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Stallgeruch
"Das klingt Scheisse", rief Lars ins Mik und die schmerzhafte Rückkopplung liess uns verstummen.
"Das Lied ist Scheisse", grunzte Mike und haute einen Powerchord in die Saiten seiner Gibson.
"Ja klar, du möchtest am liebsten den ganzen Abend Thrash Metal schrammeln, aber so läuft's nun mal nicht. Wir sind die Andertones, und nicht Slayer, klar soweit?"
"Gut, dann kann ich ja gehen, wenn's mich hier nicht braucht", rief Mike, stapfte zum Ausgang und knallte die Holztür hinter sich zu. Der alte Stall erzitterte und Staub rieselte von den Holzwänden. Eric und ich schauten ihm verdutzt nach. Die Luft war auf einmal zum Schneiden, das Rauschen der Marshall-Verstärker überlaut. Ich drehte meine Keyboard-Regler sinnlos hin und her, während Eric, nicht weniger betreten, an seinem Bass rumfummelte.
"Ach, der kriegt sich wieder ein", brummte Lars hinterm Schlagzeug hervor.
"Bist du sicher? ", fragte ich. "Wir haben nächsten Monat Auftritt, und wenn Mike jetzt schmeisst …"
"Sven, ganz ruhig, der kommt wieder."
"Wie willst du das wissen?"
"Er hat seine Gitarre stehen lassen." Die Tür sprang auf und Mike kam herein.
"Na seht ihr?", triumphierte Lars und liess einen Stick durch die Finger kreiseln.
"Fick dich", sagte Mike und unterstrich seine Meinung mit dem Mittelfinger. Dann riss er das Kabel aus dem Marshall-Amp und schnappte sich seine Gibson. Wieder wackelten die Wände, als Mike die Tür zuschlug.
"Ja, dann hau doch ab", schleuderte Lars der geschlossenen Tür entgegen. "Hast eh keinen Ton getroffen!" Was so nicht stimmte, tatsächlich war Mike ziemlich begabt.
"Das war's dann wohl mit unserem Gig", sagte ich und hatte einen Kloss im Hals. "Verdammte Scheisse." Wütend warf Lars die Sticks auf die Becken.
"Ich muss pissen …", stöhnte Eric.
Ich folgte ihm hinter den Stall und stellte mich neben ihn ins hohe Gras. Schweigend liessen wir es laufen. Von drinnen war zu hören, wie Lars durch den Stall tigerte, dabei laut fluchte und Mike zum Teufel wünschte. Ich starrte den Vollmond an und suchte den Hasen ...
Vor fünf Jahren zog die Familie Andersson in den alten Bauernhof am Rand unseres Dorfes, einem Vorort von Bern, wo einerseits die Kühe noch von Hand gemolken, andererseits aber ganze Quartiere mit neuen Reiheneinfamilienhäusern auf zahlungskräftige, landluftsuchende Familien warteten.
Eric kam nach den Sommerferien in meine Klasse. Er und sein älterer Bruder Lars kamen aus Ystad, Schweden. Über den Grund für ihren Umzug gab es zahlreiche Gerüchte. Am besten gefiel mir das mit dem Zeugenschutzprogramm.
"Ich kenne Ystad", sprach ich Eric in der Pausenecke an. "Aus der Wallander TV-Serie."
"Und ihr esst sicher jeden Tag Käsefondue, was?", grinste er zurück.
Ich wurde rot, dann lachten wir beide auf, das Eis war gebrochen.
Den Herbst über tauschten wir Musik und hingen zusammen ab. Er erzählte von Schweden und dem abenteuerlichen Umzug auf einem Frachter. Und dem alten Stall. Im Frühling parkte ich dort mein Keyboard und irgendwann im Sommer stiess Mike Matthis, ein schlaksiger Typ aus der Parallelklasse, mit seiner E-Gitarre dazu. Mike war ziemlich wortkarg, band seine langen Haare zu einem Pferdeschwanz, trug gerne Holzfällerhemden, darunter immer die gleichen ausgeblichenen Jeans, möglicherweise hatte er auch nur die eine, dazu Nietengürtel und Motorradstiefel. Ich mochte ihn nicht besonders, aber er schleppte immer was zu Trinken an, manchmal auch was zum Rauchen, und er konnte wirklich gut Gitarre spielen. Ab da nannten wir uns - in Anlehnung an Lars und Erics Familiennamen - die "Andertones" und spielten Stücke bekannter Rockbands nach.
