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Stadtflucht

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27.08.2005
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Stadtflucht

Auf der alten Sperrholz-Kommode lag eine Decke mit grellbunten Stickereien, darauf standen in billigen Goldrahmen Bilder von blutüberströmten Heiligen mit milde – süßlichem Lächeln und gequältem Blick. Fast wohltuend hob sich dazwischen eine einfache Farbfotographie ab von einem freundlichen jungen Mann mit Pelzmütze. „Mein Sohn“, sagte die Alte mit dem Kopftuch sichtbar stolz. „Ist vor ein paar Jahren in die Stadt gegangen, wie alle jungen Leute hier.“ Der Kameramann machte eine Nahaufnahme des Hausaltars während sie sprach und schwenkte dann wieder zurück auf die Alte. „Von den Jungen möchte keiner bleiben – hier kann man kein Geld verdienen.“ sprach die Alte weiter und sie sagte es so ruhig und anklagefrei, wie es ihr Tonfall gestattete, der bei Frauen in dieser Gegend immer nahe an der Hysterie liegt. Der Alte lächelte sogar, als sie es sagte und entblößte seine Zahnlücken und einen blinkenden, goldenen Schneidezahn. Es war ein entschuldigendes Lächeln wie es wiederum bei den hiesigen Männern oft vorkommt. Dann nahm er einen weiteren kräftigen Zug aus dem wodkagefüllten Wasserglas.
„Kein Wunder“, dachte die junge Redakteurin, „hier ist der Hund begraben. Absolut öde. Wer möchte hier schon freiwillig leben?“ und ärgerte sich ein wenig weil sie selbst freiwillig hier war. Eine Reportage in der Weite des Hinterlandes von S. hatte sie sich deutlich romantischer und abenteuerlicher vorgestellt. Doch das Thema war längst verbraucht, bereits mehrfach durch die Medien getrieben taugte es allenfalls noch für eine Spätreportage an einem Wochentag. Der Kameramann schien etwas Ähnliches zu denken, seinem Gesichtsausdruck nach. Er verbarg seinen Unwillen jedoch Zahnstocher-zerkauend hinter seiner lässigen Macho-Aufmachung. Er war vermutlich nur wegen der Redakteurin mitgegangen, doch sie hatte seine Annäherungsversuche bereits im Flugzeug ignoriert und ihn am vorigen Abend abgewiesen, an der Bar des schäbigen Hotels der Provinzhauptstadt, in dem die wenigen Fremden für die Dauer ihrer kurzen Besuche üblicherweise absteigen.
„Gibt es keine gute Arbeit hier und das Leben auf dem Land ist eine Plackerei. Wirft nichts ab, reicht gerade so zum Leben“ fuhr die Alte fort. „Wer hilft Ihnen denn bei der schweren Feldarbeit, jetzt, wo ihr Sohn fort ist?“ spulte die Redakteurin ihren Fragenkatalog weiter ab. „Nun, wir machen das noch so lange wie wir leben und dann wird eben alles verfallen. Noch haben wir paar Jahre.“ Und nach einer kurzen Pause fügte die Alte hinzu: “Früher war mein I. stark wie ein Ochse.“ Und wieder lächelten die beiden Alten.

