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Statisches Rauschen
Die Stones spielten gerade „I can´t get no satisfaction", als Thomas die Augen aufschlug. Es schien ihm, als wäre er auf einem fremden Planeten erwacht, auf dem keine klaren Konturen existierten. Doch nach wiederholtem Zwinkern konnte er wenigstens erkennen, worin er sich befand. Ihm war übel und sämtliche Glieder schmerzten. Alles schien so weit entfernt, als würde er die Realität am Ende eines langen Tunnels, wie ein lichtreflektierendes Katzenauge sehen. Als er sich von seinem fieberhaften Zustand etwas erholt hatte, sah er sich um. Er war angeschnallt, befand sich in einem Mercedes der neuen B-Klasse und seine rechte Hand war mit einer Handschelle am Lenkrad befestigt. Alles in diesem Auto wirkte wirklich sauber – ja, fast steril. Während die Rolling Stones immer noch über ihre verzweifelte Suche nach Befriedigung sangen, merkte Thomas, dass er sich übergeben müsse. Reflexartig wollte er mit der Linken die Tür öffnen und tastete nach dem Türgriff, doch er fasste ins Leere und spie in den Fußraum des Wagens. Der Türgriff war abmontiert worden. Mit dem Ärmel seines Pullis wischte er sich den Mund ab. Die Musik hatte aufgehört zu spielen, und wurde durch ein leises, bedrohliches Rauschen ersetzt. Bisweilen konnte er noch nicht allzu viel erkennen, erahnte aber bereits, dass es sich um das Innere einer verlassenen Lagerhalle handeln musste. Durch die ganz oben angebrachten, riesigen Fenster fielen ein paar Lichtstrahlen auf den Betonboden der Halle. Er konnte sich daran erinnern, dass er als Kind immer zusammen mit Freunden in so einer verlassen Lagerhalle gespielt hatte. Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt für nostalgische Gefühle. Er versuchte, die vergangenen Stunden zu rekonstruieren, doch jegliche Erinnerung war wie ausgelöscht. Das letzte woran er sich erinnern konnte, war, dass er an seinem Schreibtisch saß und ein Gespräch mit Dennis, einem seiner jugendlichen Straftäter führte, der gerade erst wieder aus der Haft entlassen worden war. Wie aus dem Nichts packte ihn die kalte Hand des Entsetzens an der Schulter. Er versuchte seine rechte Hand ruckartig durch die Handschellen zu zwängen, wobei sich der kalte Stahl in sein Fleisch schnitt, so dass Blut von seinen Fingerspitzen tropfte … hoffnungslos! Beim Ausatmen bildete sich Rauch, als würde er an einer Zigarrete ziehen, so kalt war es hier drinnen. Er fröstelte am ganzen Körper, als er einen klaren Gedanken zu fassen bekam. Ein Hoffnungsschimmer. Seine Rechte wanderte zum Zündschloss und ertastete einen Schlüssel, den er herumdrehte. Dieses ewige Rauschen aus dem Radio zu ertragen, war wohl die größte Herausforderung, wenn man nicht vorhatte den Verstand zu verlieren. Nach ein paar Minuten blies ihm die Klimaanlage warmen Wind entgegen, der ihn wenigstens etwas beruhigte. Auch die Sicht durch die leicht gefrorenen Scheiben wurde immer besser. In der Lagerhalle schien schon lange nicht mehr gearbeitet worden zu sein, so wie es hier aussah. Wo man auch hinsah, lag Industrieschrott am Boden verstreut. Und … was war das? Hatte sich dort etwas bewegt?
„Guten Morgen, an all die, die gerade auf dem Weg zur Arbeit sind, oder gerade eben in einer Lagerhalle stehen und nicht wissen, wie Sie sich aus dieser Zelle der eigenen Seele befreien können“, erklang eine muntere Stimme aus dem Radio, die das Rauschen so abrupt unterbrach, dass sich sämtliche Muskeln in Thomas Körper auf einmal krampfhaft anspannten. „Schau genau hin, Thomas. Direkt vor dir.“ Er lachte.