Nach einem Jahr covern spielten wir die ersten Eigenkompositionen. Dabei duellierten sich Lars und Mike wegen der Stilrichtung. Mike wollte es härter, so Richtung Metallica, Lars war mehr für die Rock-Balladen mit viel Synthesizerteppich. Mir war's eigentlich egal, Hauptsache wir machten Musik. Dann kam Laura.
Das erste Mal, als ich sie sah, ich meine, so richtig sah, das war im Sommer des letzten Schuljahrs. Lange schwarze Haare, volle Lippen und ein Gesicht wie Elfenbein, hatte irgendwas mit ihren Essgewohnheiten zu tun, sagten die anderen. Obwohl ich dachte, sie mache einfach ein bisschen auf Gothic. Am besten gefiel mir sowieso ihre Nase, ein bisschen wie Sandra Bullock, und wenn sie lachte, erschien ein kleines Grübchen auf der linken Backe.
Die Ferien hatten gerade begonnen und wer nicht wegfuhr, kam ins Freibad. Mike und Lars spielten auf der Wiese Frisbee und Eric an Steffis Bikini, bis sie ihm eine scheuerte und wegrannte.
Ich hatte die Ohrhörer auf, sass auf einem grossen Badetuch und vor mir lag Notenpapier, auf dass ich das Intro für Lars neuen Song kritzelte.
"Was hörst du da?"
Ich schaute auf und musste die Augen gegen die grelle Sonne abschirmen. Dunkle Augen lachten mir entgegen. Ein Mädchen aus der Parallelklasse, ihr Name wollte mir nicht einfallen, aber ihre Nase erkannte ich sofort. Und als ich rot wurde, bildete sich bei ihr ein Grübchen auf der linken Backe.
"Die einzige Band, die für ihre Songs mit nur drei Akkorden auskommt", sagte ich und bot ihr einen Ohrstöpsel an. Sie grinste, setzte sich neben mich und steckte ihn sich ins Ohr.
"Ah, Status Quo, die kenn ich. Der Leadsänger heisst Rossi, trägt die Haare wie Mike."
Ihre Haut roch nach Pfirsichblüten und glänzte in der Sonne. Mir wurde noch heisser, als es eh schon war. Schweissperlen rannen mir über den Rücken und ich schluckte den Kloss im Hals runter. Bevor sich meine Badehose verformen würde, zog ich meinen Stöpsel aus dem Ohr und sprang auf.
"Wer als zweiter im Wasser ist, bezahlt das Eis." Dann rannte ich zum Sportbecken und sprang mit einem Kopfsprung ins Wasser. Kälte umschloss meinen Körper, ein Tosen in den Ohren und mein Herz klopfte im Hals. Ich verlor augenblicklich die Orientierung, was oben war, schien unten, der Boden – oder war es der Himmel – dehnte sich wabernd in alle Richtungen. Übelkeit schnürte mir den Hals zu, das Herz raste, die Lungen schienen zu bersten, dann driftete ich ins Nichts …
Ein schwarzer Vorhang wehte mir übers Gesicht. Ein Schlag auf die Backe, jemand rüttelte an meiner Schulter, Übelkeit, ich drehte mich auf die Seite, ein Schwall Halbverdautes landete auf den Steinplatten. Ich hustete und jemand klatschte in die Hände. In den aufgeregten Stimmen schwang Erleichterung. Dann sah ich Laura. Sie hielt meine Schulter, sie weinte, nein, sie lachte, ich dämmerte erneut weg.
Sie hatten mich ins Krankenhaus zur Beobachtung gebracht. Eine Schwester hängte gerade einen Tropf an. "Draussen wartet deine Retterin." Sie zwinkerte mir zu und ging zur Tür. Ich schaute mich um, musste an den schwarzen Vorhang denken, an dunkle Augen und an ein strahlendes Lachen.
Laura kam vorsichtig ins Zimmer. Unter ihren kurzen Jeans und einer leichten Sportjacke trug sie immer noch ihren blauen Badeanzug.
"Hi", sagte sie. "Hast uns einen ganz schönen Schreck eingejagt."
"Hast du mich aus dem Wasser gezogen?" Sie wurde rot und beobachtete beim Sprechen meinen Tropf. "Nein, das war Mike." Der schwarze Vorhang.
"Ich habe dich nur beatmet und …", ihre Stimme versagte und sie wischte verstohlen eine Träne fort. Ich fühlte einen Schmerz in der Brust und bemerkte erst jetzt den dicken Verband.
"Sorry", sagte Laura. "Hab dir wohl eine Rippe gebrochen."
"Sorry? DU hast mir das Leben gerettet!"
"Aber Mike hat dich rausgezogen!"
"Ja, klar, Mike natürlich. Ist er da?"
