Stalingrad Winter 1942/43 Ostsektor
Stalingrad Winter 1942/43 Ostsektor Kommandozentrale
Gefreiter Jung riss die Tür auf und fragte hastig nach Oberstleutnant Span. Es wurde ins dritte Obergeschoss des teilweise umfunktionierten Krankenhaus verwiesen. Auf dem Weg dorthin kam er an verletzten, toten und wimmernden Soldaten vorbei, die ohne Hilfe in den Gängen und Zimmern lagen. Er bekam eine Gänsehaut und versuchte ihnen nicht in ihre Augen zu schauen. So hatte er sich den Krieg nicht vorstellt, dachte er sich.
Er war erst seit kurzem an der Ostfront. Erinnerungen an seine Ausbildung im 307. Fallschirmjäger-Bataillon in Cottbus kamen ihm hoch. Spieß Fischer, der an der Westfront sein rechtes Auge durch einen Granatsplitter verloren hatte, erklärte ihnen immer wieder, dass jeder größere oder kleinere Opfer bringen muss, um Siege zu erringen. Er war stolz auf sie, sie hatten Opfer gebracht. Unser Vaterland wird genau so stolz auf diese tapferen Soldaten blicken. Sie alle kämpfen für ein Großdeutsches Reich, in dem Recht und Ordnung die Perspektive für spätere Familien sein wird. Dies verstärkte seinen Tatendrag.
Mit einer selbstbewussten Körperhaltung stand er nun vor dem Büro. Als er an die Tür klopfte und ein lautes „Herein“ aus dem Zimmer hallte, merkte er plötzlich, dass seine Hände am zitterten. Er betrat das Zimmer, hob seinen Arm und rief laut: „Heil Hitler Oberstleutnant Span“. Anstatt, dass Oberstleutnant Span den Hitlergruß erwiderte kam nur ein kaltes und genervtes „Jaja jetzt reden sie schon sie Grünschnabel“. „Ich bin Gefreiter Jung, ich soll Meldung zur Lokalisierung dreier russischer Spähtrupps und die Zusammenziehung feindlicher Verbände im Ostsektor zwischen der Brücke Kramnik und dem Armenviertel Juschow geben.“ Oberstleutnant Span beugte sich über die Karte nahm einen Stift und ein Lineal in die Hand und nuschelte etwas vor sich hin. „Oberstleutnant Span, Herr Oberstleutnant Span“, unterbrach ihn Gefreiter Jung. Mit einer hochmütigen Stimme fragte Gefreiter Jung nach, was er nun zutun hätte. „Was ist Sie dummer Trottel“, klaffte ihn Span an. „Sie wissen doch gar nicht was uns bevor steht. Seit gut einem Monat haben uns diese Bolschewistenschweine umzingelt. Und täglich bekomme ich Meldung, dass es immer mehr werden.“ Oberstleutnant Span wurde wieder leiser und seine Stimme klag verzweifelt. „Die versprochenen Hilfslieferungen von Herrn Göring erreichen nicht mal das minimale Pensum zur Aufrechterhaltung unseres Heeres. Heeresgruppe Mitte ist mit über einer halben Millionen Soldaten im Stadtraum Stalingrad eingekesselt. Aus Berlin kam der strikte Befehl zum Durchhalten. Mit der Begründung, dass die Heeresgruppe Süd aus dem Kaukasusgebiet uns hier befreit. Jedoch wissen wir, dass sie selbst schon durch frische sibirische Truppen aufgemischt wurden und nun verstreut den Rückzug antreten.“ Lautes Pfeifen unterbrach seinen Vortrag. Rings um das Gebäude schlugen Mörsergranaten ein. Lautes schmerzverzerrtes Geschrei war von draußen zu hören. Das Krankenhaus bebte. Oberstleutnant Span befahl im Ohrenbetäubenden Lärm, dass Gefreiter Jung zurück in seine Stellung gehen sollte. Zuvor solle er aber noch zum Truppenstab im ersten Stock, um noch irgendwelche kampffähigen Soldaten zur Verteidigung aufzutreiben. Span vermutete, dass die Russen bald die Schlinge zuziehen würden.