Es war zweifelsohne ein menschliches Wesen, das dort, ungefähr 50 Meter vor dem Auto, in dem er gefangen war, herumtaumelte wie ein Betrunkener. Doch kurz darauf, stellte sich heraus: es war leider kein Betrunkener. Die Scheiben waren nun klar, so dass er genau erkannte, dass SIE vor ihm stand.
Verzweifelt versuchte er die Stimme – oder das scheußliche Lachen –, die ihm irgendwie vertraut war, einer Person zuzuordnen, was ihm jedoch nicht gelang. Wer könnte ihm so etwas antun wollen? Fest stand: diese Stimme im Radio war die eines Wahnsinnigen. Zelle der eigenen Seele. Was sollte das bedeuten?
Er betätigte den Scheibenwischer, was sie dazu veranlasste ihre Schwenkbewegungen unter Kontrolle zu bringen und so laut um Hilfe zu schreien wie sie nur konnte.
„Verfluchte Scheiße! Warum bin ich hier!“, schrie er voller Verzweiflung. Die Antwort: das statische Rauschen der Boxen.
Zwei Ketten aus Stahl waren mit einem Ende an ihren Handgelenken befestigt, mit dem anderen am Betonboden fixiert. Sie wand sich, mit den Ketten an ihren Armen, wie eine Fliege im Netz der Spinne.
Die Akustik geschwängert mit ihrem Hilferufen, seinem Schluchzen und dieser Stimme, die wieder einsetzte, und den nächsten Musiktitel bekannt gab: „Sharp Dressed Man“ von ZZ-Top.
Das Rauschen. Die Stimme. Und die gute Laune Rock n´ Roll Songs. Das gepaart war wirklich die grauenvollste Folter, die er je durchleiden musste. Und er wurde schon oft gefoltert – jedenfalls psychisch. Sein Beruf war nämlich Streetworker, welcher ihm einiges abverlangte. Nach seinem Pädagogik Studium in München zog er, mit seiner damals schwangeren Frau Eva nach Berlin, um Jugendlichen auf der Straße zu helfen. Seine Frau prophezeite immer, dass er früher oder später von solch einem Jugendlichen abgestochen werde. Im Augenblick wünschte er sogar, es hätte jemand getan. Ein kurzer Stich, ein kurzes Blutvergießen und in Träume sinken – was für ein Segen.
Sie. Das Mädchen vor ihm. Das Mädchen mit den Haaren, so schwarz wie Ebenholz; dem kurzen Faltenrock; den vereinzelten pinken Strähnchen im Haar; den zerrissenen Strapsen; dem bauchfreien Top, welches ihr Bauchnabelpiercing zum Vorschein brachte. Ihre Haut: ein Kunstwerk aus tausenden von Nadelstichen. Für viele Leute, die ihr flüchtig auf der Straße begegneten, war sie vielleicht nur Abschaum der Gosse. Doch für Thomas war sie um einiges mehr als das. Und ihr Name war Louna Kolb.
Sie war einer von Thomas Problemfällen, und er hatte schon viel mit ihr gearbeitet. Ihre Mutter war Französin, der Vater Deutscher. Der Vater ist als sie zwei Jahre alt war an einem Arbeitsunfall gestorben, als er auf einer Baustelle vom Gerüst stürzte. Die Mutter fühlte sich überfordert, ging nach Frankreich zurück und ließ die kleine Louna einfach weiter in ihrer Wiege schlummern. Ganz allein. Das ist es, was die Jugendlichen auf der Straße vom Leben gefickt nennen. Sie las unheimlich viele Bücher, weshalb sie sehr intelligent war. Leider hatte sie kleine Auseinandersetzungen mit dem Gesetz. Sie sagte immer: eine Revolution brauche Gewalt. Und eine Revolution dürfe nie enden oder von neuem beginnen.
Der letzte Gitarrenriff verklang und es fing wieder zu rauschen.
Es hatte sich nicht viel geändert. Außer: dass es Thomas jetzt wieder warm wurde, was ihn aber keineswegs glücklich machte, denn die Hilfeschreie von Louna waren leiser geworden und offenbarten nun, das schrecklich, knirschende Aufeinanderschlagen ihrer Zähne, das er bis in den Innenraum des Mercedes hören konnte - zumindest glaubte er es zu hören. Sie könnte an der Kälte krepieren.
