Steinbrecher am Rand der Welt
‘Das ist wieder eine typische Schnapsidee von Neubauer’, dachte sich Karl Steinbrecher als er in dem kleinen Ford Fiesta seines Kollegen sass und ueber winzige Schotterstrassen und ungeteerte Flurwege durch die Wiesen und Felder im oestlichen Mittelfranken schaukelte. “Pass doch auf, ich schlag mir ja gleich den Kopf am Dach ein”, frotzelte er, als wieder mal eine besonders tiefe Bodenwelle die Gelaendegaengigkeit herausforderte.
“Wir sind gleich da – wenn ich mich recht erinnere, geht es nur noch durch das kurze Waldstueck und muessen wir das Auto ohnehin abstellen. Die letzten Meter koennen wir nur zu Fuss machen”, meinte Neubauer und liess die 23 PS laut aufroehren. “Auch das noch”, seufzte Steinbrecher und es war nicht ganz klar, ob er den Fussmarsch oder das Leiden des Motors dabei gemeint hatte.
Dabei hatte es anfangs noch ganz gut geklungen: “Hast Du Lust, mal einen Ausflug an den Rand der Welt zu machen? Ist nur eine Stunde von hier – gleich hinter Alfeld; jedenfalls hoert die Scheibe genau dort auf und kann relativ leicht besichtigt werden, falls der Weg nicht inzwischen aus Sicherheitsgruenden abgesperrt wurde.”
Steinbrecher hatte ganz schoen bloed geguckt, als ihm sein Kollege dies vorgestern vorgeschlagen hatte; dass dieser im lokalen Club der “Flacherdler” Ehrenmitglied war, wusste er zwar schon, aber dass die Auswuechse seiner Fantasie unterdessen solche Formen angenommen hatten, gab ihm schon zu denken. Aber nach einigem Hin und Her war Steinbrecher letztendlich zur Ueberzeugung gekommen, dass jegliche Aktivitaet, selbst wenn sie noch so unsinnig klang, die bessere Alternative zum Rumsitzen im Oberstorzinger Finanzamt war – und so hatte er dieser kleinen Spritztour am Freitagmittag zugestimmt.
Die Beiden erklaerten die Zeit fuer die Tour als extralange Mittagspause zwischen 11 und 16 Uhr und die Buchstaben H bis J vor dem “Bitte nicht Stoeren”-Schild an der Tuer, wuerden ohnehin am Montag wiederkommen.
Und so stapften sie jetzt durch Fichtenuntergehoelz eines verlassenen Waldstuecks in Mittelfranken und kaempften mit Dornengestruepp und Schnaken. Das heisst die kleinen Blutsauger waren gar nicht so laestig wie sonst, so kam es zumindest Steinbrecher vor, und auch die gewohnte Hintergrundkulisse des Waldes hoerte sich von Minute zu Minute stiller an. Kein Summen und Brummen, keine Voegel – einfach Nichts.
“Ist doch sonnenklar”, meinte Neubauer, “die armen Tiere fallen immer ueber den Rand oder fliegen ins Weltall – natuerlich meiden die eine solche Gegend.”
“Natuerlich, ist doch logisch; dass ich da nicht draufkam”, meinte Steinbrecher sarkastisch, schob die Zweige zwischen den letzten Fichtenstaemmen auseinander und schaute zum zweiten Mal in dieser Woche ziemlich bloed.
Denn da standen sie nun: zwei Meter vor ihnen hoerte der Waldboden auf, und ausser einer endlosen, lichten, himmelblauen Wand war nichts mehr dahinter zu sehen. Nach rechts und links war nur ein ausgefranster Rand auszumachen, mit Grasbuescheln, die halb heraushingen, mit schiefen Baeumen, die sich mit ihren Wurzeln kaum am Erdreich halten konnten und einem riesengrossen Abgrund direkt vor ihren Fuessen. Steinbrecher bekam weiche Knie und musste sich erst mal setzen – er war nicht schwindelfrei und normalerweise war selbst die Leiter zum 3-Meter Brett im Freibad eine Herausforderung fuer ihn; ganz zu schweigen vom Sprung selbst.
