Stalingrad: Der Todesbrief
Stalingrad: Der Todesbrief
Elise, zeige diesen Brief bitte nicht Madeleine und Peter. Sie sollen den wahrscheinlich letzten Brief ihres Vaters in Erinnerung behalten, den ich vor einer Woche geschickt habe.
Ich habe das bedrückende Gefühl, dass ich bald nicht mehr unter meinen Kameraden weilen werde. Der Häuserkampf ist schrecklich, ich habe Angst, Elise. Jeden Tag sterben meine Kameraden vor meinen Augen. Und ich kann nichts machen, sie verbluten, erfrieren, sagen mir, ich solle ihre letzten Grüße an ihre Frauen und Kinder übertragen.
Doch nicht die Granaten, Bomben und Kugeln der Russen sind das schlimmste, sie wären fast eine Erlösung. Die Kälte ist nicht auszuhalten. Es sind minus vierzig, minus fünfzig Grad, wir haben keine richtige Ausrüstung. Meine angeschossenen Freunde, sie legen im Schnee, auf Eis, ihr Blut gefriert sofort, ihre Wunden werden schockgefroren. Ihre letzten Atemzüge sind voller Blut, voller Hass gegen den Nationalsozialismus, der uns hier her gebracht hat. Und immer wieder denken wir an unseren Tod, der langsam unsere Körper durchschleicht. Erst waren nur die Füße kalt, jetzt habe ich kein Gefühl mehr in meinen Beinen, Armen, ich habe keine Kraft mehr meine Waffe zu halten, selbst der Stift, mit dem ich dir schreibe, ist bald zu schwer.
Wir werden immer weiter eingeengt. Wir waren eine halbe Million Mann, als wir einmarschierten, jetzt sind wir zweihunderttausend, eingeengt in Stalingrad, hoffen auf Befreiung der Luftwaffe. Seit einem halben Jahr hoffen wir, wahrscheinlich vergebens. Nur noch ein paar Verletzte werden in Krankenhäuser geflogen, die anderen verrecken elendig. Sie hängen sich schon an die Tragflächen.
Elise, weißt du, wo wir uns verstecken? Vor Angst verkriechen wir uns unter den Leichen, die Häuser sind besetzt von Scharfschützen, bieten uns keinen Schutz mehr.
Jetzt beginnt wieder ein Kugelhagel, Elise. Ich höre die Schüsse, die Schreie meiner Kameraden. Ich habe verdammte Angst.
Wenn du diesen Brief ließt, bin ich wahrscheinlich schon tot. Erziehe unsere Kinder gut, sage ihnen, ihr Vater ist ehrenhaft für sein Vaterland gestorben.
Elise, ich liebe dich. Bitte vergiss mich nie.
Dann rutscht ihm der Stift aus der Hand, fällt auf einen toten Soldaten. Blut strömt aus seinem Kopf und vereist sofort. Die Augen schließen sich. Der Brief wird Elise nie erreichen.