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Stadtrand
„Mist!“ - zischte er frustriert zwischen den Zähnen hervor. Die paar Meter vom Auto zur Haustür hatten ihn bei dem Unwetter fast komplett durchnässt. Ebenso seine Einkaufstüte aus braunem Packpapier, die nun mit einem fast unhörbaren „Ratsch!“ ihren Inhalt von sich gab. Wütend kickte er eine Pampelmuse in den Vorgarten und bereute es darauf gleich wieder. Hatte er sich doch auf einen leckeren Wodka mit frisch gepresstem Pampelmusensaft, gemütlich auf dem Sofa sitzend, gefreut. Entnervt schüttelte er die braunen, nassen Fetzen welche den traurigen Rest seiner Einkaufstüte darstellten, von seinen Händen hinunter auf das nasse Häufchen seiner Einkäufe. Unwillkürlich musste er grinsen, als ihm bewusst wurde, dass das Klopapier in Plastikfolie verpackt war. Seufzend kramte er in seinen Taschen nach dem Hausschlüssel. Die Pampelmuse würde er später suchen, jetzt erst einmal schnell ins Haus und einen Beutel holen, um die Lebensmittel, auf die der Regen prasselte, zu retten.
Das grelle Zucken der Blitze ließ für Sekundenbruchteile die Nacht verschwinden und tauchte den Garten vor dem Küchenfenster in eine wie künstlich wirkende Beleuchtung. Doch das konnte er nicht sehen, da er gerade damit beschäftigt war, auch noch den letzten Tropfen Saft aus der Pampelmusenfrucht heraus zu quetschen. In freudiger Erwartung griff er nach der Flasche mit dem Billigfusel, und goss sich zweifingerbreit der kristallklaren Flüssigkeit in ein ausgedientes Senfglas. „Ach was solls, es war ein langer Tag heute“, dachte er sich und nahm auch noch einen kräftigen Schluck direkt aus der Flasche. Er schluckte den Schnaps jedoch nicht sofort hinunter, genüsslich ließ er ihn langsam von links nach rechts laufen, hielt dabei jeweils den Kopf erst in die eine und dann in die andere Richtung. „Wie ein großer Weinkenner“, dachte er belustigt. Schließlich schluckte er die scharfe Flüssigkeit hinunter. Er konnte spüren, wie der Schnaps die Speiseröhre hinunter ran, im Magen angekommen breitete sich wohlige Wärme aus. Gedankenverloren starrte er auf das bunte Senfglas auf dem Küchentisch. War das Micky Maus? Nein, der dusselige Winnie-Puh Bär mit seinem an ADHS leidendem Kumpel Tigger. Auf der Rückseite müsste doch eigentlich dieser depressive Esel sein... Das Glas schien wie ein Relikt aus einem anderen Leben. Einem Leben vor seiner Scheidung. Fast schämte er sich, Schnaps aus dem Glas zu trinken, aus dem früher sein Sohn Saft getrunken hat. „Sentimentaler Trottel!“, schalt er sich selbst, goss den Pampelmusensaft in das Senfglas zu dem billigen Wodka und ging in das Wohnzimmer. Vorsichtig stellte er das Glas auf den hellbraun gefliesten Tisch ab und ging zu seinem alten Röhrenfernseher. Seit die Batterien in der Fernbedienung ausgelaufen waren, konnte er den Apparat nur noch direkt bedienen. Mit einem Knistern sprang der alte Kasten an und die elektrostatische Aufladung der Röhre ließ die Härchen an seinem Unterarm sich aufrichten. Seufzend schlurfte er zurück zum Sofa. Mit dem Glas in der Hand wartete er darauf, dass ein Bild erschien. Nach einer halben Minute waberte grüne Schrift vor schwarzen und weißen Punkten. „Kein Signal“ verkündete die Mattscheibe. Ach ja, hier musste er ja noch den Satellitenreceiver einschalten. Es gab ja in der Gartenlaube keinen Kabelanschluss. Nach dem Einschalten des Empfängers wichen die flimmernden Punkte mitsamt der grünen Schrift einem Bild in sattem blau auf welchem zu lesen war: „Sender nicht verfügbar.