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Stadtluft
Es gibt Menschen, die verstehen mich nicht. Ehrlich gesagt betrifft es sogar den Großteil der menschlichen Bevölkerung.
Doch wenn ich ehrlich bin, stört es mich nicht sonderlich.
Die Stadt ist in vollem Betrieb. Die Ampel schaltet von grün auf rot, die Fabriken lassen giftig wirkende Abgase in die Luft und die Autos bewegen sich wie in einem ewigen, vernichtenden Strom von dem einen Fleck zum nächsten. Die Gesichter der Bevölkerung sind von Schatten gezeichnet, von Schatten und aufgeklebten Lächeln, die für mich wie eine verschmierte, glänzende Maske wirken. Doch all das nehme ich nicht anders wahr als den blaugrauen Himmel, der sich zwischen den Silhouetten der Häuser zeigt, nicht anders als den rauen Stoff meiner Klamotten auf meiner Haut oder die leise Weihnachtsmelodie, die ein Obdachloser neben mir gerade zu summen beginnt. Die unterschiedlichen Augenfarben der Massen zeigen die verschiedensten Emotionen als Ergebnis der Eindrücke, welche sie sammeln, als Ergebnis der Erinnerungen und der Menschen und der Gedanken. Ein kleines Kind lacht auf und ich weiche zur Seite, als eine verschwitzte Frau des mittleren Alters sich an mir vorbei zu drängen versucht.
All das nehme ich auf, doch es berührt mich nicht wirklich. Es fließt an mir vorbei, ich stehe objektiv neben der Flut, während sie die gesamte Menschheit erwischt und mit ihnen anstellt, was sie nun mal gerade will. Ich habe es nicht vermisst. Nein, ich habe es nicht vermissen wollen.
Wie automatisch kommen meine Füße zum Stehen, als ich vor dem riesigen Gebäude angekommen bin. Die Wände sind unglaublich alt und verschmiert, trist und unglaublich hässlich. Sie versprühen eine so starke Hässlichkeit, dass es mir manchmal so vorkommt, als würde jede Person direkt auf die andere Straßenseite wechseln, wenn sie sich diesem Haus nähert. An warmen Sommertagen geht von den Mülltonnen vor dem Gebäude ein undefinierbarer Gestank aus und an kalten Herbsttagen scheint die Umgebung immer in dichten Nebel getränkt. Wäre dieses Haus eine Person, da war ich mir sicher, würde sie in dieser Gesellschaft garantiert keine Freunde finden.
Die Treppenstufen verschlucken die Geräusche meiner Schuhsohlen. Es ist still. Je weiter ich mich nach oben bewege, desto mehr scheine ich mich von dem endlosen Lärm der Stadt zu entfernen. Mit jedem Schritt zieht mich der Treibsand des Hauses mehr und mehr ein und als ich schließlich im oberen Flur angekommen bin, bin ich schon fast vollständig versunken.
Als Reaktion auf mein Klopfen kommt allerdings ein weniger stiller und einschläfernder Laut zurück. Ich gähne. Die Tür öffnet sich mit einem gewaltigen Ruck.
„...“
Die Augen leuchten. Ich bin mir nicht sicher, warum sie leuchten, vielleicht hat sich die Sonne doch mal zwischen den dicken Wolken hervor getraut und in seinen Augen reflektiert. Doch das Leuchten schwindet schnell.
„Du bist es“, sagt die Stimme. Ich bin es, denke ich – nicht mehr und nicht weniger.
„Deine Sachen liegen in der Küche“, sagt die Stimme. Ich putze meine Schuhe ab und betrete die Wohnung.
Es sind viele Taschen, mehr, als ich in Erinnerung hatte. Sie sind schwer zu tragen. Ich schaffe es gerade so.
Und als ich hinter die Türschwelle getreten bin, als ich mich wieder draußen befinde, taucht die Stimme plötzlich wieder auf.
„Ich hoffe, du vermisst es.“
Die Stimme zittert ein wenig. Sie ist ... emotional, würde ich sagen, denn momentan kenne ich keine einzige der Emotionen. Ich habe sie verlernt, vergessen, für immer und ewig begraben.
Vermissen, denke ich. Was ist vermissen? Was bedeutet es? Welche Auswirkungen wird es auf mich und auf mein Leben haben?
Ich zucke mit den Schultern, ohne mein Gesicht zu ihm zu drehen. Ich höre einen Knall, der ein wenig klingt wie das Knallen eines Fußes gegen eine Wand. Noch immer rege ich mich nicht, ich überlege, ob ich den nächsten Zug noch schaffe.
„Du verstehst es nicht“, sagt die Stimme, diesmal zittert sie noch mehr. „Du verstehst es wirklich nicht, oder?“
Jetzt drehe ich mich um. Er sieht wirklich aufgebracht aus. Ich verstehe nicht, wieso.
