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Staunen
Schon als sich seine Füße vom Boden lösten, wusste er, dass es knapp werden könnte, vielleicht zu knapp. Er umfasste den jungen Birkenstamm in seinen Händen noch fester, als würde ihn das weitertragen, vielleicht auch aus Angst vor dem, was wohl kommen würde. Und seine Gedanken wanderten zurück.
Zurück an jenen Tag vor nicht einmal einem halben Jahr. Im Mai war es, dem vielleicht schönsten Monat im schottischen Hochland. Der Ginster stand in sattem Grün, überworfen mit einem Netz aus goldgelben und rot-gelben Blüten. Die ersten Lämmer waren auf den Weiden und tollten umher in einem Grün, wie es nur hier zu finden war. An jenem bewussten Tag, genauer, an dem Abend dieses Tages, war im Gemeindehaus ein Ceilidh angesagt. Es war nicht sein Erstes, es würde nicht sein Letztes sein. Es war eine der wenigen Gelegenheiten, aus der Langeweile seines einfachen Elternhauses herauszukommen, und schon dies war ein guter Grund, teilzunehmen, also ging er hin.
Fiona war ihr Name, und sie hatte die rotesten Haare, die man sich nur vorstellen konnte. Sie tanzte leicht wie eine Feder, drehte sich, dass die Haare wie ein St.-Elms-Feuer um ihren Kopf herum zu tanzen schienen, lachte mit einer so hellen, glockenreinen Stimme, dass es ihn verzauberte. Nach dem zweiten Tanz fasste er sich ein Herz und sprach sie an. Einen langen Fußmarsch hatte sie getan, um hierher zu kommen, so wie er. Aus einem langweiligen Alltag für einen Abend geflohen. Auch insoweit stimmten sie überein, und im Laufe des Abends stellten sie noch viel mehr Gemeinsamkeiten fest. Es war nur natürlich, eigentlich nur eine Frage der Zeit bis zu diesem ersten Zusammentreffen, dass sie sich verliebten, sich, zunächst vorsichtig, bald jedoch heftiger, küssten – draußen, wo keiner sie sehen konnte.
Viel zu schnell wurde es Mitternacht, das Ceilidh neigte sich seinem Ende zu, und jeder musste wieder nach Hause. Zurück in die einfachen Hütten ihrer Eltern, jeder auf seine Seite des Lochs. „Loch“, also einfach „See“? Nein, es war nicht einfach ein See. Einen See stellte man sich gemeinhin in etwa rund vor, einigermaßen gleichmäßig geformt jedenfalls. Dies aber war ein Loch im schottischen Hochland, und also einige Male so lang wie er breit war. Und der Teufel muss seine Finger im Spiel gehabt haben, als er sie beide auf die entgegengesetzten Ufer dieses Lochs plaziert hatte. Trotzdem trafen sie sich wieder, zum Teufel mit demselbigen! Trafen sich an Orten, von denen ihre Eltern nichts wissen durften, zu Zeiten, an denen ihre Eltern sie auf den Weiden oder woanders wähnten, um zu tun, was sie eigentlich nicht durften. Hätte er seinen, sie ihren Kilt getragen, es wäre vielleicht gar nicht so weit gekommen. Man hätte sich schon vorher erkannt, gewusst, dass eine Verbindung ihrer Clans absolut undenkbar war. Andererseits – hätte es gegen den Zauber ihres Anblicks tatsächlich etwas genutzt? Und was interessierten sie die alten Geschichten, heute war heute, heute war eine andere Zeit, und wer sollte diese neue Zeit beginnen lassen, wenn nicht sie, die jüngsten Sprösslinge ihrer Clans? Aber sie trafen sich heimlich, zu groß war noch die Angst vor den Eltern, dem Clan.
Oft hatten sie sich nicht getroffen, jedenfalls wenn man es an den Maßstäben eines verliebten jungen Paares misst. Es war auch nicht gleich beim ersten Wiedersehen das passiert, was ihn letzten Endes hierher und zu dieser Tat getrieben hatte. Ihre Nachricht hatte ihn erreicht. Ganz früh an diesem Abend, gerade als es dunkel werden wollte, hatte er den Schein des Feuers gesehen, das ihn zu ihr rufen sollte. Es musste dringend sein, sonst hätte sie bei diesem Wetter die Mühe nicht auf sich genommen, ein Feuer zu entzünden. Es war nicht nur, weil sie ihn sehen, ihn berühren und küssen wollte – sie hatten ja eine Verabredung für den kommenden Samstag, nur vier Tage noch. Und das letzte Treffen, jenes wundervolle, innige, unübertreffbare Zusammensein – wie oft schon hatten sie es genossen? Drei mal erst? – es war gerade zwei Wochen her. Es musste also etwas sein, dass vier Tage zu warten nicht zuließ, und ohne es zu wissen, ahnte er doch, was es war.
Also beeilte er sich. Den üblichen Weg konnte er, wollte er nicht nehmen. Selbst schnell gelaufen würde wären es über zwei Stunden bis zur Nordspitze des Sees, genauso lange nochmal am westlichen Ufer zurück nach Süden. Hätte er den Weg um die Südspitze nehmen können, es wären nicht einmal zwei Stunden für den ganzen Weg gewesen. Aber da war diese Schlucht. Nicht besonders breit, vielleicht sechs Meter. Tief war sie, so tief der Fluß sie in Jahrtausenden hatte graben können. Seine älteren Brüder hatten geprahlt, sie seien schon darüber gesprungen, aber er hatte ihnen nicht geglaubt. Jetzt würde sich zeigen müssen, ob es möglich war. Er war gut im Springen mit dem Weidestock, sehr gut sogar. Dabei bestand das Kunststück darin, den Haselstock aus dem Graben wieder herauszuziehen, bevor er sich zu tief in den Moorboden eingrub. Dieses Problem würde er hier definitiv nicht haben. Er würde einen stärkeren Stock brauchen, länger vor allem. Eine junge Birke würde es sein müssen, Birken wachsen gerade und ohne große Äste und geben hartes, elastisches Holz. Schnell hatte er den passenden Stamm gefunden, schnell gefällt und entastet. Jetzt hieß es, die richtige Stelle zu finden. Er brauchte einen stabilen Absatz im Granit, einen Grat, auf den er den Stab abstützen konnte und sich hinüber schwingen konnte. Auch diese Stelle war schnell gefunden, trotz der Dunkelheit. Der leichte Regen störte etwas, aber er hielt ihn nicht auf. Es regnet öfter hier in den Highlands. Dann ging er zurück. Noch einmal dachte er darüber nach, ob es wirklich zu schaffen sei, aber nur kurz – sicherlich wartete Fiona schon. Er bekreuzigte sich; nahm Anlauf, setzte den Birkenstamm an die ausgesuchte Stelle und sprang ab.
Im Scheitelpunkt der ballistischen Kurve über die Schlucht wurde er wieder gewahr, wo er sich befand. Er sah den Granit auf sich zurasen und staunte, was für eine große Zeitspanne man in so kurzer Zeit überdenken konnte, wieviele Bilder einem in Sekundenbruchteilen vor dem inneren Auge vorbeiziehen konnten.
Als seine Brüder ihn am nächsten Tag fanden, zerschunden und gebrochen, hatte er immer noch das Staunen im seltsam unversehrten Gesicht. Und seine Brüder fragten sich, was Ian wohl gesehen haben mochte.