neben dem Verletzten auf die Hinterläufe nieder.
"Nicht weit von hier, vielleicht eine Tagesreise. Sie kommen näher, bald werden sie den Wald hier besetzen.", brummte der ältere Drache und sein Blick erfüllte sich mit Wut. "Über das Gebirge werden sie nicht kommen, aber das Jagen wird sehr schwer werden."
"Keine Sorge Dreisan, ich bin ein guter Jäger.", versuchte der Jungdrache ihn zu beruhigen. "Ich habe viel gelernt seit du aufgebrochen bist."
Ein grollendes Lachen kam aus der Kehle des Steinbeißers und er sah Lym in die Augen.
"Mag ja sein, aber selbst eine Steinkralle wie du kann nicht den ganzen Clan versorgen."
"Doch, wenn es sein muss!", erwiderte Lym gekränkt und hob die schuppenbedeckte Brust etwas an. "Der alte Nythmalae sagt ich werde so groß wie mein Vater!" Lyms Vater war einer der letzten Steinkrallen, bevor er von Menschen niedergestreckt und getötet wurde. Rjollnir hatte lange gelebt, aber sein Tod war hart gewesen für den jungen Drachen. Der Drachenvater war der Mentor seiner Kinder, bis sie erwachsen waren und sich in den Clan einfügten. Lyms Vater war einer der Großen Drachen gewesen, die in der Zeit der großen Klage gegen die übel gesinnten Drachen gekämpft hatte. Seit Rjollnir verstorben war, wurde sein Sohn weniger in der Hierarchie des Clans berücksichtig oder geachtet. In den Augen der anderen war er ein Taugenichts, ein Tagträumer. Nicht mehr als ein verspieltes Junges.
"Dein Vater war sehr mutig. Aber selbst er hat gegen die Menschen verloren mit ihren Katapulten und Magiern. Wir waren einst ein großes Volk, aber seit diese Winzlinge die Magie für sich entdeckt haben, sind sie lästig und gefährlich geworden. Sie wollen mehr, immer mehr vom Land und sie nehmen es sich einfach, ohne Rücksicht auf andere Wesen. Sie sind dumm." Dreisan sprach selten über die Menschen, doch wenn er es tat, war es nie etwas Gutes.
"Ja, dumm sind sie.", stimmte Lym ein und ließ den Kopf hängen. "Warum können wir sie nicht einfach angreifen? Wir sind so viel größer und wenn sich alle beteiligen würde es zu schaffen sein!"
Wieder lachte der Steinbeißer grollend, es klang wie ein Felsrutsch in Lyms Ohren. "Wir sind nicht wie sie. Wir achten das Leben anderer Wesen."
"Aber-"
"Lass gut sein, junger Steinkralle. Sieh lieber ob Felumer schon zurück kommt, dieser Speer tut höllisch weh." Lym schnaubte resignierend und erhob sich mit kräftigen Flügelschlägen in die Luft über der Lichtung. Wenn die Menschen wirklich schon so nah waren, war es eine Frage der Zeit bis sie das Gebirge erreichen würden und die Erzadern, das Hauptnahrungsmittel der Steinbeißer, abbauen würden. Wenn das geschah gäbe es viel zu viel Trubel um im Steinkrallengebirge weiterhin die Jungen aufzuziehen und der Clan müsste umziehen. Wie sollten sie die vielen kleineren Drachen und all die frisch gelegten Eier fort bringen? Die Jungtiere waren viel zu klein zum Fliegen und es wäre für die Alten unmöglich sich an einem anderen Ort einzugewöhnen.
Lym schnaubte besorgt und hielt die Augen nach Felumer offen.