Mitglied
- Beitritt
- 16.05.2005
- Beiträge
- 545
Statistisches Wunder
Das Statistische Wunder oder der göttliche Funke
I.
„Die kalte Kernfusion ist ein Danaergeschenk an die Wissenschaft.“
Professor Uwen Correos zog genüsslich an seiner Zigarre. Seine blauen Augen, die sich aus dem Erbe seines skandinavischen Vaters in die ansonsten mütterlichen-spanischen Gesichtszüge eingeschlichen hatten, funkelten spöttisch.
„Wir gewinnen gegenwärtig über 60 Prozent der weltweit erzeugten Energie aus Kraftwerken die auf der kalten Fusion basieren, mit steigender Tendenz und haben immer noch nicht die Spur einer Ahnung welcher Katalysator nun wirklich für die Stabilität des Verschmelzungsprozess der Wasserstoffatome maßgeblich ist.
Einige Wissenschaftler streiten sogar trotz der industriellen Nutzung des Phänomens ab, dass es überhaupt möglich ist, wenn Sie mir den flapsigen Ausdruck erlauben, eine kalte Fusion am Laufen zu halten.“
Er machte eine gewichtige Pause und gab seinem Gegenüber Gelegenheit, für die zwangsläufig sich ergebenden Nachfragen.
Ho Xavier Propper, ein chinesischstämmiger Wissenschaftsjournalist, dem der langjährige Aufenthalt in Europa die asiatische Strenge aus dem Gesicht gebügelt hatte, beugte sich in seinem Lehnstuhl dem Professor entgegen.
„Aber ist das nicht widersprüchlich?“, fragte er,
„Sie haben doch für die Beschreibung des Prozesses den Nobelpreis für Physik erhalten und Ihr Verfahren ist tausendfach in den Laboren und Kraftwerken der Welt erfolgreich wiederholt worden!“
Mit unbeteiligtem Interesse musterte Professor eine Fliege, die träge über den Tisch kroch.
In den saftbefüllten Trinkbechern spiegelte sich die Palisade der Veranda.
Sanfte, spätsommerliche Sonnenstrahlen spendeten eine maßvolle Wärme, die auf der Haut kribbelte.
Die Fliege hatte einen Brotkrumen des gemeinsamen Frühstücks der beiden Gesprächspartner ausgemacht und untersuchte ihn nun auf seinen Nährgehalt.
Schweigend wischte Professor Correos einen Marmeladenspritzer von seinem taubenblauen Anzug und wandte seine Aufmerksamkeit Ho zu.
„Was wissen Sie über die so genannte kalte Fusion?“, fragte er plötzlich.
Ho runzelte die Augenbrauen. Im Auftrag der „Wissenschaftlichen Rundschau“ hatte er zeitweilig sein Hamburger Büro aufgegeben und saß jetzt mit dem Mann zusammen, der die Energieversorgung der Menschheit auf Jahrtausende gesichert hatte.
Auch wenn er eine gewisse Ehrfurcht vor dem Genie empfand so war es ihm doch zuwider, sich examinieren zu lassen. Schließlich besaß er akademische Grade in Physik und Chemie und durfte sich, wenn schon nicht ebenbürtig, so doch als hinreichend kundig betrachten.
Gereizt referierte er, was ihm über die Kernfusionen bekannt war:
„Die kalte Fusion ist das Gegenstück zur heißen Fusion, bei der Atomkerne unter enormen Temperatur und Druck verschmelzen d.h. die starken Kernkräfte überwunden werden.
Der gegenwärtige Stand der Technik erlaubt noch keine industrielle Nutzung der heißen Fusion.
Bei Prozesstemperaturen von mehreren Millionen Grad Celsius verbietet sich der Einsatz von materiellen Brennkammern natürlich. Also kann die Brennkammer für diese Reaktion nur aus Kraftfeldern bestehen.