„Louna und Thomas sitzen auf ´nen Baum, knutschen rum man glaubt es kaum“ erklang die Stimme in einem dümmlichen Sprechgesang. „Thomas! Hast du sie jemals geküsst? Hast du je ihre Lippen berührt? Ich habe es getan, und sie schmeckten wie Frühling und Herbst zur gleichen Zeit. Du hättest sie haben können. Das weißt du doch, oder? Du hättest sie unbedingt auf deinen Schreibtisch werfen müssen und sie ficken sollen! Ihr hätte das gefallen. Und dir doch auch. Aber nun ist es zu spät! Mindestens einer von euch beiden Turteltäubchen muss heute den Löffel abgeben.“
Thomas konnte die Augen kaum offen halten. Er stand kurz vor der Ohnmacht.
„Was du da getan hast, war nicht in Ordnung. Sie ist erst 17 Jahre alt, und du genießt den Anblick ihrer nackten Haut. Jedes mal, als sie dir ihre Tätowierungen zeigte, hast du angefangen zu sabbern wie ein alter Gaul, wenn dieser einen großen, roten Apfel vor seiner Schnauze wittert.“
Er hatte den Kopf auf das Lenkrad gesenkt, womit er versehentlich die Hupe betätigte, was er aber gar nicht mehr wahrnahm. Ein Rinnsal aus Tränen und Schweiß erstickte den Schrei, den er versuchte auszustoßen.
„Ich nehme an, dir ist noch nicht aufgefallen, dass der Kilometerzähler rückwärts läuft, obwohl dein Fahrzeug sich doch überhaupt nicht bewegt. Seltsam, nicht wahr? Ich nahm mir die Freiheit ihn etwas zu modifizieren. Nein, das ist jetzt ein Timer, und wenn dieser auf Null steht, wird eine Bombe, die sich direkt unter deinem Sitz befindet, detonieren. Aber hätte ich dich einfach nur töten wollen, dann hätte ich nicht diesen Aufwand betreiben müssen. Du hast die Möglichkeit die Zeit zu stoppen, indem du den ersten Gang einlegst, voll in die Eisen trittst und deine Motorhaube mit dem zierlichen Körper von Louna kollidieren lässt, so dass ihr Herz für immer aufhören wird zu schlagen. Schau auf den Kilometerzähler. Noch 15 Minuten bis zum Exitus. Und als nächstes ein wirklicher Klassiker: „Jailhouse Rock“ von Elvis Presley. Ich weiß doch, dass du ein großer Fan bist, Thomas.“
Woher wusste der unbekannte Psychopath das? Und noch viel wichtiger war die Frage: Woher wusste er von ihm und Louna?
Sein Job war sozusagen in drei Abschnitte eingeteilt: Die jungen Leute von der Straße holen, die Gruppentherapien, die Einzelgespräche. In den Gruppentherapien hielt sich Louna stets zurück. Sie hatte, im Gegensatz zu den anderen Jugendlichen, weder Probleme mit ihren Pflegeeltern, noch mit irgendwelchen Drogen. Zumindest glaubte er das. Weil sie auf einen Parkplatz einen Porsche mit Benzin begoss und anschließend anzündete, wurde sie inhaftiert und kam anschließend zu ihm. Doch immer mittwochs, wenn sie zum Einzelgespräch kam, blühte sie völlig auf. Er hatte das Gefühl, dass sie ihn gern hatte. Und die Jugendlichen, mit denen er gearbeitet hatte und ihn mochten, konnte er an einer Hand abzählen. Er stellte ihr immer Fragen, ob zu Hause alles in Ordnung wäre und warum sie damals das Auto in Brand gesteckt hat. Aber sie wollte nie darauf antworten, stattdessen zeigte sie ihm ihre Vielzahl an Tätowierungen und was sie bedeuten.