Und jetzt das ! Er robbte auf dem Hosenboden vorsichtig nach vorne und lugte nach unten, waehrend Neubauer mit laessiger Miene des erfahrenen Weltenbummlers am Rand stand und ein triumphierendes Grinsen aufsetzte. “Na, hab ichs nicht immer gesagt? Faszinierend was? Und das Schoenste ist: es weiss kaum einer; drum sind auch keine Ausfluegler hier !”
“Die Nuernberger Kahlfresser koennte ich jetzt auch nicht gebrauchen”, meinte Steinbrecher und krallte sich mit den Haenden ins Moos des Waldbodens, waehrend er vorsichtig seinen Kopf nach vorne streckte. “Ich kanns gar nicht sehen, wenn Du soweit da vorne stehst – da wird mir ganz schlecht.” Aber letztendlich siegte die angeborene Neugier des Finanzbeamten und er wagte den Blick in die Tiefe.
Vielleicht zwei, drei oder auch 10 Kilometer dick war die Erdscheibe an dieser Stelle, schlecht zu schaetzen, aber wunderschoen anzusehen mit den unterschiedlichen Gesteinsschichten bis hin zu einem rotgluehenden Boden in der blauen Tiefe. Dieses Blau – ja es war ein richtig sattes Tiefblau – wie auf dem Kopf des neuen Ergaenzungsformulars 24c zur EU-Abgabeverordnung; einfach faszinierend.
Unterdessen begann Neubauer zu dozieren und sein gesamtes Wissen ueber die Erde aus der Sicht der “Flacherdler” zu rezitieren – was angesichts des Aufenthaltes am Rand weitaus mehr Wirkung als in der Kantine des Aemtergebaeudes hatte.
“Aber ich verstehe nicht, wieso das nicht oefters im Fernsehen gebracht wird?” wunderte sich Steinbrecher nach einiger Zeit, “und wieso ist der Rand ausgerechnet hier ?”
“Im Fernsehen bringt das keine Einschaltquoten. Oder wuerdest Du einen Bericht ueber die Erdscheibe dem aufregenden Gluecksrad vorziehen? Ja und wieso hier? Na, denk doch mal nach”, meinte Neubauer ueberlegen, “was an einem Ozean oder See passieren wuerde? Das gesamte Wasser laeuft doch sofort ins Himmelszelt. Eine Riesensauerei gibt das, kann ich dir sagen. Hinterher ist das Meer trocken und der heisse Scheibenboden dampft die ganze Gegend ein.
Aber hier im trockenen fraenkischen Jura, da laeuft kein Bach, kein Fluss, einfach nix – die Natur hat schon seinen Sinn. Und wenn du dich an die Karten im Erdkundeunterricht erinnerst: das waren alles Flacherdlerkarten, mit einem Rand am Nordpol und dem Anderen am Suedpol. So ein Quatsch, oder hat es Dich noch nie gewundert, warum es einen Zehntausend Kilometer langen Pol gibt?”
Das waren allerdings gewichtige Argumente, fand Steinbrecher, d.h. noch nicht ganz: “Vielleicht kann am Pol nichts passieren, weil alles Wasser zu Eis gefroren ist und folglich nicht auslaufen kann?”, meinte er schuechtern.
“Ha, und was ist mit den Waermeperioden, den Zwischeneiszeiten, wenn die Pole wieder mal abschmelzen und die Erde ueberfluten? Ist dir schon mal gekommen, dass die letzte Sintflut nur deshalb ein Ende nahm, weil das Meer bis Alfeld reichte und ueber den Rand quasi als Badewannenueberlauf schwappte und so unseren Noah rettete?”