Die Handhabung dieser Kraftfeldfallen ist extrem aufwendig und bisher nicht zufrieden stellend gelöst.
Einzige praktische Anwendung der Kernfusion ist bisher die Wasserstoffbombe und, wenn man es so sehen will, die Sonne.
Der Begriff „kalte Fusion“ stammt von Andrei Sacharow und wurde im Jahre 1948 erstmals aktenkundig.
Das Elektron eines Tritium-Atoms wird, so die Theorie, durch ein Myon ersetzt. ...
Der Professor unterbrach ihn schmunzelnd, eine Viertelstunde später.
„Genug, genug. Mir war es nur wichtig, dass Sie ein Grundverständnis für die Problematik aufbringen, die Details haben für uns, wie ich Ihnen zu zeigen gedenke, eine untergeordnete Bedeutung.
Meine eigentliche Arbeit, die das Nobelpreiskomitee der Auszeichnung für würdig erachtete ist ein mathematischer Unentscheidbarkeitsbeweis, der sich auf gewisse Aspekte der Wahrscheinlichkeit von Fusionsprozessen bezieht.
Einfach gesagt: ob der von mir entwickelte Fusionsreaktor anläuft ist im Einzelfall nicht vorherzusehen und kann nur praktisch, nämlich durch das Einschalten, erfahren werden.
Sie haben sicherlich irgendwelchen Schnickschnack über meine ´geniale´ Verwendung von Biokatalysatoren gelesen durch die die Wasserstoffatome in eine räumliche Struktur gebracht werden, die den Buckminsterfullarenen ähnelt. Und dies den so genannten „Türschlosseffekt“ bewirkt, der die ´Klebrigkeit´ des Heliums herabsetzt.
Stimmt alles; aber trotzdem gibt es noch eine unbekannte Komponente und diejenigen die meinen Beweis zu lesen verstehen, müssten sich über den augenscheinlichen Widerspruch der mathematischen Wirklichkeit zur Dinglichen wundern.
Da aber der Mensch nun einmal so veranlagt ist, dass er einen kleinen, sicheren Gewinn dem Größeren, aber Riskanten vorzieht werde ich in den Medien als Retter der Menschheit gefeiert ohne das der kleine Schönheitsfehler erwähnt wird der darin besteht, dass meine Formeln eine praktische Nutzung der kalten Fusion verneinen!“
Die Augenbrauen von Ho stürzten in einem spitzen Winkel zusammen.
„Ist das denn aber nicht irrelevant? Nun gut, es fehlt ein Puzzleteilchen, aber der Reaktor funktioniert doch! Und der fehlende Baustein wird doch sicherlich in tausenden Laboren auf der ganzen Welt gesucht?“
Seine Vermutungen hatte er wie zu sich selbst gesprochen. Trotzdem entging ihm ein angedeutetes Nicken Professor Correos nicht, dem ein Seufzen folgte.
„Es gab theoretische Annahmen, dass in meinen Formeln ein brauchbares statistisches System versteckt sein könnte, mit dem vernünftige Annäherungen möglich wären. Die Analogie stammt augenscheinlich aus der Quantenphysik. Dort haben bekanntlich Heisenberg und Schrödiger Aussagen über Impuls und Ort von Elementarteilchen statistisch in den Griff bekommen.
Leider erwiesen sich für meine Berechnungen dergleichen Hoffnungen als haltlos.
An der Front der Experimentalphysik mussten meine Kollegen eine noch üblere Niederlage hinnehmen.“
Ho fiel ihm ins Wort.
„An die höhnischen Kommentare in den populärwissenschaftlichen Magazinen kann ich mich noch gut erinnern. Vor allem wurde über die angebliche Ignoranz der Experimentalphysiker kübelweise journalistischer Dreck geschüttet.“
„Und dies völlig zu Unrecht“, nahm der Professor den Faden wieder auf,
„denn nach Maßgabe der Empirie verhielten sich die Wissenschaftler professionell.
