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Staffellauf
Staffellauf
I.
Die Hydraulik des Busses pfeift, als er vor mir anhält. Ich bücke mich nach meinem Rucksack und stelle mich hinter die Menschentraube, die sich durch das Pfeifen an der Bordsteinkante gebildet hat. Nach und nach schieben sich Gesichter in den Bus, hieven sich Taschen hinein. Letztlich auch ich.
Das sanfte Schaukeln hat mich als Kind beruhigt. Ich bin mir nicht sicher, wann das endete. Aber jetzt sorgt es für Übelkeit. Für die von der anhaltenden Sorte. Ich verfluche jede Kurve und bete Meter um Meter, dass wir auf die Schnellstraße kommen.
Ich habe einen Platz auf der linken Seite erwischt. Relativ weit hinten. Daran mag es liegen. Das mit dem Schaukeln. Irgendwann hat mir mal jemand gesagt, dass es daran liegt. Am Hintensitzen. Irgendeiner von den Menschen, denen man nicht so richtig zuhört, wenn sie sowas sagen. Bei denen man nicht nachfragt. Und dann, wenn man wissen will, wieso das so ist, dann sind sie nicht da. Man weiß nicht einmal, wer es war.
Drei Reihen vor mir sitzt eine junge Frau allein. Sie hat den Platz am Gang genommen. Das fällt mir deshalb auf, weil es keinen Grund gibt dafür. Jeder sitzt doch gern am Fenster. Aber sie nicht. Der Fensterplatz ist frei und sie sitzt am Gang. Ich würde sie gern fragen, warum sie das tut. Aber wie sollte ich das tun? Viele Kurven lang beschäftige ich mich mit der Frage, wie ich herausfinden kann, warum sie da sitzt. Ich will auch wissen, wer sie ist. Bis jetzt kann ich sie nur von hinten sehen. Ich habe keine wirkliche Ahnung davon, ob ich ihr Gesicht gesehen habe, vorhin beim Einsteigen oder so.
Als sie sich über den freien Sitz beugt, sehe ich zwischen den Rückenlehnen hindurch für einen kurzen Moment ihr Profil. Sie ist hübsch. Ziemlich hübsch. Vielleicht spreche ich sie nachher doch mal an. Sie richtet sich wieder auf und ich kann ihre Stimme hören: "Das ist jetzt nicht wahr!" Was auch immer nicht wahr ist, interessiert mich genauso sehr, wie die Frage, warum ein hübsches Mädchen Selbstgespräche führt. In einem Überlandbus auf der Reise nach Nirgendwo. "Ich hab es doch gewusst!" Ich hätte es gern gewusst. Sie steht auf und mit einer ungehaltenen Bewegung zerrt sie einen kleinen Jungen hinter sich her auf den Gang. Die Fragen, was sie warum tut, lösen sich damit so schnell in Luft auf, wie die Idee, sie anzusprechen. Der Junge beginnt zu weinen, als sie ihn zum Fahrer nach vorn schleift. Sie spricht kurz mit ihm, aber er schüttelt den Kopf. Jetzt beugt sie sich wieder über den Jungen und sagt etwas. der Junge weint lauter. Ihr Gesichtsausdruck ist jetzt nicht mehr hübsch. Eigentlich gefällt sie mir gar nicht mehr. Und im nächsten Moment bin ich sehr froh darüber, dass sie mir nicht mehr gefällt. Denn es würde mich hart treffen, wenn ein Mädchen, das ich mag, einen kleinen Jungen schlägt. Ich kann sehen, warum. Auf seiner Hose hat sich ein nasser Fleck gebildet. Mit verkniffenem Gesichtsausdruck schiebt sie ihn zurück auf den Sitz und wirft ihm eine Tageszeitung zu, die sie aus dem Netz an ihrem Sitz zieht. "Setz Dich da drauf und sei still." Ich bin still und zähle wieder die Kurven.
II.
Solange, bis mich Mrs. Wellman anspricht. Nicht, dass ich wüsste, wie die ältere Dame heißt, die auf der anderen Seite vom Gang sitzt. Aber sie sieht aus, wie die Nachbarin meiner Eltern: Mrs. Wellman. Sie fragt mich nach der Uhrzeit. Nicht, dass es hier eine Rolle spielen würde. Aber ich sehe nach, also ist sie zufrieden. Danach beginnt ein Gespräch, dem ich nicht viel abgewinnen kann. Über ihre Enkel. und darüber, was sie tun wird, wenn der Bus ankommt. Ich finde diese Überlegungen müßig. Schon weil ich glaube, dieser Bus wird niemals auch nur die Schnellstraße erreichen. Jede Kurve übt bittere Rache an meinem Magen, der nicht in der Lage ist, zu schweigen.