“ „Was ist denn nun schon wieder los?“, stöhnte er. Verzweifelte zappte er durch die Kanalliste, überall das gleiche. „Haben die mir etwa die Schüssel geklaut?“ Suchend blickte er aus dem Fenster. „Ach klar, der Regen! Na toll.“ Irgendwann müsste er die Schüssel mal korrekt ausrichten, angeblich soll man dann sogar bei Gewitter noch ein Bild haben, hat er im Internet gelesen. Irgendwann, aber nicht jetzt. Im strömenden Regen, in der Finsternis auf der Leiter stehen? Das verdammte Ding von Schüssel ein paar Millimeter verschieben, zurück rennen in die Stube, das Bild checken – nee noch nix, wieder zurück auf die Leiter, ein bisschen weiter verschieben, halt, hat da nicht gerade jemand etwas gesagt? Wieder in die Stube laufen, nur um fest zu stellen, dass die Automatik in den Standby Modus gegangen ist ... Darauf hatte er nun wirklich keine Lust. Der Regen prasselte nun direkt gegen die Fensterscheiben des Wohnzimmers. Der Wind musste sich gedreht haben. Die alten verquollenen Holzrahmen schlossen schon lange nicht mehr ganz dicht und so sammelte sich das durchgedrungene Regenwasser in der kleinen Rinne der Fensterbank. „Was solls, wenigstens ist der Strom noch da“, freute er sich. Denn in dieser kleinen Gartenkolonie am Rande der Stadt fiel öfters mal der Strom aus, bei solchem Unwetter. Er wusste, es würde also nur ein Frage der Zeit sein, bis der Strom auch weg war. Zumindest wenn das Gewitter nicht bald aufhörte.
Eigentlich war es verboten, das ganze Jahr in der Laube zu wohnen. So stand es geschrieben. Irgendwo, er hatte vergessen wo. War es die Stadtordnung? Das Wochenendgrundstück als Dauerwohnsitz zu nutzen ist unzulässig. Den Wortlaut kannte er noch ganz genau. Aber wo kein Kläger, da kein Richter. Die Nachbarn waren jedenfalls froh, dass auch in der dunklen, kalten Jahreszeit, wenn allerlei Gesindel Raubzüge durch die leerstehenden Lauben machte, jemand vor Ort war und Anwesenheit vorgab. Aus der nur als vorübergehend gedachten Lösung, nach der Trennung von seiner Frau erst einmal in der Gartenlaube unter zu kommen, wurde irgendwann eine Dauerlösung. Hier hatte er wenigstens seine Ruhe. Manchmal sogar etwas zu viel. Er fühlte sich wie in einer Blase, während draußen das Leben an ihm vorüber zog. Schnell einen Schluck aus dem Winnie-Puh Glas! Das vertreibt wenigstens die trüben Gedanken. Und wenn sie sich schon nicht ganz vertreiben ließen, dann macht es sie wenigstens erträglicher.
Da aus dem Fernsehabend nun nichts mehr zu werden schien, klappte er seinen Laptop auf und schaltete ihn ein. Einen Internetzugang hatte er hier zwar auch nicht, aber seine Lieblingsmusik in vielen hunderten MP3 Dateien konnte er so hören.
Nach dem zweiten Senfglas, diesmal mit mehr Wodka und weniger Pampelmuse, begann er laut und falsch den Text der Lieder mit zu grölen. Hier draußen war er mutterseelenallein und er störte wirklich niemanden. Peng! Plötzlich war der Strom weg. Der Laptop wäre sicher weitergelaufen, wenn er nicht den Akku herausgenommen hätte, um ihn zu schonen... „Mist!“, fluchte er laut. Und nach einem tiefen Schluck aus der hellblau etikettierten Flasche, „Hoffentlich muss ich nicht noch kacken“, kicherte er mit glasigem Blick. Bei Stromausfall lief nämlich auch die Pumpe der Wasserversorgung nicht mehr.