Sobald aus einem Labor die erfolgreiche Ingangsetzung des Fusionsprozesses vermeldet wurde protokollierten sie so genau als möglich alle denkbaren Variablen des Versuchsaufbaus. Sie maßen Druck, Temperatur, Strahlenspektrum, Luftzusammensetzung; sogar die Verunreinigungen im Glas der Reaktionskolben wurden analysiert.
Als dies keinen Erfolg brachte, mussten sich die Experimentatoren mit dem für den Naturwissenschaftler äußerst unangenehmen Gedanken anfreunden, dass die gesuchte Ursache in der Person des den Fusionsprozess in Gang Bringenden liegen könnte.
Sie hofften, wenigstens hier eine Häufung im Sinne von Wahrscheinlichkeiten zu finden.
Wie überrascht war man jedoch als sich herausstellte, dass es Jedem der einmal das kalte ´Feuer der Kernkräfte´, wenn Sie mir den poetischen Ausdruck erlauben, entfesselt hatte gegeben war, dies jederzeit zu wiederholen!
Also wurden neue Versuchsanordnungen entworfen.
EEG, EKG, die Leitfähigkeit der Haut, die Körpertemperatur und alles sonst Denkbare, worin sich menschliche Körper unterscheiden unterlagen strengsten Messungen.
Nach allem, was wir über die Beschaffenheit der Welt zu wissen glauben, musste hier der Schlüssel, das fehlende Element gefunden werden.“
Ho lächelte.
„Wurde es aber offensichtlich nicht, oder?“
Der Professor schüttelte den Kopf.
„Und das ist unverständlich. Ich gestehe, dass ich ebenso ratlos bin, wie meine Kollegen. Wir stehen hier vor einem Gleichung, die trotz sorgfältiger Beachtung der Umformungsregeln einfach nicht aufgehen will.“
Professor Correos erhob sich; ein Zeichen, dass die Audienz beendet war.
Ho verabschiedete sich flüchtig, in seinen Gedanken hatte sich der letzte Satz des Professors festgesetzt.
„Eine Formel die nicht aufgehen will“, murmelte er geistesabwesend auf der Fahrt in sein Hotel.
Im Hotel angekommen setzte er sich auf den Klappstuhl des großzügigen Balkons seiner Suite und ließ seine Gedanken schweifen.
Wie er es stets zu tun pflegte wenn er sich in ein Problem einzufühlen versuchte, steckte er sich eine Zigarre an, ohne jedoch den Rauch zu inhalieren.
Durch halbgeschlossene Augenlider verfolgte er die verwirbelnden Rauchschwaden.
Eine tiefe Ruhe erfasste ihn; an die Schwelle zum Schlaf dimmte sich sein bewusstes Denken herab und ließ den nur vage erahnten Teil seines Selbst herumspielen.
Das zog sich über Viertelstunden.
Nachtschatten zogen vor seinem Fenster auf und die Möblierung warf bereits schwarze Abbilder, als er fröstelnd zusammenzuckte.
Seine Augen weiteten sich und sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse des Erstaunens. Das währte nur kurz und ein Lächeln entspannte seine Züge.
Es war ja so einfach!
Tage später in seinem Hamburger Büro entfaltete er eine atemberaubende Geschäftigkeit, mit der er zeitweise das gesamte Sekretariat blockierte. Seine Kollegen murrten, fügten sich dann in das Unausweichliche und besorgten ihre Büropost selber.
Der Büroleiter schlich in idealtypischen Intervallen wie ein ausgehungertes Raubtier an der Bürotür von Ho Xavier vorbei, wagte es aber nicht, seinen Starreporter um Erklärungen anzugehen.
Eine frühere Erfahrung bei der Ho Xavier ihn rüde aus seinem Büro gewiesen hatte, um kurze Zeit später mit einer brillanten Geschichte über die „Zeitquantelung“ die Auflage des Magazins glatt zu verdoppeln, war ihm noch zu präsent.