Das Gespräch, das sie führt, an mir vorbei, hat sich jetzt ihren Kindern zugewandt. Also haben wir die Enkelebene unbemerkt hinter uns gelassen. Die Kinder, die die Mutter aufgenommen haben. Die sich so gut um sie kümmern. Ich frage mich eine ganz Weile, wieso sie dann in einem so bitteren Ton davon spricht. Was nicht gut daran ist. Dann irgendwann nennt sie die Mutter Sophia. Und langsam dämmert mir, was sie mir vielleicht erzählt hat: Sie ist ihre Tochter. Aber aufgenommen haben sie seine Mutter. Also nicht Mrs. Wellman, sondern die Schwiegermutter. Sie fährt nur übers Wochenende hin. Schläft auf der Couch. Obwohl das schlecht für ihren Rücken ist. Aber sie tut es. Für die Enkel. Um sie mal zu sehen. Ansonsten zieht sie nichts dahin. Denn die haben ja die andere Großmutter schon da. Kümmern sich. Weil ja jeder im Alter Pflege braucht. Immerhin gibt es Menschen, manche Menschen, betont sie, die dann von ihren Kindern diese Pflege auch bekommen. Und so wenig ich auch zugehört habe, ist mir klar, dass sie da ganz gewiss nicht von sich spricht.
III.
Wir haben jetzt eine geradere Straße erreicht, einen Zubringer zumindest. Mein Magen entspannt sich ein wenig. Ich beginne, aus dem Fenster zu sehen und nehme dabei zum ersten Mal meinen Nachbarn wahr. Ein kleiner Mann, der unglaublich rund ist. Mich kann es nicht wirklich wundern. Denn wir sitzen jetzt seit einer Stunde nebeneinander und alles, was ich bisher von ihm mitbekommen hatte, war das ständige Rascheln von Tüten und Verpackungen und das Kramen in der Tasche, die zu seinen Füßen stand. Das Essen war auch der Grund, warum ich es bisher vermieden hatte, einen Blick in seine Richtung zu werfen. Das Rumoren in meinem Bauch war eine zu deutliche Warnung.
Jetzt lächelt er mich an. Mit einem Schokoriegel halb zwischen den Zähnen. "Hullu", drückt er aus dem Mundwinkel und ich nicke höflich. ‚Mit vollem Mund spricht man nicht', hatte mein Vater immer gesagt, in feierlichem Ton, und mit einem Lächeln quittiere ich, dass er definitiv ein voller Mund ist. Also spreche ich nicht mit ihm.
Nicht, bis er aufgegessen hat. Kurz nach diesem und vor dem nächsten Riegel gelingt es mir, mich vorzustellen. Er heißt Kurt. Auf das Händeschütteln verzichte ich lieber, als ich seine Schokoladenfinger sehe. Kurt ist 44 und eigentlich dem Tod geweiht. Ich finde das merkwürdig, aber er sagt es mit einem Lächeln, also ist es vielleicht ein Scherz. Viele Kilometer später hatte ich gehört, erfahren und gelernt, dass dem nicht so ist.
"Dreifacher Bypass", wie eine Bowlingtrophäe. Nicht wirklich wie ein Todesurteil. "Überfettung", wie eine Plakette für gute Zucht. Und überhaupt hatte er ja einen stressigen Job. "Vier Ehefrauen, drei Scheidungen", sagt man da ‚Glückwunsch' oder ‚tut mir leid'? Kurt strahlt sorgenvoll und wichtig aus seinem Sitz und unterbricht seine Hitliste der Sargnägel nur für immer weitere Riegel, Stückchen, Bonbons und Delikatessen. Ich habe weder vorher noch seitdem je wieder einen Mann getroffen, dessen Selbstmord so langsam und so öffentlich vonstatten ging, und über den man so verwirrt sein konnte.
Nach einer Weile schläft er ein, was sein Leben vermutlich um einige Stunden verlängert, weil er im Schlaf nicht isst, und mir fällt auf, dass ich nicht nach der vierten Frau gefragt habe. Er hat gesagt: "Vier Ehefrauen, drei Scheidungen." Also bleibt eine übrig. Und wenn sie nicht gestorben ist, dann lebte sie noch heute mit ihm. Kurt hat sie nicht erwähnt. Vielleicht interessiert es mich tatsächlich.
IV.