Nun, kacken musste er zwar nicht, aber seine Blase drückte nach der Sauferei. Den zehn Liter Wasservorrat im Spülkasten wollte er sich für einen echten Notfall aufheben, so entschloss er sich nach draußen zu gehen, um Wasser zu lassen. Der Regen hatte nachgelassen, es tröpfelte nur noch sachte und eine Mondsichel geformt wie ein Stück Fingernagel sorgte für einen fahlen Schein. Mit seinem von Alkohol vernebelten Hirn stellte er sich draußen direkt vor die Haustür und pinkelte in hohem Bogen in den Vorgarten. „Laallaaalalala“, trällerte er die Melodie des zuletzt gehörten Liedes noch vor sich hin. Sein Blick folgte dem kräftigen, gelben Strahl, wie er kleine Stücke Rindenmulch fortspülte. Er sah hoch, direkt in ein paar hellblaue Augen, welche scheinbar regelrecht leuchteten in der Dunkelheit. Der Schreck durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schlag. Reflexartig ließ er sein Glied los und pinkelte sich prompt auf die Schuhe. Automatisch schaute er nach unten, blickte jedoch sofort wieder hoch - aber die Augen waren verschwunden.
Am ganzen Körper zitternd packte er sein Genital weg und schlich rückwärts zurück ins Haus. Ganz vorsichtig und darauf bedacht keine unnötigen Geräusche zu verursachen, schloss er die Haustür von innen. Hastig drehte er den Knopf am zusätzlichen Sicherheitsschloss und fragte sich was das gerade war. Hatte er Halluzinationen? Lag es am Schnaps? Nein, dachte er, so besoffen bin ich doch gar nicht. Er fühlte sich stocknüchtern nach der soeben gemachten Erfahrung. Kopfschüttelnd ging er von der Haustür in Richtung Wohnzimmer. „Warum ist das hier so verdammt duster?“, schimpfte er. „Ach ja, der Strom ist ja weg. Das hat mir gerade noch gefehlt.“ Er spürte, dass er noch immer die vollgepinkelten Schuhe trug. „Igitt, Sauerei“, murmelte er und ging zurück zum Flur, um sich des feuchten Schuhwerks zu entledigen.
Irgendwo in der Küche müssen noch Streichhölzer liegen und wenn er sich recht erinnerte, lag im Wohnzimmerschrank noch eine 100er Packung Teelichter, einst gekauft in einem schwedischen Möbelhaus.
Halbblind tastete er sich durch die Finsternis voran. Ja, hier war die Tür zum Wohnzimmer. Jetzt nach rechts, eins, zwei, drei Schritte. Hier müsste doch diese hässliche Schrankwand aus Eiche-Imitat stehen. Er streckte die Hände aus. Wie die Fühler eines Käfers, schwangen seine Arme, Antennen gleich, durch die Dunkelheit.
Auf einmal hörte er ein lautes Brüllen, gefolgt von einem langgezogenem Schrei und spürte etwas hinter seinem Rücken. Panisch drehte er sich um, stieß sich in der Bewegung den Kopf, aber er merkte es nicht. Vor seinen Augen war nichts als Schwärze. Dann plötzlich ein warmer Luftzug, gefolgt von einem merkwürdigen, knirschendem Geräusch. Beim Sturz auf den billigen Kunstfaserteppich wurde ihm klar, das er gerade einen gewaltigen Schlag auf den Schädel erhalten haben musste. Trotz der Dunkelheit sah er viele helle Lichtpünktchen, welche immer blasser und blasser wurden. Den zweiten Schlag nahm er schon gar nicht mehr wahr.
Vom Sofa blickten ein paar strahlend blaue Augen herüber. Sie schienen zu leuchten, in der Dunkelheit.