Starke Bande
Sie schafft mich, diese kleine Maus, gerade einmal vier Jahre alt. Aber jetzt im Moment sitzt sie ganz friedlich unter diesem besonderen Tisch und spielt fröhlich plappernd vor sich hin. Ich nutze ganz nach Großmutterart die Gunst der Stunde und stricke Socken, bunt geringelte für das kleine Fräulein. Alina wollte ‚Höhle’ spielen. Sie schleppte unsere alte Sofadecke heran und bemühte sich, sie über den runden Tisch zu ziehen. Ich half ihr dabei und nun hockt sie da unten mit ein paar Spielsachen, entrückt von dieser Welt. Eigenartig, wie sich doch Dinge wiederholen. -
Dieses hölzerne Möbelstück hat seine eigene Geschichte. Als unser Kiefern-Esstisch plötzlich zwei Beine von sich streckte, kam er mir wieder in den Sinn, dieser alte Esstisch mit Nussbaumfurnier. Es war ein Erbstück meiner Großmutter. Peter, meine bessere Hälfte und ich trugen ihn herunter ins Esszimmer. Jahrelang fristete er ein ungemüt-liches Leben auf dem Boden. Der Wind pfiff ihm dort oben um die Ohren, da die verwitterten Sprossenfenster es nicht schafften sich gegen die Kräfte der Natur abzuschotten.
Wie schön Alina doch spielte. Ich kam flott voran mit den Socken, bis mich ein
„Rrriiinng!“ aus meinen Gedanken riss.
„Rrriiinng!“ ein metallen klingendes Geräusch. Dieses Geräusch versetzte mich in meine Kindheit, direkt in das Zimmer meiner Großmutter. Ich sah sie vor mir. Omi mit spärlichem Dutt und silbernem Haar, immer gepflegt gekleidet, alles selbst geschneidert. Über ihrem Kleid trug sie eine Schürze in der sich ein riesengroßes Taschentuch befand. Es war stets recht schmuddelig; und wie es stank! Ich hatte den Geruch wieder in der Nase. Wie oft fuhr Omi mir damit über das Gesicht um es zu säubern oder um mir die Nase zu putzen. Da gab es keine Gnade. Diese Prozedur musste ich mehrmals täglich über mich ergehen lassen.
Ich war gern bei meiner Großmutter. Meine Eltern hatten eine kleine Bäckerei. Da gab es immer viel zu tun und es war es ihnen sehr willkommen, wenn mich meine Oma hin und wieder in ihre Obhut nahm. Sobald ich ihr Zimmer betreten hatte, ging ich zum Sofa und kramte die hölzerne Rosinenkiste hervor. Sie beherbergte Bauklötze, beklebt mit Märchenmotiven. Man konnte sie ähnlich wie bei einem Puzzle zusammenlegen. Auch ausrangierte weiße Porzellantöpfchen mit feinem Goldrand, die die Aufschrift ‚Zucker’, ‚Mehl’ oder ‚Soda’ trugen, gehörten zu meinen Schätzen.
Wollte ich Kaufmannsladen spielen, legte Omi eine Decke über ihren Wohnzimmertisch und ich verkroch mich darunter. Ich räumte die Spielsachen zurecht und dann konnten die ersten Kunden kommen. Eine Kundin war Uschi, meine Lieblingspuppe mit blondem Echthaar. Das Haar hatte im Laufe der Jahre schon ziemlich gelitten. Es glich inzwischen dem Pelz einer räudigen Katze. Uschi gehörte früher meiner älteren Schwester und sie wie auch ich spielten hin und wieder Friseur und wollten Uschi eine schicke Frisur verpassen. Als ich damals an Uschis blondem Haar herumschnippelte, bildete ich mir ein, die Haare würden nachwachsen. Wenn Uschi den Kaufmannsladen betrat, nahm ich einen Teelöffel und ratschte damit an der dicken Metallfeder, die sich unterhalb der Tischplatte befand, um die Einlegeplatten zusammenzuhalten. „Rrrinnggg“ die Ladenklingel ertönte und das Verkaufsgespräch konnte beginnen. Ich fühlte mich wohl, fühlte mich geborgen in diesem Versteck, spürte die Anwesenheit meiner über alles geliebten Großmutter.