Er fragte: „Sorgen deine Pflegeeltern auch gut für dich?“
Sie antwortete: „Sehen sie, das auf meiner Schulter ist ein Pentagramm. Es zeigt nicht mit zwei Spitzen nach oben wie man es am häufigsten sieht.“ Sie drehte die Schulter zu ihm und ließ die Träger von Top und BH von der linken Schulter gleiten. „Ich bin ja keine Satanistin. Nein, nur eine Spitze zeigt nach oben. Das ist der Vorläufer des Venussymbols, das für die Göttin Venus und für die Weiblichkeit steht …“
Es rannen keine Tränen mehr über sein Gesicht, aber nur, weil all die Tränenflüssigkeit in seinen Drüsen bereits aufgebraucht war. Seine Augen waren Blutunterlaufen und er sah seinem reflektierten Ich im Rückspiegel an, dass es um viele Jahre älter aussah. Louna war am Boden zusammengesunken und zitterte wie verrückt.
Das ist es, was Jugendliche auf der Straße einen komplett abgefuckten Tag nennen.
„Oh, man, das ist so ein Song der auch beim tausendsten mal hören nicht langweilig wird, nicht wahr?! Du stellst dir sicher die Frage, welches sadistische Arschloch dir das antut. Und ich kann dich verstehen. Aber - tja, da musst du dich wohl etwas gedulden. Du hast die Chance es zu erfahren, indem du überleben wirst und die Schlampe mit deinem Benz auf die Hörner nimmst. Ansonsten wird dich die Explosion in tausend Stücke zerreisen. Du hast es in der Hand.“
Mit der linken Faust – seine Rechte war durch die Handschelle an Reichweite begrenzt - versuchte er so fest wie nur irgendwie möglich auf das Radiogerät einzuschlagen. Doch die Stimme fuhr selbst dann noch fort, als Blutstropfen aus der geballten Faust rannen. Sie schien sogar noch lauter zu werden.
„Es war euer süßes kleines Geheimnis, nicht wahr? Ich hatte eine Videokamera in deinem Büro versteckt. Und nun rate mal, was ich mit den Videos getan habe. Ich habe eine so genannte Best-Of-DVD zusammengestellt, die heute mit der Post bei deiner Frau ankommen wird. Das wird ihr gefallen, habe ich recht?“
„Nein. Nein, nein“, schluchzte er.
Der Kilometerzähler zeigte zehn Minuten vor Exitus, und passend dazu, sang Alice Cooper „Billion Dollar Babies“.
Wenn er sie fragte, warum sie damals den Porsche angezündet hatte, antwortete sie mit der Frage, ob er schon ihr neustes Tatoo kenne. Es handelte sich um einen kleinen Engel, der auf ihrer Brust abgebildet war. Diesen Engel hatte sie sich selbst gestochen. Sie hatte den BH bis kurz vor ihrer Brustwarze zur Seite geschoben, damit er ihn sehen konnte. Wie sie immer auf ihren Stuhl, auf der gegenüberliegenden Seite des Schreibtisches saß, mit ihren großen, unschuldigen Augen und ihm die geheimen Hieroglyphen ihres Körpers lehrte. Nach einer Weile hörte Thomas auf, ihr Fragen zu stellen, und sie übernahm immer mehr die Regie ihrer einstündigen Sitzungen, bei denen es den Anschein hatte, als sei er derjenige, der das Problem hatte. Sein Problem: er begehrte sie.
Sie sagte, dass es ihr Schutzengel sei.
Aber dieser kleine Schutzengel musste wohl gerade einen ziemlich festen Schlaf träumen. Thomas musste nun stärker denn je, an seine Frau und Tochter denken, und wie Eva vor dem Fernseher sitzt, ihrem notgeilen Ehemann dabei zusieht wie er den Körper eines jungen Mädchens bestaunt. Die Situation war völlig aussichtslos. Er konnte wieder Lounas Stimme hören. Sie war viel leiser geworden. Die Hilferufe waren zu einem Flehen abgeglimmt. Und er wurde den Eindruck nicht los, als würde sie sich nach dem Tod sehnen. Er wusste nicht, ob sie wusste, wie lange sie hier schon auf ihren Tod warteten. Doch ihm kam es schon wie eine Ewigkeit vor, obwohl er erst vor kurzem erwacht ist.