Kurt wacht auf, als wir auf den Rastplatz fahren. Im Imbiss schwinge ich mich auf einen der Hocker an der Theke, weil es eine Wohltat ist, mal in einer anderen Haltung zu sitzen. Zum Stehen fühle ich mich definitiv zu unmotiviert. Ein Sandwich. Das kann ich meinem Magen jetzt wieder zumuten. Und Kaffee. Die anderen sitzen verstreut im Lokal und jeder isst irgendetwas. Kurt eine doppelte Portion Rührei mit noch mehr Speck. Was genau ist ein Bypass und wie viel Fett kann man damit essen? Die Kellnerin schenkt Kaffee nach. Eigentlich sollte ich ja nicht so viel davon trinken. Also winke ich ab. "Ich kann Ihnen einen Deckel dafür bringen, dann können Sie ihn mitnehmen." Sie deutet auf ein Schild, das damit wirbt, dass nachgeschenkt wird, bis zum Abwinken. Und außerdem eine Tasse für unterwegs. Aber ich winke ab. Auch für unterwegs.
"Tzzzz!" Ich sehe mich nach dem Zischen um. Der Mann hat im Bus weiter hinten gesessen, denke ich. Düster habe ich sein Bild vor Augen. "Was?" Ich lege fragend den Kopf schief. "Ich will noch eine Tasse. Und nachher dann eine zum Mitnehmen." Die Kellnerin verdreht in meine Richtung die Augen. Offenbar mag sie seinen Ton nicht. Als sie gegangen ist, überbrückt er die vier Hocker zwischen uns.
"Wenn sie noch einen rausrücken, dann sagt man nicht nein." Er redet wohl vom Kaffee, denke ich. "Aber Sie wollen keinen mehr, ja?" Ich nicke irgendwie und knabbere an meinem Sandwich. "Sind sicher, ja?" Ja, ja. Warum will der das wissen? "Dann nehm ich Ihren." Eine schlichte Feststellung. Ich nicke also einfach. "Der Herr hier nimmt seinen Kaffee doch mit!" Die Kellnerin sieht nicht mal auf, als sie den Plastikdeckel auf meinen Becher drückt. "Essen Sie den Keks?" Bevor ich ja oder nein sagen kann, geschweige denn, mich entscheiden, ist der Keks in der Silberfolie in seiner Tasche verschwunden. Genauso wie eine Hand voll Zuckerwürfel aus der kleinen Schale auf der Theke vor mir.
Ich vertiefe mich wieder in mein Sandwich und nehme aus dem Augenwinkel wahr, dass er mit der Frau zwei Hocker weiter dieselbe Diskussion führt. Mit demselben resignierten Nicken von ihr und wieder dem schnellen Griff.
Nach dem Essen stehe ich auf und lege eine Handvoll Münzen auf den Tisch. Sicherlich genügend Trinkgeld, weil ich irgendwie das Gefühl habe, mich für meinen Mitreisenden entschuldigen zu müssen. Meinen Kaffee lasse ich stehen.
Auf dem Weg zum Bus zurück überholt mich der Kaffee-Typ. Er balanciert vier volle Becher in den Händen, die er vor seinen Füßen aufbaut, als er seinen Platz erreicht. "Sie geben zu viel Trinkgeld, junger Mann." Ein Zwinkern in meine Richtung. Er meint mich also doch. Erst denke ich, er ist keinen Satz wert. Aber dann erinnere ich mich an das Augendrehen der Kellnerin seinetwegen und werfe doch die paar Worte zurück. "Nein, nein, das hatte sie sich schon verdient." Sein Grinsen wird breiter: "Davon wird sie aber nichts merken." Er klopft auf seine Hosentasche, die beinahe ebenso prall gefüllt ist, wie seine Jackentasche. Was er mir damit sagen wollte, verstehe ich erst eine ganze Weile später. Aber dann habe ich mal wieder den Moment verpasst, für eine spontane Reaktion, so wie immer. Also sage ich nichts und starre den Gang entlang und aus der Frontscheibe auf die Straße, die fortlaufend unter den Bus gesogen wird. Als kämen wir tatsächlich irgendwann irgendwo an.
V.
Die Langeweile frisst sich in meinen Magen und ich wage weder, Mrs. Wellman anzusehen, noch meinen Sitznachbarn. Noch eines dieser Gespräche und die Fahrt wird für mich zum Wurmloch. Also starre ich geradeaus und entdecke ein Paar, das still nebeneinandersitzt. Sie am Gang. Seinen Kopf sehe ich nur über die Rückenlehen. Nur einige Zentimeter. Düster kann ich mich an sie erinnern, vorhin im Café. Ich spiele mein altes Spiel. Beschäftige mich damit, wer sie sind. Ob ich sie mögen würde, wenn ich sie kennen würde. Wer sie sein könnten. In meinem Leben, meine ich. Arbeitskollegen oder Freunde. Nachbarn, der Mann an der Obsttheke.