Oft blieb ich über Nacht. Omi hatte nur ein Zimmer. Es war Küche, Wohn- und Schlafzimmer zugleich. Sie schlief in einem dunkel gebeizten Wand-Klappbett und ich auf dem Sofa. Wenn es Abend wurde, zog meine Großmutter die vergilbten Rollos herunter. Ich machte Katzenwäsche in einer Waschschüssel, zog mein Nachthemd an und legte mich hin. Da Omi nur dieses eine Zimmer hatte, durfte ich so lange aufbleiben, bis auch sie ins Bett ging. Sobald ich auf dem Sofa lag, schön eingekuschelt unter einer dicken Federdecke, setzte sie sich zu mir. Wir beteten gemeinsam. „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm. Amen.“
Dann bekam ich einen Gute-Nacht-Kuss und Omi löschte das Licht. Es war stockdunkel im Zimmer. Jeder Abend verlief gleich. Ich spitzte meine Ohren und lauschte den Gebeten meiner Großmutter. Während sie sich auszog murmelte sie vor sich hin, zuerst das Vaterunser, dann das Glaubensbekenntnis, darauf folgte ‚Der Herr ist mein Hirte’. Ich hörte wie sie sich auszog. ‚Ratsch’. Sie zog den langen Reißverschluss ihres Kleides herunter. Als Omi sich das mit Taft gefütterte Kleid über den Kopf zog, vernahm ich ein Rauschen. Taft! Schweinchenrosa glänzend! Dann löste Omi die Knöpfe ihres Strumpfhalters. Zwei vorn, zwei hinten, an jedem Bein. Die acht Knöpfe wurden ‚klack, klack, klack, klack’, klack, klack, klack, klack’, auf die Glasplatte ihres Nachttisches gelegt. Immer an dieselbe Stelle. In diese Geräusche mischte sich das Gemurmel ihrer Gebete. Zum Schluss – das war am Spannendsten – ein gleichmäßiges Gnucken, insgesamt vierundzwanzigmal. Es entstand beim Öffnen der Haken und Ösen ihres fleischfarbenen Korsetts das sich mühte, ihre üppigen Formen ein wenig zu bändigen. Jetzt wurde mit einem leisen Stöhnen die Bettdecke zur Seite geworfen und Großmutter legte sich in das quietschende Bett. Ich hatte jedes Mal ein wenig Angst, dass es zusammen-krachen würde. Sah es doch recht zierlich aus und stand es doch auf nur zwei beweglichen Stützen, die vor dem Herunterklappen des Bettes in die richtige Stellung gebracht werden mussten. Ich lag immer noch gebannt da und lauschte. Jetzt mussten gleich die letzten Worte kommen. Omis Gebet, welches sie zum Schluss dahinmurmelte, dachte sie sich immer selbst aus. Sie sprach darin von den Erlebnissen des vergangenen Tages, aber die letzten Worte waren immer gleich. Sie lauteten: „Ich leg mein Herz in deine Hände und das meiner kleinen Rita auch.“ Kurz danach schlief ich seelenruhig ein.
„Rrriiing“ - Alina spielt Kaufmannsladen, wie ich damals unter diesem Tisch. Dieses Geräusch stellt eine Verbindung her, augenblicklich, tiefgehend. Eine Verbindung zwischen meiner Großmutter und meiner Enkeltochter die sich nie begegnet sind, sich aber so nahe sind durch mich. Du bringst mir meine Kindheit zurück, lässt mich die Wärme, die Herzlichkeit spüren, die mir meine Oma geschenkt hatte vor vielen Jahren und die ich an dich weitergebe. Du hörst meine klappernden Stricknadeln und da ist es wieder, dieses
„Rrriiing“