„Was?“
Eins. Zwei. Drei Sekunden vergehen. Er sieht mich fassungslos an und ich weiß nicht, was ich sagen oder wie ich reagieren soll. Meine Schultern werden langsam schwer von den Taschen und der Griff der Handtasche hinterlässt schmerzhafte Spuren auf meiner linken Hand.
Er geht einen hastigen Schritt näher. Jetzt leuchten die Augen wieder, nein, sie funken, als hege er ein Feuer darin.
„Wer bist du?“, fragt er.
„Tamina“, antworte ich knapp.
„Nein. Wer verdammt noch mal bist du? Tami, was ist mit dir passiert?“
Er sieht verzweifelt aus. Ich verstehe nicht ganz, was er von mir will.
„Was willst du von mir?“, frage ich. Ich verlege die Handtasche von der linken auf die rechte Hand.
„Ich will wissen, wieso du mich so emotionslos ansiehst!“
Irgendwo weit entfernt hupt ein Auto. Ein Baby schreit. Ein Radio spielt alte Musik.
„Wie soll ich dich denn sonst ansehen?“, frage ich irritiert.
„Wie ... naja, wie ...“
Ihm fehlen die Worte. Er weiß es ja doch selbst nicht.
„Wie man nun mal seinen ehemaligen Mann anzusehen hat.“
„Wie hat man ihn denn anzusehen?“, frage ich.
„Du weißt, was ich meine.“
„Nein, ich weiß nun mal nicht was du meinst“, erwidere ich.
„Ich habe nichts mehr mit dir zu tun. Ich habe keine Gefühle mehr für dich. Du bist nichts weiter als eine fremde Person.“
Ich meine, ein leichtes Zucken in seinem Gesicht wahr zu nehmen.
„Du bist wütend, oder? Natürlich bist du das. Du bist immer noch wütend. Deshalb verhälst du dich so.“
„Ich bin nicht wütend“, sage ich. Er ignoriert es.
„Es war ein Ausrutscher“, sagt er. Ich realisiere, wie seltsam dieses Wort klingt. „Es tut mir Leid. Wirklich, ich wollte das nicht. Maria ist nicht wirklich das was ich will.“
„Sie ist also nicht mehr da?“
Das überrascht mich ein wenig. Die Taschen, die ich trage, sind von unserem damaligen Flitterurlaub und ich hatte sie dort liegen lassen – sie wurden nachträglich mit der Post geschickt. Es ist nichts wichtiges dabei. Ich kam in den letzten zwei Jahren sehr gut ohne sie klar.
„Nein“, sagt er kleinlaut. „Sie hat mich verlassen.“
„Oh“, sage ich.
„Kann ich jetzt gehen?“
Er weigert sich. Die Flut hat auch ihn erwischt. Er redet komische, wirre Sätze, aus denen ich nur ein immer wieder kehrendes „geh nicht“ und meinen Namen heraus höre.
„Ich muss gehen“, sage ich.
Die Straßen sind nicht mehr ganz so belebt wie auf meinem Hinweg. Ich blicke auf meine Armbanduhr und laufe zum Bahnhof. Der Zug fährt genau vor meinen Augen ab. Erschöpft lasse ich ich auf der Bank nieder.
„Mama!“
Ein kleines Kind taucht vor mir auf. Vielleicht drei oder vier Jahre alt. Das hat mir gerade noch gefehlt.
„Mamaa!!“, schreit es, mit einer nervigen Stimme, wiederholt immer wieder die gängige Bezeichnung einer Mutter.
Ich drehe mich um, kann aber nirgends eine andere Person finden. Das Mädchen hat hellblonde, geflochtene Zöpfe, die links und rechts an ihrem eierförmigen Gesicht herunter hängen. Hinter den dicken Gläsern ihrer Brille glitzern ihre Augen, sie sehen wässrig aus.
Jetzt sieht sie mich an und kommt näher.
„Entschuldigung“, sagt sie und blickt zu mir herauf. „Haben sie meine Mama gesehen?“
„Nein“, sage ich stumpf. „Nein, habe ich nicht. Tut mir Leid.“
Mein altes Ich hätte vermutlich anders reagiert – doch es ist weg, für immer verschwunden.
Plötzlich taucht eine andere Stimme auf. Die Stimme ist sehr tief und rau. Die Stimme sagt, dass das Mädchen sich keine Sorgen machen braucht und er die Mama gefunden hat. Das Mädchen schreit vor Freude und dann weint es und rennt seiner Mama entgegen.
Die kleine Familie entfernt sich wieder. Der fremde Mann lässt sich neben mir auf der Bank nieder.
Ich blicke auf die Uhr. Der Zug hat Verspätung. Die Wolken verdicken sich und lassen schwere Tropfen Wasser auf die Erde fallen, die im trommelnden Takt auf die Glasdecke über mir fallen.