Kurz bevor es draußen dämmerig wird, habe ich mich entschieden. Ihn mag ich nicht. Und ich kann nicht wirklich sagen, wieso. Er hat kaum etwas getan in den letzten Stunden. Sie ist nett, aber er hat sie nicht verdient. Dabei hat auch sie kaum etwas getan.
Über einigen Sitzen gehen die Lichter an. Ich entschließe mich, aus dem Dämmerlicht heraus zu beobachten. Mein Nachbar döst im Kalorienrausch über einem halbgegessenen Riegel Irgendwas. Mrs. Wellman sieht stumm aus dem Fenster. Vorne greift sie nach oben, um ihr Licht einzuschalten. Auf dem Schoß hält sie ein Buch. Es muss da schon länger gelegen haben. Kaum hat sie sich zurück in ihren Sitz gleiten lassen und das Buch angehoben, um besser sehen zu können, da schiebt seine Hand den Schalter zurück und das Licht verlöscht. Er braucht sich kaum zu strecken. Sie zischt ihm etwas Wütendes zu. Aber er lacht nur. Eine Weile lang flüstern sie halblaut miteinander. Dann greift er zu ihr herüber. Ich bin mir eine Weile lang nicht sicher, was er tut. Aber sie scheint ihn abzuwehren. Immer wieder. Jetzt werden ihre Bewegungen heftiger. Ihre Stimme ist schon ein wenig zu laut.
"Simon, lass das jetzt endlich!" "Aber Süße!" Sein Tonfall will nicht so betörend klingen, wie er vielleicht gemeint war. Als Ersatz küsst er sie. Sie schiebt ihn wieder weg. Eine Weile lang sehe ich mir das Spektakel an, ohne großartig darüber nachzudenken. Sollen sie doch ihre Spielchen spielen. Fast alle Lichter im Bus sind jetzt gelöscht und nur der gelegentliche Schein einer Straßenlaterne erleuchtet die beiden noch.
Ich schrecke auf, als das Buch in den Gang poltert. Sie sieht ihn jetzt wütend an, ich kann ihr Profil sehen. "Nimm Deine verdammten Finger weg, Du Schwein!" Was hat er wohl getan?
"Baby, reg Dich ab. Die anderen schlafen." Ihr Blick schweift durch den Gang hinab, dann dreht sie sich um und ich schließe gerade noch rechtzeitig die Augen, damit sie mich nicht sieht. "Komm schon", seine Stimme schmeichelt ihr jetzt. "Sei ein braves Mädchen und lass mich ein bisschen..." Durch die beinahe geschlossenen Augen sehe ich, wie sie sich in ihrem Sitz verkrampft. "Baby, darum dreht sich die Welt!" Ihre Antworten sind nur leise gemurmelt. Kaum zu hören, dass sie etwas sagt. Was es ist, kann ich nicht verstehen.
Ich denke, sie sagt nein, denn er bettelt weiter. Aber nach einer Weile ist er still und sie sitzt bewegungslos in der Dunkelheit. Wie eine Pharaonin. Was er tut, kann ich nicht sehen. Aber nachdem er einige Minuten später mit einem glucksenden Lachen an ihrem Ohr knabbert und etwas hineinflüstert, will ich es auch nicht mehr wissen. Als auch ich langsam zu dösen beginne, höre ich von vorn ein leises Schluchzen.
VI.
Beim Aufwachen muss ich feststellen, dass ich nicht dazu geschaffen bin, erst zusammengefaltet und dann durchgeschüttelt zu werden. Aber als ich mich umsehe, denke ich, dass es den anderen nicht anders ergeht. Ich wühle in meiner Hosentasche nach meinem letzten Kaugummi und falte ihn in meinen Mund, noch bevor ich wach genug bin, um etwas anderes zu schmecken. Soviel habe ich gelernt, in den Monaten ohne wirkliches Zuhause. Vor dem Fenster rückt gerade ein Rastplatz in mein Blickfeld und der Bus rollt aus. Das spricht dafür, dass ich heute Glück habe. An den anderen, noch Verschlafenen, vorbei schaffe ich es als Erster zu den Toiletten und kann hören, wie sich hinter mir eine Schlange bildet, mit der ich nichts zu tun habe.