Die Leidtragenden seiner Neugier waren seine Sekretärinnen.
Geradezu penetrant sah er ihnen über die Schultern.
Aber alles was er zu sehen bekam, waren merkwürdige Fragebögen, die kopiert und in Briefumschläge geschoben wurden.
Die Adressatennamen waren ihm sämtlich unbekannt und die Fragen so allgemein und nichts sagend, dass er sie eher einer Bewerbung auf die Stelle eines Bürosachbearbeiters, als einer wissenschaftlichen Umfrage zugeordnet hätte.
Frustriert gab er es auf, die Allüren seines Stars verstehen zu wollen, zog sich in sein Büro zurück und überzeugte sich nach dem achten Glas Tequilla, dass Ho Xavier schon wissen würde, was er tat.
Wie den meisten Menschen, bei denen ein Geistesblitz einschlägt, machte auch Ho Xavier die Erfahrung, dass ein genialer Gedanke mit zeitlichem Abstand viel von seiner bestechenden Eingängigkeit einbüßen kann.
Nachdem er alles in die Wege geleitet hatte, blieb ihm der undankbare Part des Wartenden und Hoffenden.
Was wenn er sich geirrt hatte?
Wer war er denn, dass er erhoffen konnte die weltweite Elite der Physiker zu depüren?
Nun, in einigen Tagen würde er es wissen, aber vorerst war er in quälender Ungewissheit gefangen. Zur Untätigkeit verdammt, nun, nachdem die Fragebögen versandt waren, griff auch er zu einer Tequillaflasche.
II.
„Was ist zweifelsfrei ein Wunder?“, fragte Ho Xavier.
Er saß erneut Professor Uwen Correos gegenüber, diesmal in seinem Büro. Sie hatten es sich in musealen Korbstühlen, Erbe einer Liaison mit einer Möbelfabrikantentochter bequem gemacht.
Auf dem nüchternen Schreibtisch, der sie trennte lag ein Stapel Zeitungen.
Fast jedes Titelbild zeigte Ho Xavier in Verbindung mit einem Heiligenschein oder einem Fusionsreaktor.
„Jede Erscheinung in der materiellen Welt, die den Naturgesetzen widerspricht“, antwortete ihm der Professor automatisch.
„Ist ein Mensch der sich vom Boden löst, um davonzufliegen ein Wunder? Ein Stein der blutige Tränen weint? Ein Bakterienstamm, sich in der Nährlösung zu Sonetten formt? Sind das Ihrer Meinung nach Wunder?“
Ohne dem Anderen Gelegenheit zu einer Antwort zu geben, fuhr Ho Xavier fort.
„Unserem heutigen Wissen nach haben wir meine Beispiele als Wunder zu betrachten.
Unserem HEUTIGEN Wissen nach!
Sie haben übrigens in Ihrer Definition des Begriffes Wunder das entscheidende Wort ´einmalig´ ausgelassen!“
Er lächelte.
Es machte ihm Spaß, den Professor sich unbehaglich im Korbstuhl winden zu sehen.
Die leichte Überheblichkeit, die der Professor bei ihrem letzten Gespräch an den Tag gelegt hatte, war ihm unvergessen.
„Natürlich ist mir bewusst, dass ein ´echtes´ Wunder der gesamten Naturwissenschaft jedwede Legitimation entzieht. Denn per definitum kann es in einem Universum, in dem sich EIN EINZIGES Wunder ereignet, keine Gewissheit im Sinne von Gesetzmäßigkeiten mehr geben. Ob ein Wunder oder deren Mehrere geschehen, bleibt sich völlig gleich. Ist also das, was ich entdeckt habe ein Wunder?“
Er lehnte sich genüsslich die letzten Worte nachschmeckend zurück.
