Starkes (Früh-) Stück
"Gastfrei zu sein vergesset nicht" (Hebräerbrief 13, 2) mahnt die Bibel wohlwissend, dass das mit Heulen und Zähnekirschen verbunden sein kann: "seid gastfrei untereinander ohne Murren" ( 1. Petrusbrief 4, 9)
Den Gästen werden keine Benimmregeln auferlegt. Das kann sich rächen.
Mitten in meine morgentlichen Gehversuche hinein schrillt das Telefon. Mühsam melde ich mich und ehe ich es recht fassen kann, bin ich zu einem gemeinsamen Frühstück eingeladen. Stehenden Fußes soll ich kommen.
Nachdem ich aufgelegt habe, nehme ich auf unserem Kanapee Platz und reime mir zusammen, was das zu bedeuten hat. Soeben wurde ich von meinen Nachbarn gebeten, das Frühstück gemeinsam mit ihnen einzunehmen. In einer Zeit, in der mit Recht über mangelnde Gastfreundschaft und Kühle unter den Menschen geklagt wird, eine Sternstunde zwischenmenschlicher Beziehungen. Frohgestimmt richte ich mich her, fülle den Kaffe aus der schon vorher in Betrieb gesetzten Maschine in eine Thermoskanne und haste hinüber.
Ein festlich gedeckter Frühstückstisch erwartet mich. Es fällt nicht leicht, das alles in der gebotenen Schnelligkeit aufzunehmen und entsprechend zu würdigen. Denn darauf sollte ein Gastgeber ein Recht haben. Doch schon unter normalen Umständen fehlt mir dieses Talent, ganz besonders natürlich in frühmorgentlicher Schlaftrunkenheit.
Meine Nachlässigkeit belastet mich. Doch zu den Schatten, über die man nicht springen kann, sollte man stehen. Jedenfalls entgeht mir üblicherweise, ob in einem Haushalt hygienisch rein geputzt, Staub gewischt oder alles akkurat geordnet ist, wie umgekehrt, ob Dinge mit besonderer Sorgfalt und Liee zum Detail angerichtet sind. Unermesslich ist mein Neid auf solche Frauen, die das mit einem einzigen Blick bewerkstelligen können.
Allerdings war meinem über den Tisch schweifenden Auge nicht verborgen geblieben, dass im Brotkorb brotähnliche Scheiben aneinandergereiht waren, in denen sich nach erstem Augenschein Rosinen befanden. Das ließ auf süßes Brot schließen. "Wir frühstücken süß!", unterbricht die Stimme der Gastgeberin meine Bestandsaufnahme und sorgt unmissverständlich für Klarheit.
Unwiderruflich bedeutet das: nur Süßes steht auf dem Tisch. Zwar bin ich dem Naschen von Süßigkeiten gegenüber nicht abgeneigt, aber mehr am anderen Ende des Tages, als Betthupferl. Morgens ist mir Süßes ein Greuel. Da mag ich es handfest. "Möchtest Du lieber Wurst und Käse", mit diesen Worten befreit mich dieselbe Stimme aus meine Panik. Erlöst, wenngleich peinlich berührt, gestehe ich: "Ja!"
Der zur Stimme gehörende Körper rast in die Küche, dort werkelt es kurz, eine Hand erscheint in der Tür, die das Ende, ein etwas groß geratenes Krüstchen eines Dreikornbrotes umklammert. "Das ist alles, was wir an Brot noch da haben", erläutert die Stimme. Mir zuckt durch den Kopf, dass ich von zu Hause eben Brot holen könnte, bin gleichzeitig befangen in der Überzeugung, dass ein Gast sich den Gepflogenheiten und Möglichkeiten der Gastgeber unterwerfen sollte. Während ich also nichts sage, ertönt der Hausherr kurz und knapp: "Schneid es auf!"
Schließlich taucht neben dem Brot auch Wurst auf dem Tisch auf. Während wir noch warteten, erwog der Gastgeber, einen schönen, riesigen Forsythienstrauß vom Tisch weg auf eine benachbarte Truhe zu stellen. Indem er darüber halblaut nachsinnierte, gab die Stimme aus der Küche Bescheid: "Du wirst doch nicht etwa schon wieder den Strauß vom Tisch nehmen wollen?"
Als die Gastgeberin mit dem Käsebrett eintrifft, nimmt sie wortlos die Vase mit besagtem Strauß, stellt sie auf jene Truhe und postiert an ihrer Statt den Käse. Das Kleinod des Tischschmucks musste nun als meinen Ernährungseigensinnigkeiten weichen.
"Willst Du den Joghurt warm oder kalt?" - Meine Magennerven kommen in Wallung. Ich mag Joghurt weder kalt noch warm, ich mag ihn überhaupt nicht. Wenn ich jetzt Joghurt esse, wird dieses Frühstück wegen Erbrechen abzubrechen sein. Fünfzehn Jahre meiner kindlichen Sozialisation entwickelte ich mich neben einer Molkerei. Das hinterlässt Spuren.
"Er ist selbstgemacht!" Auch das noch! Welche Demütigung und Undankbarkeit mute ich wohlmeinenden Menschen zu? Ich murmele, dass ich Joghurt nicht mag, weise auf die Schädigung hin, im Dunstkreis einer Molkerei aufgewachsen zu sein. Der Kelch geht an mir vorüber. Und nun endlich beginnt unser gemeisnames Frühstück: menschlich, atmosphärisch, geschmacklich ein Genuss.
Was mich seither umtreibt ist die Frage: Wie werde ich perfekter Gast? Einschlägige Ratgeber für Gastgeber liegen als Druckerzeugnisse vor. Nichts hingegen für meine Frage. Die schon in der Bibel angelegte Einseitigkeit hält sich durch. Das auf sich beruhen zu lassen, geht nicht an. Es geht nicht an, weil solches Verhalten wie das starke Stück beim Frühstück nicht angeht.
Der Gast sollte seinen Blick geschult haben für die eigens für ihn bereiteten Augen- und Sinnenschmäuse. Er sollte seine Genusssucht so weit disziplinieren können, dass er die bei den Gastgebern gereichten Speisen mitgenießen kann. Er sollte dafür seinem Magen eine entsprechende Belastbarkeit und Flexibiliät antrainiert haben. Er sollte das Gasthaus infolge eigenwilliger Ernährungsweise nicht kahlfressen. Seine Extrawünsche sollten sich in so bescheidenem Rahmen bewegen - wenn überhaupt -, dass nicht weit reichende Eingriffe in die Gesamtkomposition der Kulisse erforderlich werden.
Der Leser wird bereits bemerkt haben, dass die Beantwortung meiner Fragen Formen annimmt. Ich trage mich gar mit dem Gedanken, ein Trainingsprogramm zu entwickeln unter dem Motto: "Durch Gastfrust zur Gastlust".
Vorher allerdings muss eine grundsätzliche Fehleinschätzung über den Status des Gastes ausgeräumt werden. Offensichtlich hat sich infolge der in der bisherigen Menschheitsgeschichte durchgehaltenen Einseitigkeit die Überzeugung durchgesetzt, dass der Gast zu seinem Vergnügen Gast sei. Das geht freilich nicht!