Noch fünf Minuten bis zum Exitus …
Und wieder erklang die Stimme des Psychopathen und sie klang so scharf wie Rasierklingen: „Komm schon, alter Mann! Nur noch fünf Minuten. Langsam solltest du eine Entscheidung fällen. Da ich eigentlich ein netter Typ bin, versuche ich dir etwas dabei zu helfen.“
„Ein netter Typ! Ich bring dich um du Wichser!“, brüllte Thomas dem Radio entgegen, ohne Aussicht auf eine Antwort.
„Das Ding ist, dass ich gesagt habe“, fuhr die Stimme fort, „du hättest die Chance DICH zu retten. Von einer Möglichkeit Louna zu retten, war nie die Rede. Selbst wenn du jetzt darauf wartest, bis die Bombe unter deinem Arsch losgeht, hast du keine Garantie, dass Louna von den Fesseln befreit wird. Vielleicht muss sie dann langsam erfrieren, was wirklich ein schrecklich schmerzhafter Tod wäre. Und du bist der einzige, der sie von diesem Schicksal befreien kann. Von dieser Seite aus solltest du die ganze Sache mal betrachten. Um die fünf Minuten, bis zum großen Finale zu überbrücken – ich bin wirklich ein gewitztes Kerlchen –, werde ich „The final Countdown“ von Europe abspielen. Viel Spaß dabei.“
Ihr flehen und seine Worte, die leider Gottes, Sinn ergaben, ließ seine linke zum Schaltknüppel wandern und den ersten Gang einlegen. Diese Verrenkungen bereiteten ihm furchtbare Schmerzen. Er tat lange Zeit nichts, versuchte möglichst wenig über das nachzudenken, was er jetzt vorhatte zu tun. Doch schließlich ließ er die Kupplung kommen, hörte den Motor rumoren.
Jetzt oder nie, denn der Kilometerzähler zeigte noch eine Minute vor Exitus an.
Sein rechter Fuß, der sich wie ein Fremdkörper anfühlte, trat auf das Gaspedal, und der Wagen schoss nach vorne. In die Richtung, wo Louna stand und ihm fürchterlich schrill entgegenkreischte. Doch der Angstschrei wurde mit einem dumpfen Schlag einfach abgeschnitten. Vereinzelte Blutspritzer befleckten die Windschutzscheibe und das Auto buckelte jeweils zweimal nach oben und wieder nach unten. Nachdem der leblose Körper, wie die Abgase des Auspuffs, hinter dem Benz ausgespuckt wurde, trat Thomas mit voller Wucht auf das Bremspedal und der Wagen machte eine Umdrehung von ungefähr 45 Grad, bevor er zum Stillstand kam.
„So, wir sind nun fast am Ende unserer heutigen Sendung angelangt. Mein Name ist Dennis Voigt und ich hoffe wir hören uns bald wieder“, sagte die Stimme die nun einen Namen trug.
Thomas fiel es wie Schuppen von den Augen. Das letzte, voran er sich erinnern konnte, war das Gespräch mit Dennis. Er musste ihm irgendetwas in den Kaffee gekippt haben, als er mal kurz urinieren musste. Sein Tatmotiv: er war verliebt in Louna. Thomas konnte einmal beobachten wie sich die beiden in einem Flur der Beratungsstelle küssten. Sie versuchte verzweifelt etwas Abstand zu gewinnen, doch Dennis drückte ihren Körper fest an seinem. Auf Grund eines Verdachts hatte er eine Kamera in seinem Büro installiert und das über sie beide erfahren. Von Eifersucht zerfressen, vergiftete er Thomas, und wahrscheinlich auch Louna, und machte sie zu seinem Marionetten in seinem kranken Spiel, das Louna schließlich das Leben kostete. Ein Poster von Elvis Presley in seinem Büro und diverse andere Poster und Sticker von Rockbands, verrieten ihm das er ein großer Fan von Rock ´n´ Roll sei. Wenn ich sie nicht haben darf, dann soll sie niemand haben, lautete wohl sein egoistischer Gedankenslogan. Thomas fühlte sich von einer unglaublichen Leere zerfressen.