„Sie“, fauchte der Professor und spannte sich sichtlich, „Sie haben doch diesen Humbug erst in die Welt gebracht! Ihre Anmaßung, Ihre Selbstgefälligkeit; waren sie es nicht, die dazu geführt haben?“
Sich eine Zeitung vom Stapel greifend und aufschlagend, äffte er den euphorischen Ton der Fernsehnachrichten nach.
„Genialer Redakteur löst Rätsel um die kalte Fusion! Gott bläst das Fusionsfeuer an! Oder hier“, er stieß wütend einen Finger auf die aufgeschlagene Doppelseite, „göttliche Offenbarung rettet Menschheit aus der Energiekrise.“
Keuchend warf er die Zeitung zurück auf den Stapel.
„Ach, die Presse“, verächtlich winkte Ho Xavier ab. Auf einmal wirkte er nachdenklich.
„Denen kann man es doch wohl kaum verübeln, dass sie nur die Hälfte verstehen. Liegt das Problem nicht eher in der konservativen Haltung der Naturwissenschaft? Jede Generation Physiker, beispielsweise, hat nie mehr als eine umstürzlerische Theorie verdaut. Und wenn ein neues Diktum wie die Welt zu sehen sei auch noch besudelt durch die Kreuzung mit den „unexakten“ Wissenschaften austreibt, führen sich die Gralshüter der reinen Lehre auf, als hätte man sie persönlich geschändet.
Sie selbst haben mir vorgeworfen, ich hätte Ockhams Rasiermesser zum Schneiden von Gurken und Wurst missbraucht. Ich aber sage Ihnen: SIE sind es der sich lieber zum zehnten Male das Kinn schabt, statt den Zopf abzuschneiden, über den sie unentwegt stolpern.“
„So?“, höhnte der Professor, „Alter Zopf, wie? Vermehre die Anzahl der Bedingungen bei der Problemlösung nicht! Reduziere sie auf das Kleinstmögliche; sie kennen Ockhams Maxime schon, darf ich annehmen? Wie, wenn nicht als irrsinnig zusätzliche Bedingung darf ich dann das interpretieren, was Sie einzufügen beliebten?“
Ho Xavier, erschrocken durch die Heftigkeit, mit der der Professor seine Anschuldigungen ausspie, schüttelte nachdenklich den Kopf.
„Mir schein, hier liegt ein Missverständnis vor“, sagte er. „Sie und ich stehen doch auf derselben Seite. Nennen Sie es meinethalben das Lager der Aufklärung.
Seit der Sache mit dem „Sternenpalimsept“ ist mir Ihr Name ein Begriff und schon damals habe ich Ihren Scharfsinn bewundert; mehr noch Ihren Humor.“
„Na ja“, grummelte der Professor versöhnlich, „das war schon ein Spaß.
Diese Esoteriker. Suchen dort tiefere Bedeutung, wo das Gesetz der großen Zahl wirkt. Natürlich werden sie dort fündig.
Wissen Sie, als dieser Flachkopf Weinsmeier groß verkündete, dass Gott die Sterne zu Botschaften gruppiert hat und stolz nachwies, dass sich aus einer gewissen Sternkonstellation die Botschaft ´Gott sieht Dir´ lesen lässt, hat es mich gewundert, dass die Welt nicht schallend loslachte.
Denn dass Gott die Sprache der Auschwitzschlächter spricht mag noch denkbar sein – Gott soll ja bekanntlich in allen Zungen zu sprechen vermögen – aber eine korrekte Grammatik sollte IHM schon zuzutrauen sein.“
Der Professor erntete ein zustimmendes Kopfnicken und fuhr fort,
„Natürlich war es ein Leichtes für mich, mit den Institutscomputern die Sterne nach weiteren Botschaften abzusuchen. Da die Zahl der Sterne hinreichend groß ist, ergibt sich für fast jedes Wort jeder menschlichen Sprache eine Perspektive, aus der sich die Sterne zumindest angenähert zu dem jeweiligen Schriftbild fügen.