Die Fernsehleute waren am Tag zuvor mit einer altersschwachen Propellermaschine der landeseigenen Luftfahrtgesellschaft auf der Schotterpiste des Provinzflughafens von M. gelandet und am nächsten Morgen in aller Frühe mit einem einheimischen Mietfahrer in Richtung des Dorfes aufgebrochen. Die stundenlange Fahrt war zur Qual für die Redakteurin geworden. Ihr einziger Trost war es, dass die anzüglichen Sprüche des Kameramanns und das, was er für witzig hielt ausgeblieben war, eine Folge des Alkoholkonsums der vorhergehenden Nacht. Stattdessen hatte er meistens sein zermartertes Gesicht gehalten. Seine Versuche, im Wagen zu schlafen, waren gescheitert. Die schlaglochübersäte Landstraße, hatte dafür gesorgt, dass sein Kopf teilweise heftig gegen die Scheibe geschlagen war. Die Redakteurin hatte ein wenig Konversation mit dem zunächst schweigsamen Fahrer versucht, über Land und Leute. „Hier ist Gastfreundschaft etwas Heiliges und man beleidigt sie nicht! Die Menschen sind schnell beleidigt und ziemlich nachtragend“ hatte der Fahrer erklärt, aber mit einem Lächeln. „Ich weiß das, komme selbst von hier.“ Sie hatte sein Lächeln automatisiert erwidert und dann wieder zum Fenster heraus gesehen. Der Fahrer war so rasch von der geplanten Unverbindlichkeit der Unterhaltung abgekommen, dass sie es als unangenehm empfunden hatte. Nicht aufhören wollende Reihen von kahlen Bäumen hatten die Straße flankiert, schmale Stämme, nur an den Spitzen ein paar trockene Nadeln. Gelbes Gras, verrottete Telegraphenmasten, oft nur noch Stümpfe. Als sie irgendwann das halbe Dutzend schäbiger Hütten erreicht hatten, war ihr das wie eine Erlösung vorgekommen. Die beiden Alten hatten bereits vor ihrer Behausung gestanden als der Geländewagen in einer Staubwolke zum Stehen gekommen war. Die Alte in einer grellvioletten Schürze über einer undefinierbaren Anzahl von geblümten Kleidern, der Alte hatte seine speckige Kappe abgenommen und ein wenig devot auf den festgestampften Lehmboden geblickt. Der Fahrer hatte sie einander vorgestellt und nach einer herzlichen Begrüßung hatte die Redakteurin den Ablauf erklärt, wobei sie etwas überrascht worden war durch deren Selbstverständlichkeit und raschen Auffassungsgabe vor der Kamera. Sie hatten mit Außenaufnahmen begonnen, die Redakteurin gesprochen, ohne im Bild zu sein: „Seit dem Zusammenbruch gibt es hier gibt es keine Arbeit mehr. Die wenigen Leute, die hiergeblieben sind halten sich Hühner, Ziegen und ein paar Kühe. Alles wird selbst produziert, einen Laden gibt es nicht und wenn es ihn gäbe, dann hätte hier ohnehin niemand Geld denn die Bezirksregierung hat schon seit zwei Jahren keine Renten mehr überwiesen. Das Getreidefeld wird gemeinschaftlich bestellt, mit einem Ochsengespann. Die Traktoren des früheren Zwangskollektivs sind ohne Benzin und Ersatzteile längst verrostet. In den kleinen Gärten hinter den Bauernhäusern wachsen spärlich Kohlköpfe und Kartoffeln. Viel lässt sich aus dem harten, trockenen Boden ohnehin nicht herausholen, sagen die Anwohner. Brauchwasser holt man aus dem Ziehbrunnen, eine halbe Meile vom Dorf entfernt.“ Dann waren sie in die Hütte getreten wo die Alte nach Landessitte Kuchen, Tee und Wodka auf den Tisch gestellt hatte.

„Wie soll das hier noch mehr zerfallen? Hab nie einen größeren Haufen Schrott gesehen“, grinste der Kameramann die Redakteurin schief an, als sich ihre Blicke kreuzten. Er schien keine Bedenken zu haben, dass die Alten ihn verstehen könnten.
Sie ignorierte ihn und wandte sich nun an den Alten:„Wie viele Familien leben hier noch?“ „Kann man nicht genau sagen. Ein paar. Alte Menschen, wie wir. Bald sind alle weg.“ Und er lächelte. Die scheinbare Gleichgültigkeit, mit der die Alten dieser Tristesse begegneten und die Kargheit der Gegend trugen dazu bei, dass sich bei der Redakteurin eine bisher nicht gekannte Unlust an ihrer Arbeit einstellte. Sie wollte möglichst schnell fort von hier, zurück nach Hause und am liebsten nicht mehr darüber sprechen. Sie gab dem Kameramann ein knappes Zeichen zum Schlußmachen. Der Alte schenkte Wodka nach, der Kameramann stellte sein Arbeitsgerät behutsam auf den mit alten Teppichen ausgelegten Boden und setzte sich neben ihn. Er hatte seine Hoffnungen auf die Redakteurin vorübergehend aufgegeben und sah im Wodka eine willkommene und auch die einzige Alternative. Insofern war er dem Alten vielleicht nicht so unähnlich, wie er dachte.