„Ich glaube, du hast dich richtig entschieden, Thomas. Du hast diese arme dunkle Seele von ihrem Leiden erlöst. Und ich halte mein Versprechen: du bist frei. Der Schlüssel für die Handschelle liegt im Handschuhfach.“
Wieder musste er seinen Körper stark strapazieren, mehr noch als die Male davor, damit er mit der linken an das Handschuhfach kam.
„Doch bevor du den Schlüssel benutzt und durch die Beifahrertür in die problemfreie Welt zurückkehrst, solltest du den Umschlag und die Pistole herausnehmen. Ich fand den Zettel bei ihr in der Handtasche. Ich weiß, dass es sich nicht gehört in fremden Handtaschen herumzustöbern. Aber ein Verdacht, der sich dadurch leider bestätigte, macht einen gern mal zum Sherlock Holmes. In meiner Aggression hätte ich den Brief am liebsten in der Luft zerfetzt, wäre mir nicht klar geworden, was für eine wichtige Rolle dieser Brief spielen könnte.“
Mit einem entsetzlichen Stöhnen erreichte er schließlich den Hebel, mit dem sich das Handschuhfach öffnen ließ. Es befanden sich genau die drei Utensilien, von denen er gesprochen hatte, darin: Ein Briefumschlag, eine Pistole und der Schlüssel.
„Thomas, bei der letzten Sitzung hast du mich gefragt, was ich empfunden habe, als ich den anderen Jungen mein Knie in den Magen rammte, so dass er zu Boden ging und ihm immer wieder mit der Faust in seine hässliche Fissage schlug, bis das Blut spritzte. Nun, ich kann es immer noch nicht beschreiben, aber es fühlte sich ungefähr wie das an, was ich in diesem Moment empfinde. Ich lasse dich nun allein.“
Das Rauschen setzte ein.
Er öffnete das Briefcover und begann zu lesen:
Hallo Thomas,
ich wollte dir sagen, wie sehr es mir immer gefällt, bei dir zu sein und über so vieles zu sprechen. Du fragst mich immer nach meinem Adoptiveltern, nun, sie sind zwar ganz in Ordnung, aber sie hören mir nicht zu. Nicht so wie du mir zuhörst. Bei keinem anderen hatte ich je das Gefühl, so offen über alles reden zu können. Alle haben mir immer gesagt, ich solle aufhören, mir die ganze Haut voll zu tätowieren und dass ich es später bereuen würde, während du meine Tätowierungen immer bewundert hast …
Er dachte an ihre letzte Sitzung, bei der sie plötzlich ihr Top auszog und den BH ablegte, so dass er ihre kleinen Brüste sah, die in der Hand liegen mussten wie zwei pralle Orangen. Und wie sie dann ihren Rock aufknöpfte und anschließend auch ihren Slip über die straffen, jungen Oberschenkel herunterstreifte. Dann stand sie splitternackt vor ihm und er hatte Mühe seine Erektion zu verbergen. Nun kannst du sie alle sehen, hatte sie gesagt. Sie zeigte ihm das Jesusgesicht, das auf ihrem Arm abgebildet war. Sie sagte, dass sie zwar oft T-Shirts tragen würde, auf denen „Fuck Jesus“ abgedruckt war. Doch wenn sie abends allein im Bett lag, betete sie doch manchmal zu Gott. Das hatte sie gesagt.
…weißt du, niemals zuvor hatte ich mich nackt vor einem Mann gezeigt. Doch du gabst mir das Gefühl, dass es in Ordnung sei, obwohl du mich nicht haben wolltest. Aber du bist schließlich verheiratet und hast eine Tochter. Und auch wenn du viel älter bist als ich, so liebe ich dich trotzdem, weil du der einzige bist, der mich verstehen kann. Ich hoffe, du wirst auch diesen Brief verstehen.
Deine Louna.
Ich liebe dich
Das ewige, statische Rauschen wurde nur von zwei anderen Geräuschen kurzzeitig übertönt. Es war das Geräusch, das eine Waffe macht, wenn man sie durchlädt. Kurz darauf folgte der Schuss.