Gefreiter Jung verließ unverzüglich das Büro. In den Gängen flackerte das Licht und die verletzten Soldaten schauten mit toten Blicken den jungen Gefreiten Jung an. In den Augen befand sich kein Leben, keine Seele, die über etwas reden könnte, rein gar nichts. Auch wenn sie bis jetzt noch am Leben waren, sie waren geistige Fracks. Der Krieg, diese unmenschliche Gewalt hat sie zu einer Hülle ohne Leben gemacht. Er mochte nicht so enden wie sie, doch er wollte sein Vaterland nicht enttäuschen, nicht in dieser Situation, nicht in diesem so glorreichen Krieg, nicht gegen diese Feinde. Sie müssen für das zahlen was sie uns alles im ersten Weltkrieg angetan haben. Wir dürfen keine Schwäche zeigen. Das russische Volk muss für seine und für die seiner alliierten Mitstreiter verübten Taten bluten, redete er sich immer weiter ein. Nachdem die Mörsergranaten verstummt waren, machte er sich mit ungefähr dreißig halbwegs kampffähigen Soldaten zurück in seine Stellung. Ob sie den heutigen Tag noch überleben würden, bezweifelt er. Auf dem Weg zur Stellung kamen ihnen viele durch die Granaten verletzte Soldaten entgegen. Auf Liegen, ganz ohne Beine oder welche, die mit ihren eigenen Händen ihre Gedärme in den Bauch drücken, wobei das Blut nur so strömte. Sie schrien so laut, dass er sich die Ohren zu hielt. An den Straßenrändern sammelten sie die gefallenen Soldaten. So viele waren noch so jung. Knaben, die grad erst eine Lehre hätten beginnen sollen. Ihre so hilflosen Gesichter prägten sich unerbittlich in seinen Kopf. Er selbst ist auch einer dieser Knaben, nur er war noch am Leben. Bis zur Stellung musste er nur noch an die jungen Soldaten und deren Schicksaale denken. Der Rest des Tages verlief ruhig im Schützengraben. In dem schlammigen Graben schien die Zeit endlos zu sein. Irgendwann setzte er sich, nahm sich eine Decke und schlief ein. In der Nacht träumte er von den toten Soldaten an den Straßenrändern, wie sie ihre Augen langsam öffneten und aus ihrem Mund leise, aber stetig lauter sein Name kam. Sie riefen ihn.
Ein lautes Pfeifen weckte ihn plötzlich. Dass es wieder Mörsergranaten waren, merkte er erst, als sie in das Gebäude rechts neben ihm mit tosendem Lärm einschlugen. Maschinenpistolenfeuer dröhnte vom Wald vor der Stellung. Er hörte das Pfeifen der Kugeln neben seinem Kopf. Er griff zu seiner K98 entsicherte und schoss zurück. Neben ihm stand der MG-Schütze Gesing. Er lud durch und mähte den ersten anstürmenden russischen Sturmtrupp nieder. Dies ging eine ganze Weile so weiter. Schreiende und stark blutende, aber tapfere deutsche Soldaten wurden aus den Stellungen geborgen. Ob sie diese wahrhaftig verfluchte Stadt noch mit einem schlagenden Herz und der Hoffnung nach dem Frieden überstehen würden, war ungewiss. Auf der linken Seite erblickte Gefreiter Jung sieben russische Soldaten, die sich durch eine Kuhle zur Verteidigungslinie bewegten. Er rief dem Gefreiten Gesing zu, dass auf der linken Seite feindliche Trupps vorrückten. Das MG lenkte nach links und schoss. Einige Sekunden später ertönte ein stumpfes „Plück“ rechts neben ihm. Das MG-Feuer verstummte. Lautes russisches Geschrei der anstürmenden Soldaten ertönte. Jung ging in Deckung um nachzuladen. Völlig desorientiert tastete er den Boden nach einem Magazin ab, bis er eine warme flüssige Substanz an seinen Fingern spürte. Sie klebte, er blickte nach rechts. Gefreiter Gesing hatte einen direkten Kopfschuss bekommen. Seine Augen waren weit aufgerissen. Für einige Sekunden erstarrte er, und blickte nur auf den leblosen Körper. In einem ansteigenden Lärm hörte er wieder um sich herum die einschlagenden Granaten und das Gewehrfeuer. Er erhob sich, nahm das MG und feuerte mit einem hasserfüllten Gesicht mehrere Salven ab. Plötzlich verspürte er ein Stechen in seiner linken Schulter, er schoss weiter, noch ein Stechen. Dieses Mal in seinem Bauch. Die Gegend verschwamm in seinen Augen. Er konnte nur noch unscharfe Konturen sehen. Anstürmende Soldaten. Mündungsfeuer. Er fiel nach hinten. Seine Hände zitterten. Er war starr wie eine Leiche. Ohrenbetäubendes Geschrei war zu hören, was noch von dem Schnellfeuergewehr PPSH der russischen Soldaten übertönt wurde. Dann verstummte alles. Schritte kamen näher. Ein junger Knabe stand vor ihm. An seinem Gewehr ein Bajonett befestigt. Nur noch ein lautes „Heil Hitler“ war auf dem Schlachtfeld zu hören bis Gefreiter Jung das Bajonett direkt in seine Brust gestochen bekam. Sein Kopf fiel zu Seite. Er hustete Blut. Noch ein zweites und ein drittes mal drang es in ihn ein. Sein ganzer Körper voller Blut. Seine Augen schlossen sich, in Gedanken war er bei seiner Familie, bei seinem Vaterland. Er fragte sich ob es das wert war. Doch weiter kam er nicht. Seine Gedanken versiegten im Treiben der Toten.