Die Redakteurin trat vor die Hütte und starrte in den wolkenlosen Himmel. Die Sonne war klein, sie musste sie fast suchen, doch strahlte sie ein gleißend-weißes Licht aus, das alle Konturen verschwimmen ließ. Der karge Boden, der Schuppen, die Straße, die anderen Häuser, in allem schien sich die Sonne zu spiegeln. Trotzdem war es nicht heiß, nur trocken. Sie musste die Augen zusammenkneifen und trat in den Schatten des lose gezimmerten Schuppens. Etwas berührte sie am Bein. Sie fuhr herum, sah nach unten. Eines der mageren Hühner flatterte gackernd ein Stück von ihr fort. Als sich ihre Augen erholt hatten zog sie wieder ihr Mobiltelefon aus der Hosentasche, mehr aus Gewohnheit, denn sie wusste, dass es keinen Sinn hatte. Schon seit Beginn der Fahrt war kein Netzempfang und selbst in der Provinzhauptstadt nur eingeschränkt. Trotzdem warf sie einen Blick darauf, vielleicht einfach, um Zeit totzuschlagen. Dann steckte sie es wieder ein und schlenderte in den Schuppen und besah mit geringer Neugierde die verrosteten Werkzeuge, strich mit den Fingern über einen zerfurchten Schleifstein. Da hörte sie zwei Stimmen. Offenbar aus der Richtung der bisher menschenleeren Dorfstraße. Es klang, als ob ein Streit im Gange wäre. Zwischen den Holzlatten hindurch sah sie den Geländewagen. Der Fahrer stand unentschlossen vor der Türe. Jemand stand vor ihm und beschwatzte ihn eindringlich. Es war die Alte. Die Redakteurin durchfuhr ein leichter Schauder, denn sie konnte sich nicht erklären, wie die Alte so unbemerkt und zügig an ihr vorbei gelangen konnte. Der Fahrer schien sich für irgendetwas entschuldigen zu wollen, zumindest wirkte er etwas verzweifelt. Schließlich beendete die Alte das Gespräch mit einer bestimmenden Geste. Der Mann gab nach und setzte sich in den Wagen. Die Alte drehte sich ruckartig in Richtung des Schuppens um. Die Reporterin schreckte zurück. Sie fühlte sich ein wenig schuldig, wie ein kleines Mädchen, das beim Lauschen ertappt wurde. Sie hoffte, die Alte hätte sie nicht bemerkt und ging zwei Schritte rückwärts, dann eilte sie aus dem Schuppen, bog um die Wand und erschrak furchtbar. Die Alte stand direkt vor ihr, beinahe wären sie zusammengestoßen. Eine Sekunde lang schaute die Alte sie ernst und böse an. Dann klärte sich ihr Gesicht auf und sie wies lächelnd in Richtung der der Hütte. „Kommen Sie!“ Beide traten erneut in die Wohnstube, kaum beachtet von den beiden Männern. Der Alte schien irgendeine lustige Bemerkung gemacht zu haben denn der Kameramann lachte.