Wie haben wir im Institut gelacht, als der Monitor eine dreifache Sechs zeigte, bei der die natürlich unsichtbare Erde sich im Bauch der mittleren Sechs wieder fand.
Trotzdem“, sich seines Ärgers erinnernd, verfinsterte sich sein Gesicht, „ich sehe nicht, wie Sie den Schaden, den Sie der Wissenschaft zugefügt haben, rechtfertigen könnten.“
„Schaden?“, Ho Xavier hob erstaunt die linke Augenbraue, was ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Raubkatze verlieh, „ach ja, die heilige Grenze zwischen Glaube und Erkenntnis. Meiner Ansicht war dieser Burgfrieden zwischen Religion und Wissenschaft von Anfang an eine Totgeburt und auch nur den Machtverhältnissen vergangener Tage geschuldet.
Ein fauler Kompromiss, der mit den schönsten Folterqualen und Scheiterhaufen der aufkeimenden Forschung abgepresst wurde.
Ihr kümmert Euch um das Diesseits, wir um das Jenseits und das bis zum heutigen Tage, so, als gäbe es die Quantenphysik oder das Olbertsche Paradoxon nicht.
Das Traurige daran ist, dass die Physiker, die damals zum Frontalangriff auf die kirchlichen Bastionen vorrückten, die letzten Verteidiger dieses Schandvertrages sind. Die Humanwissenschaften, aber auch die Biologie haben sich längst in klerikalen Kerngebieten festgesetzt.
Durch meine Entdeckung ist die Physik endlich gezwungen, den schäbigen Konsens mit der Religion aufzukündigen oder sich für unabsehbare Zeit als ernstzunehmende Wissenschaft abzumelden.
Ehrlich gesagt, mir schmeckt es auch nicht besonders, was ich da herausgefunden habe. Aber wir sollten es als Chance verstehen, neu über das Dasein nachzudenken.“
Das Pathos, in das er sich geredet hatte, wurde ihm plötzlich bewusst und er brach ab.
Der Professor nippte an seinem Orangensaft und ließ tief in sich die Belehrungen nachhallen.
Nach Minuten der Stille lachte er auf.
„Meine Güte“; prustete er, „Sie sind der geborene Professor für Wissenschaftsphilosophie, wissen Sie das?
Aber ganz haben Sie es mir noch nicht verkauft.
Betrachten wir die praktischen Aspekte.
Die kalte Fusion läuft also nur an, wenn ein Physiker zugegen, dem ein tiefverwurzelter, monotheistischer Glaube zu Eigen ist. Das war ja die skandalöse Quintessenz der Auswertung Ihrer lächerlichen Fragebögen.
Wie kann ich das denn anders nennen, als Gottesbeweis oder Wunder?
Dass die Kirchen, seitdem voll sind stört mich nicht übermäßig, aber dass eine solche, hm, Eigenschaft eines Menschen notwendig für ein NATURwissenschaftliches Verfahren sein soll, das mit Verlaub, stinkt mir gewaltig.
Nächstens steht noch ein Pfaffe mit dem Weihrauchfass vor dem Tor eines jeden Fusionskraftwerkes.“
Die bittere Ironie seiner Worte belustigte Ho Xavier, so dass seine Entgegnung süffisanter ausfiel, als er es beabsichtigt hatte.
„Und außerdem weckt es Zweifel in Ihnen, nicht wahr? Wenn es denn Gott gibt, hat er sich gefälligst aus dem Tagesgeschäft herauszuhalten, ist es nicht so?“
Ein Knurren, mit gutem Willen als Zustimmung zu interpretieren, entrang sich den professoralen Lippen.
„Weshalb eigentlich?
Wenn hier tatsächlich Gott am Werke ist, verhält er sich doch ausgesprochen witzig und im Sinne des Determinismus korrekt.