Er konnte Neubauer manchmal wirklich nicht ertragen, wenn er so besserwisserisch im Stil des Moderators der beliebten Fernsehserie “Potzblitz – die Erfinderwerkstatt” vor ihm stand und seine Ideen zerredete – aber gut, diesmal hatte er wahrscheinlich einfach recht. Also sass er ab jetzt einfach da und genoss andaechtig den Ausblick in der Mittagsonne, welche uebrigens seiner Ansicht nach recht nah am Himmelszelt angebracht war – schon wegen der Brandschutzvorschriften, wie er bemerkte.
“Brennen wird hier nichts – erstens ist der Himmel isoliert und zweitens haben wir in ein paar Kilometern nur noch Vakuum – und ohne Sauerstoff brennt es schon zweimal nicht”, belehrte Neubauer schon wieder.
‘Besserwisser, Angeber’, dachte Steinbrecher nur, aber sprach es nicht aus – schliesslich musste er mit ihm wieder zurueckfahren und er hatte keine Lust vor dem Wochenende vom Rand der Welt bis Oberstorzing zu laufen.
Schliesslich rief die Pflicht – man sollte immer puenktlich um 16 Uhr zum Stempeln im Aemtergebaeude anwesend sein – und die Beiden machten sich auf den Rueckweg.
“Eins hab ich aber schon noch”, meinte Steinbrecher nachdenklich, waehrend er den Lehm von seiner Trevira-Hose kratzte, “manchmal wird doch die Karte der Erde rund gefaltet und zu dem altbekannten Globus verbogen – obwohl der total unpraktisch ist und nie ins Handschuhfach eines Autos passt.”
“Und in deines sowieso nicht”, konnte er sich nicht verkneifen noch anzufuegen.
Neubauer schneuzte sich lauthals und tat so als haette er die letzte Bemerkung nicht gehoert.
“Aber ich denke mir jetzt, dass es doch moeglich waere, quasi von jedem beliebigen Teil der Scheibe einen Globus zu falten – zum Beispiel einen kleinen Globus von Mittelfranken, oder nicht? Das waere der Renner fuer die Einheimischen hier und ich finde, eine tolle Geschaeftsidee obendrein – steuerfrei dazu, da Kleingloben nach EU-Recht von der Rundumbesteuerung ausgenommen sind”, triumphierte Steinbrecher.
Neubauer oeffnete die Tuere seines Autos, zu dem sie sich unterdessen vorgekaempft hatten, und deutete laessig auf sein Handschuhfach: “Schon laengst erfunden. Da schau nach – so gross wie ein Tennisball und sogar alle Wirtshaeuser der Gegend sind eingezeichnet – ein Wirtsbus sozusagen.
Und passt ausserdem ideal ins Handschuhfach eines Fiesta.”
‘Punkt. Letztes Wort. Wie immer’, dachte Steinbrecher und betrachtete nachdenklich den Globus von Mittelfranken waehrend sie durch Alfeld fuhren. Er hatte noch viele Fragen zur Welt im Allgemeinen und im Besonderen auf der Zunge und selbst die rein finanztechnischen Aspekte waeren noch Stoff fuer Stunden und Tage.
Fallen Randgrundstuecke unter die Zonenrandfoerderung? Gelten Flugreisen ueber den Rand hinaus immer noch als Inlandsdienstreisen? Ist beim Hauskauf auch Grundsteuer fuer die Unterseite der Scheibe zu entrichten?
Fragen ueber Fragen, aber all dies war ihm jetzt zu kompliziert und mit Neubauer, der die ganze Fahrt nur noch von seiner geplanten Expedition rund um den Rand faselte, war eh nicht mehr zu diskutieren.
Und ausserdem: das Wochenende lag vor der Tuere.
Und wenn Sie, lieber Leser, noch Fragen haben – rufen Sie doch einfach im Finanzamt an; die kennen sich aus; die haben schon in jeden Abgrund geschaut; die machen jeden rund – sogar die Welt.