"Hat's nicht so mit Krankenhäuser, hat er gesagt, und …"
In dem Moment sprang die Tür auf und ein familiärer Tsunami brach herein. Vater, Mutter und andere besorgte Gesichter strömten ins Zimmer. Mitleidiges Geschnatter erfüllte den Raum, Küsschen hier, schmerzhaftes Drücken da, - oh tut mir leid, wie geht's dir denn, was machst du denn für Sachen – und plötzlich war Laura verschwunden, ich wollte nur noch schlafen, schloss meine Augen. Das Stimmengewirr entfernte sich immer weiter, ich träumte von Pfirsichbäumen und wilden Pferdemähnen.
Nach zwei Tagen durfte ich wieder nach Hause. Eine Woche absolute Bettruhe, danach Gesundheitscheck und alles war wie vorher. Laura kam mich besuchen, Eric war auch mal da, und brachte mir 'nen Playboy mit, damit bald alles wieder grade steht, der Scherzkeks. Aber Laura war die beste Medizin, ihr Lachen, ihre Augen und das Kräuseln des Nasenrückens, wenn sie verlegen wurde. Und so fragte ich sie, ob sie Gitarre spielen könne.
"Ich kann singen", kam es wie aus der Pistole geschossen.
"Oh, also wenn du Lust hast, kannst du ja mal zu unserem nächsten Casting kommen."
Und so klopfte es eines Tages an die Stalltür. Laura steckte den Kopf herein und grinste.
"Hi", sagte sie und ich fühlte mich wieder wie im Krankenhaus, doch diesmal hatte ich wenigstens eigene Klamotten an.
Sie lächelte mir zu und trat in unsere rauchgeschwängerte Bude. Weisse Bluse, darüber breite Hosenträger mit Totenköpfen und knallenge Bluejeans. Sie hatte sich zurecht gemacht, aber weniger schrill als sonst. Die langen Haare wild hochgesteckt, etwas Kajal unter den Augen, der Lippenstift passend zu den Ohrringen. Ich sprang auf, und meine gesamten Notenblätter rauschten zu Boden. Sie bückte sich und sammelte die Blätter ein, ihre Haare rochen nach Apfel und ich konnte von oben den Ansatz ihrer Brüste sehen.
"Oh, lass nur, geht schon", stammelte ich und hätte mich am liebsten zu den Holzwürmern verkrochen.
Lars stellte ein Mikrofon auf und steckte ein zusätzliches Kabel ins Mischpult. Ich hetzte wieder hinters Keyboard und fingerte nervös an meinen Knöpfen rum.
"Für mich?", fragte Laura und deutete aufs Mik. Lars machte eine einladende Geste und schwang sich hinters Schlagzeug.
"Was singst du uns?", fragte ich und klimperte ein paar Akkorde.
"Gib mir ein A", hauchte sie und ich stellte mein Keyboard in Erwartung einer Ballade auf Grand-Piano. Während sie mein "A" nachsummte, krümelte Mike eine Portion Tabak aufs Blättchen und tat so, als ginge ihn das alles gar nichts an. Konnte mir recht sein, Laura war meine Entdeckung, und egal, ob sie singen konnte, ich mochte sie, wollte mehr von ihr. Und dann kam da ein Ton aus den Boxen, erst nur schwach, schwoll an, herb und rauchig, direkt aus der Seele.
Proud Mary.
Wir glotzten auf Laura, Mike liess die halbfertige Tüte fallen, schnappte sich die Gitarre und verhedderte sich prompt im Kabel. Er kramte ein Plektrum aus der Hosentasche und schaffte es gerade noch rechtzeitig, während Laura "Rolling -Rolling To The River" mit so viel Inbrunst langzog, dass es mir die Haare aufstellte. Scheisse, nicht nur die Haare, alles in mir vibrierte, ich war hin und weg. Wo holte ein solch zierliches Mädchen nur eine solche Hammerstimme her?
Lars schlug auf die Snare, Mike stimmte zusammen mit Erics die Bridge an und Laura warf die Haare zurück. Ein paar Strähnen hingen ihr ins Gesicht, als sie das Mik vom Ständer riss und mir eine geballte Ladung Proud Mary keep on burnin' entgegen schleuderte. Hastig drehte ich den Wahlschalter auf RockOrgan und liess meinen Zeigfinger über die Tasten fegen, um im oberen Akkord zu verharren. Ich zog alle Register, saugte mich fest am Klang ihrer Stimme, jagte den River hoch und ruderte, was die Tasten hergaben. Gegen Ende drehten wir voll auf, Laura kreischte und Lars gab das Zeichen. Noch einmal spielten Eric und Mike die Bridge, dann prügelte jeder alles aus seinem Instrument raus, bis wir gleichzeitig im Finale explodierten.