Am Kaffeestand im Imbiss steht dann die hübsche Brünette vor mir, die ich seit der Abfahrt übersehe, weil sie mich nicht beachtet. Außerdem sitzt sie einige Reihen hinter mir, sodass ich sie während der Fahrt nicht beobachten kann. So gern ich auch will. Jetzt, außerhalb des Busses, muss ich feststellen, dass sie fast einen Kopf größer ist, als ich. Einschüchtern lasse ich mich davon nicht.
"Morgen." Jetzt ein Gespräch anzufangen, ist jedenfalls ein Leichtes. "Auch noch so müde?" "Nein, schon viel schlagfertiger als Du." Da muss ich ihr Recht geben und das gefällt mir. Ich bemühe mich fast eine ganze Tasse lang, sie in ein Gespräch darüber zu verwickeln, was für ein toller Typ ich doch bin. Aber sie geht nicht darauf ein. Mit dem Thema, dass sie toll ist, kann sie auch nicht viel mehr anfangen. "Sag mal, musst Du so viel dummes Zeug quatschen? Der Tag hat grad mal angefangen und mein Pensum ist voll, kann ich Dir sagen." Sie dreht sich leicht von mir weg und ich bin mal wieder zu überrumpelt, um etwas zu sagen. Das habe ich nicht von ihr erwartet.
"Sag mal, hast Du was gegen mich?", frage ich nach zwei weiteren Schlucken. "Nein, Du bist nur nichts für mich." "Warum?", ich bereue die Frage schon im selben Moment. Sie sagt nichts, aber ihr Blick ist nur knapp davon entfernt, mich zu vernichten. Von sehr weit oben herab. Nach einer Minute, in der ich einfach neben ihr an der Theke stehen bleibe, sagt sie halblaut: "Ich brauche mehr als das. Definitiv." Und quittiert mich mit einem weiteren Blick. Vielleicht bin ich noch zu müde, aber nicht einmal jetzt finde ich es schlau, zu gehen. Sie kennt mich ja gar nicht. Also muss ich ihr vielleicht nur eine Chance geben.
VII.
Von unserem Posten aus, sehe ich am hinteren Ende des Busses, draußen in der Morgensonne, die Frau mit dem Kind streiten. Sie hat sich tief herunter gebeugt und redet schnell und laut auf den Kleinen ein. Er weint leise und hält den Blick auf den Boden gerichtet. "Hör auf zu weinen." Diesen Satz höre ich wieder und wieder. Nach und nach begleitet von einem kleinen Klaps. Dann einer Ohrfeige. Dann noch einer. "Unmöglich!", quittiere ich das. "Tu doch was." Es ist keine wirkliche Aufforderung. Mehr eine Feststellung. Was soll das? Das geht sie genauso wenig an, wie mich. Soll sie doch selbst was tun. "Ich kann Menschen nicht leiden, die sowas tun." Mein neuer Versuch, bei ihr moralischen Eindruck zu schinden. Ihr Blick richtet sich wieder auf mich herunter. "Und ich kann Menschen nicht leiden, die zusehen." Den Becher lässt sie auf der Theke stehen, als sie hinübergeht und dem Jungen aufhilft, der bei der letzten Ohrfeige vor Schreck hingefallen ist und jetzt weinend auf dem Schotter sitzt.
Das Pfeifen des Busses lässt mich ebenfalls hochschrecken und ich reihe mich in die Schlange ein, um die letzten Stunden geknickt und eingequetscht zwischen Menschen zu verbringen, deren Verhalten mich Grübeln lässt.
Der dicke Mann mit der Zeitung ganz vorn breitet seine Arme aus, um die Zeitung zurechtzuschütteln bevor er sich setzt und sieht dabei den Gang entlang. Ich muss an den Pfarrer denken, in dessen Kirche ich als Kind saß. So hat er auch oft gestanden, uns angesehen und die Arme ausgebreitet. Dieselben fehlenden Haare und der runde Bauch. Er hat uns immer erzählt, man müsste so häufig wie möglich beichten, damit man vorbereitet ist. Falls auf einmal etwas passiert. Was "etwas" war, hat er uns damals nicht erzählt. Aber wir waren sicher zu klein, als dass man uns das hätte erklären können. Jetzt frage ich mich, was mit all diesen Menschen passieren würde, wenn plötzlich "etwas" passiert. Sie hätten eine Menge zu beichten. Mit einem Gefühl, als hätte ich einen Staffellauf ganz allein gewonnen, lehne ich mich zurück und schlafe wieder ein.