Stille.
„Er ist spät“, sagt der Mann. Ich erschrecke. Ich hatte fast vergessen, dass da noch jemand anderes sitzt.
„Oh. Tut mir Leid.“ Er lacht. „Ich wollte Sie nicht erschrecken.“
Ich drehe mich nicht um. Im Augenwinkel erkenne ich sein Gesicht, die dünne Brille und die dunkelbraunen Haare, die bis über die Ohren reichen.
„Schon gut“, sage ich und blicke auf die Pfütze, die sich vor meinen Füßen gebildet hat.
Die Stille kehrt wieder. Für eine kurze Zeit.
„Entschuldigung“, sagt der Mann plötzlich, und diesmal erschrecke ich mich wieder ein wenig. „Aber sie sind doch Tamina Pelker, oder?“
Überrascht drehe ich mich um.
„Ja. Woher wissen Sie das?“
Ein peinlich berührtes Lächeln ziert sein Gesicht. „Tut mir Leid. Ich möchte nicht unhöflich wirken. Ich habe Ihren Blog verfolgt und da kamen Sie mir gerade irgendwie bekannt vor. Ich habe mich gefragt, wieso Sie nichts mehr schreiben.“
Ich bin so überrascht, dass ich meinen Blick für eine kurze Zeit nicht von ihm wenden kann. Es ist das erste mal, dass mich jemand erkennt.
„Tut mir Leid“, wiederholt er und blickt schnell auf Boden. „Das geht mich nichts an.“
Auch ich wende meinen Kopf und blicke erneut auf die Pfütze, die sich immer weiter vergrößert.
„Persönliche Probleme“, sage ich, und erschrecke dann selbst ein wenig von meinen Worten; sie kommen mir fremd vor.
„- oh“, sagt der Mann kleinlaut, und nach einer kurzen Pause: „Ich vermisse die Texte irgendwie.“
Ein seltsames Gefühl macht sich in mir breit. Es schmerzt irgendwie, aber nicht auf eine negative Art. Ich kann es nicht ganz zuordnen.
Lange ist es still. Von dem Zug immer noch keine Spur. Der Regen nimmt kein Ende und der Himmel hat sich in ein dunkleres Blau, fast schon ein Schwarz, verwandelt.
„Ich vermisse sie auch“, sage ich. Ich spüre das Blut in meinen Kopf steigen, doch ich bin froh, dass diese Worte draußen sind, als hätte ich eine unglaublich schwere Last von mir geworfen.
„Sie hatten irgendwie.. Naja.. Etwas besonderes an sich.“
„Besonderes?“ Ich drehe mich zu ihm um. Seine Augen blicken auf die fallenden Regentropfen und ich meine darin eine Art von Faszination zu erkennen.
„Ja. Ich weiß nicht – irgendetwas hatten sie an sich, dass sie von anderen Texten unterschieden. Ich hatte immer das Gefühl... Als würden sie neue Worte erfinden.“
Der Klang, den seine Worte mit sich bringen, hat irgendwie etwas beruhigendes an sich. Ich seufze.
„Aber das Leben ist nun mal, wie es ist. Es bleibt nicht alles, wie es war. Es verändert sich, und dann muss man manchmal Dinge gehen lassen.“
„Das ist wahr“, sagt er. „Dennoch fühlt es sich an, als sei ein Zauber verloren gegangen. Ich verfolge noch andere Blogs – naja, wie soll ich sagen?“ Wieder ein schüchternes Lachen. „Ich liebe Worte. Ich bin selbst nicht sonderlich gut im Schreiben, leider, doch ich finde es unglaublich beeindruckend, welche Auswirkungen Wörter auf einen Menschen haben können. Ich kenne viele gute Blogs, doch ich könnte keinen mit Ihrem vergleichen. Niemand kann... Naja, die Emotionen so gut fassen.“
Ich blicke auf meine Hände. Dünne, kalte Hände.
Emotionen? Beim Hören dieses Wortes vergeht etwas in mir. Etwas vergeht, und im selben Moment entsteht etwas neues. Ich glaube mich wieder erinnern zu können; an die Bedeutung dieses Wortes. Das Bild vor meinen Augen beginnt zu verschwimmen.
Ich wende mein Gesicht von ihm ab. Ich bin mir sicher, dass er es gesehen hat, und er schweigt aus Höflichkeit, oder, weil ihm keine passenden Worte einfallen.
„... Danke“, bringe ich schließlich heraus.
Der Regen trommelt weiter.
Mehr nicht. Nur das eine Wort. Nur ein kleines, unscheinbares Dankeschön, ein einziges Wort, welches doch so viel Inhalt trägt. Der Mann hat recht. Die Emotionen sind nicht mehr verloren, und plötzlich erkenne ich, wie schön das Licht der Nacht doch ist.