Kurzes Schweigen, nur das Summen der Marshalls, dann fing Lars langsam an zu klatschen, Eric und ich stimmten begeistert ein.
"Wow, das war echt krass!", rief Mike, legte seine Gitarre weg und ging direkt auf Laura zu. Er umarmte sie, einfach so, ein Stich im Magen. Dann zog es mir die Brust zusammen, denn es schien ihr zu gefallen. Dabei hätte ich da vorne stehen sollen, ihre Hand auf meinem Rücken, stattdessen sass ich hinterm Keyboard auf starrte auf die Tasten.
Ich roch Apfelshampoo, spürte warme Lippen auf der Wange.
"Danke für deine Einladung", sagte sie. Ich warf mich nach vorne, nahm sie in die Arme, wirbelte sie herum, schaute ihr lange in die Augen und küsste sie auf den Mund. Jedenfalls hätte ich das am liebsten gemacht, stattdessen klebte ich auf meinem Hocker fest und stammelte etwas von "Gern geschehen" und "Du singst ganz gut".
Beim Abschied spät am Abend wollte ich die Umarmung nachholen, doch ich stockte, sie schaute mich kurz fragend an, dann flüchtige Küsschen links, Küsschen rechts, das war‘s.
Sven, du Riesendepp.
"Hei Alter! Alles in Ordnung?", fragte Eric.
"Was?"
"Kannst einpacken, da kommt nichts mehr", grinste Eric.
Wie lange ich wohl mit offener Hose den Mond angestarrt hatte? Jedenfalls hatte sich Eric eine Kippe angezündet und fast aufgeraucht.
"Übrigens, kommt Laura heute noch?"
Die Frage traf mich in der Magengrube. Ich Dödel hatte mir Hoffnungen gemacht, dabei hatte sie bereits im Freibad ein Auge auf Mike geworfen, und der hatte ihr den Streit mit Lars sicher schon gesimst.
"Keine Ahnung, na ja, Mike und Laura sind schliesslich so." Dabei hakte ich die Zeigefinger ineinander.
"Jep, Scheisse gelaufen."
"He, schlagt ihr Wurzeln da draussen?", rief Lars durch die Stallwand.
"Kommt rein, in vier Wochen ist Auftritt!"
Eric schnippte die Kippe ins feuchte Gras und klopfte mir auf die Schulter.
"Komm, lassen wir Sir Phil Collins nicht länger warten."
Es waren noch zwei Wochen bis zum Gig, der Abschlussabend unserer Schule. Wir stellten das Programm komplett um, nach Lars Vorliebe sehr balladenlastig. Den Part von Laura sollte ich mit dem Synthie übernehmen. Ich schlug Overdubbing vor, aber Lars wollte alles live haben. Egal, denn nur ein Keyboard, ein Bass, ein Schlagzeug, und dann alles ohne Gesang, wir waren sowieso am Arsch.
Laura tauchte an diesem Abend tatsächlich nicht mehr auf. Und auch in den nächsten Wochen blieb sie den Proben fern. Mike wird's ihr wohl verboten haben, dachte ich, sie machten ja jetzt ihr eigenes Ding. Irgend so ein Plattenfuzzi, der zufällig auch noch Mikes Onkel war, wollte die beiden gross rausbringen.
Fast wünschte ich mir, Mike hätte mich nicht aus dem Wasser gezogen.
"Scheiss drauf", sagte Lars, "wir rocken die Halle auch alleine, wirst schon sehen."
Sein Selbstvertrauen war grenzenlos.
Der Abschlussabend kam, und die Katastrophe nahm ihren Lauf. Nach der langweiligen Rede unseres Rektors war die Stimmung so ausgelassen, wie beim Kaffeenachmittag im Altersheim. Dann wurde Hausmeister Hugentobler in den Ruhestand verabschiedet. Es war nicht zu erkennen, ob er sich nun freute, oder gar nicht wusste, welche Bedeutung das hatte. Er schaute grimmig wie immer, ein Wunder, dass er nicht "Schuhe abtreten" rief, als Frau Gehri mit einem Blumenstrauss auf die Bühne kam. Dann wurden Rednerpult und Schulfahne zur Seite geschoben und unsere Instrumente wirkten auf einmal etwas verloren auf der grossen Bühne der Turnhalle. Neonweisses Saallicht, es war nüchtern wie in einem Kühlraum.
Wir pflanzten uns hinter die Instrumente, ich war aufgeregt wie ein Kalb vorm Schlachthof.