Denn einerseits offenbart er sich in einem Bereich, der überlebenswichtig für die moderne Daseinsweise des Menschen ist genau im Moment der drohenden Krise und dies quasi mit einem Augenzwinkern, einem ´Euch kann man aber auch keine fünf Minuten aus den Augen lassen´, andererseits achtet er sorgfältig darauf, dem Phänomen auch nicht den Hauch eines Wunders zu geben.
Denn ein Wunder ist es schon aus dem Grunde nicht, weil JEDER Mensch, der ein Physikdiplom in der Tasche hat und an einen solitären Gott glaubt die Fusion anlaufen lassen kann.
So ein Gott würde mir im Übrigen sehr zusagen.
Auch die spaßige Tatsache, dass sich die Energieausbeuten je nach Religion unterscheiden, zeugt von hohem Humorverständnis, falls es eine bewirkende Instanz geben sollte.“
„Ja, das gefällt mir tatsächlich“, hakte der Professor ein, „diese Abstufung. Geradezu salomonisch.
Nimmt man die Energieausbeute eines jüdischen Physikers als Basis, also 100 Prozent, kommen Katholiken und Orthodoxe auf je 99,7 Prozent, Sunniten, Schiiten, etc. 99,68, die Protestanten auf 99,66 und Freikirchen auf 99,63 Prozent.
An dieser Hitliste der Religionen werden die Theologen lange zu kauen haben.
Leider ist es genau diese Abstufung die es so schwer macht das Phänomen als natürliches, nicht von einer planenden Wesenheit herrührendes anzusehen.“
Ho Xavier wagte zaghaften Widerspruch, „Auch wenn mich die meisten Biologen dafür verhöhnen würden, aber ich halte es für möglich, dass die Zugehörigkeit zu einer Religion gewisse ´Erinnerungsmechanismen im Erbgut aktiviert.
Halten Sie mich für verrückt, aber ich bin sicher, dass der Zusammenhang zwischen dem Alter einer Religion und der Energieausbeute irgendwie genetisch in uns verankert ist.“, und verschmitzt lächelnd fügte er hinzu, “Schade, dass es keine Junger des altägyptischen Sonnengottes Ra mehr gibt.“
Der Professor stemmte sich aus dem Korbsessel empor und reichte Ho Xavier die Hand, „Halten Sie ein“, rief er mit gespielter Entrüstung, „mehr als eine Revolution in meinem Weltbild vertrage ich heute nicht. Sie sind wirklich ein Ketzer durch und durch.
Da bedauert man fast, dass die Sitte des Räderns und Vierteilens nicht mehr zeitgemäß ist.“, und mit einer Mine, die zwischen Belustigung und Verzweiflung schwankte, setzte er hinzu, „zwischen uns steht es denn also unterschieden und wie ist der Stand zwischen Religion und Wissenschaft?
Meinen Agnostizismus haben Sie heute erschüttert, und zwar in beide Richtungen, obwohl das ja ein Paradoxon ist. Dafür bin ich Ihnen dankbar.
Meine Kollegen werde ich jedoch auf diese und jene Art und Weise belehren müssen. Das sollte ich Ihnen eigentlich verübeln.
Und das Problem der polytheistischen Religionen, die das Kernfeuer nicht anzufachen vermögen, habe wir nicht einmal angeschnitten.
Ich gebe aber zu, dass ich an Ihrem rotzfrechen Zertrümmern der hehren Doktrin von der Unvereinbarkeit der Dies- und Jenseitigkeit zu gefallen beginnt.“
Als er schon auf der Türschwelle stand, wandte sich der Professor noch einmal um, „Tun Sie mir nur einen Gefallen. Bitten Sie mich nie wieder um ein Interview.“
Dann schlug die Tür um eine Winzigkeit zu kräftig hinter Ihm zu.
Ho Xavier blickte noch minutenlang nachdenklich auf den nachwippenden Türgriff.