"Ja, ähm, hallo zusamm…", Rückkopplung, Gelächter und Pfiffe. "Ups, he, he, also ja, wir sind die Andertones – und, ähm, ja, - wir fangen dann mal an." Wieder Gelächter, sogar einige höfliche Klatscher.
Lars hatte schon mal den Einstieg in den Sand gesetzt, jetzt konnte es ja nur besser kommen.
Nach "Let It Rain" von Gotthard und Lars Eigenkreation zu "Got A Hole In My Soul" wurden wir langsam warm und das Publikum auch. Irgendjemand hatte den Lichtschalter gefunden und fortan beleuchteten Feuerzeuge den Saal wie Hunderte Glühwürmchen. Wir spielten uns in Laune, nach dem fünften Song, eine Lou Reed Adaption von "Walk On The Wild Side", gab es plötzlich Unruhe im Publikum. Ein paar Jungs aus der Stadt hatten sich anscheinend aus Langeweile in unser Konzert verirrt. Bereits ziemlich vorgeglüht, grölten sie ihren eigenen Song und warfen Flaschen auf die Bühne. "He, Leute, immer mit der Ruhe", rief Lars in den Saal. Plötzlich ein Schrei und Klaus Neumeier aus der Fünften hockte mit blutender Nase auf dem Boden. Irgendjemand drehte uns daraufhin den Saft ab und mit dem weissen Neonlicht verwandelte sich die Konzerthalle in eine nüchterne Schulaula zurück.
"Geile Party, Mann", lallte ein stämmiger Kurzhaarstädter mit speckiger Lederkutte, dem ein gigantischer Ring aus der Nase wuchs, "aber ihr spielt echt lahm."
Zwei herbeigerufene Lehrkräfte bugsierten den Jungstier an die frische Luft. Ich weiss nicht mal mehr, ob Klaus ins Krankenhaus musste, denn ein anderer zog meine Aufmerksamkeit voll auf sich. In der Mitte der Halle, auf dem Anspielpunkt, stand Mike! Neben ihm lehnte Laura, hackedicht. Ob besoffen oder bekifft konnte ich nicht ganz erkennen. Mir tat es einfach weh, sie so ausgeliefert neben ihm zu sehen. Ja, einen Moment dachte ich, Mike hätte die Schlägerei inszeniert, um unser Konzert zu sabotieren. So wie er jetzt griente, freute er sich anscheinend über unseren Reinfall. Er zuckte noch mal mit den Achseln, dann zog er mit Laura im Schlepptau zum Ausgang, die anderen Lederkutten trotteten brav hinterher. Mir brannten die Augen und ich hatte eine Stinkwut im Bauch.
"Alles klar mit dir?", fragte Eric.
"Ach lass mich in Ruhe."
"Schon gut, wollte ja nur …"
"Tschuldige, bin ganz von der Rolle, weil der Gig geplatzt ist."
"Nee, du bist sauer wegen Laura, oder wegen Mike, oder wegen beiden!"
Und da hatte er recht, ich war ja so was von angepisst. Am liebsten hätte ich jetzt mein Keyboard zertrümmert. Aber das hätte mir Laura auch nicht zurückgebracht. So packte ich es brav in den Koffer, half die Kabel der Tonanlage zusammenzurollen und dann warteten wir auf Vater Andersson, der uns mit seinem Pickup zurück zum Stall fahren würde.
Wir sassen alle drei am Bühnenrand, als plötzlich Laura in die leere Halle hereingetorkelt kam.
"Es tut mir leid, das wollte ich nicht." Ihr Haar war zerzaust, ein Gummiband hatte sich gelöst und ihre Bluse hatte gelbe Flecke. Sie sah traurig aus, aber auch ziemlich weggetreten.
Ich sah Halbverdautes auf Steinplatten vor mir, spürte einen kalten Luftzug - schwarzer Vorhang - im Gesicht und mir wurde augenblicklich übel. Ich wollte Laura retten, aus dem Dunstkreis von Mike befreien, aber wollte sie überhaupt gerettet werden?
Mike erschien in der Halle, legte von oben seinen Arm um Lauras Schultern, als wolle er sie in den Schwitzkasten nehmen und schob sie aus der Halle.
"Was war denn dass jetzt?", fragte Eric.
"Klärung der Besitzansprüche", sagte Lars.
Vater Andersson betrat die Halle. "Können wir?"
"Wir können", sagte ich, während Hugentobler fluchend das Leergut auf der Bühne zusammenfegte. Das mit dem Ruhestand musste er wohl erst noch lernen.