„Ich fürchte, wir müssen so langsam los. Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre Gastfreundschaft“, sagte die Redakteurin unvermittelt und bat den Kameramann seine Sachen zu packen. Der sah sie unwillig und schon ein wenig alkoholschwer an. „Bleiben Sie noch ein bisschen. Wir haben so selten Besuch“, schmeichelte die Alte. „Tut mir leid, das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber unser Wagen fährt jetzt!“ antwortete die Reporterin bestimmter als beabsichtigt. „Nein! Sehen Sie, er ist schon weg“, lächelte die Alte. „Was?“ die Reporterin folgte dem Blick der Alten aus dem Fenster und sah ungläubig, wie der Wagen aufbrauste, Kies aufwirbelte und dann mit hoher Geschwindigkeit die Landstraße hinunterraste. „Hey!“ rief der Kameramann. Er sprang, plötzlich lebhaft, auf und rannte aus der Hütte, dem weiter beschleunigenden Wagen noch ein gutes Stück hinterher „Hey!“. Er wurde langsamer und drehte sich schließlich mit einer fragenden Geste zu der Redakteurin um, die ebenfalls aus der Hütte gerannt war. Die beiden Alten standen unbewegt in der Türe. „Was soll das?“ schrie die Reporterin. Freundlich antwortete die Alte:„Wir haben so selten Besuch. G. weiß das, ist ein Junge von hier. Kommt morgen wieder. Kommen Sie, wir setzen uns und trinken Tee!“ „Ich trinke jetzt mit Sicherheit keinen Tee.“ entgegnete die Reporterin wütend. „Was ist das für ne Sch…?“, regte sich der zurücklaufende Kameramann auf. Der Alte begab sich in den Schuppen. Der Kameramann trat energisch auf die lächelnde Alte zu. Der Alte kehrte mit einem Jagdgewehr aus dem Schuppen zurück. Er hielt es auf die Fernsehleute gerichtet. Mit einer Drohgebärde stürzte der Kameramann auf ihn los: “Hör zu, Opa, ich weiß zwar nicht was Du für ein Problem hast…“. Weiter kam er nicht. Das Gewehr knallte und im selben Augenblick heulte der Kameramann vor Schmerz auf und sackte zusammen. Der Alte hatte ihm direkt ins Knie geschossen. Dann lud er das Gewehr wieder durch, ruhig und mit unbewegter Mine. Die Redakteurin sah das mit Entsetzen. Für einen Moment glaubte sie zu träumen. Dann beugte sie sich zu dem sich krümmenden Kameramann: „Sind sie völlig irre?“ schrie sie den Alten an mit vorwurfsvollem aber verängstigtem Blick.
„Nun kommen Sie!“ sagte der Alte, „Seien Sie nicht unhöflich!“ Er wies mit dem Lauf in Richtung Hauseingang. Nach einem weiteren Moment der Fassungslosigkeit erhoben sich die Fernsehleute langsam. Der Kameramann stütze sich auf die Redakteurin. Er schrie auf und sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz, als er das verletzte Bein belastete. Sie humpelten in die Hütte, der Alte mit dem Gewehr hinterher. „Hören Sie, falls sie Geld wollen…“ setzte die Redakteurin an, doch die Alte unterbrach sie:„Schschsch, nix reden, setzen!“. Beide schoben sich verängstigt auf die Bank. Der Alte setze sich auf einen Schemel, das Gewehr legte er behutsam auf seine Knie. „Seit die Kinder fort sind haben wir so selten Besuch“, lächelte die Alte und schenkte die Gläser wieder voll.

 

Hallo Felix-Florian,

Die Idee zu einer Horrorgeschichte ist hier vorhanden, ganz klar. Aber von dem Horror kommt nichts bei mir an. Der Text wirkt fast so, als hättest du gezielt versucht, die Distanz zwischen dem Leser und dem Geschehen so groß wie möglich zu halten. Es ist schwer zu greifen, woran das liegt, aber der Text berührt mich überhaupt nicht, und trotz der Kürze musste ich mich regelrecht durchquälen.
Ich kann dir hier nicht einmal pauschal das berühmte "Show, don't tell" entgegen halten. Du zeigst ja durchaus einiges. Aber wie soll ich sagen - das "Show" und das "Tell" sind an strategisch total ungünstigen Stellen platziert. Du beschreibst die Landschaft und die Kleidung der alten Leute, so dass man durchaus ein Bild bekommt. Aber wenn es um Zwischenmenschliches geht, dann kommen Sätze wie der hier:

Der Fahrer war so rasch von der geplanten Unverbindlichkeit der Unterhaltung abgekommen, dass sie es als unangenehm empfunden hatte.
Viel zu abstrakt! Zeig lieber das Gespräch, und lass den Leser selbst den Schluss ziehen, ob der Fahrer sich unpassend verhält oder nicht.

Du gibst keiner deiner Figuren einen Namen, obwohl die Namen teilweise sogar im Gespräch fallen. Warum hast du die zu Initialen verkürzt? Bei den Orten mag das noch gehen, aber auch da würde es mir besser gefallen, Namen zu lesen - gerne fiktiv, aber es würde helfen, die Geschichte "realer" wirken zu lassen.

Horror als Genre lebt doch davon, beim Leser Emotionen auszulösen. Und wenn man nicht gerade so Splatterkram schreibt, der allein auf Ekel- und Schockeffekte abzielt, dann ist es extrem wichtig - vielleicht noch wichtiger als in anderen Genres - dass man als Leser einen Bezug zu den Figuren hat. Und wenn die Figuren keine Namen und kaum erkennbare Charakterzüge haben, funktioniert das nicht.

Die einzige Figur, bei der hier andeutungsweise so etwas wie Charakterisierung stattfindet, ist "die Redakteurin", aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird. Aber das, was da gezeigt wird, ist reichlich unsympathisch - die ist arrogant und sieht auf die alten Leute und eigentlich auch auf alles andere herab. Es fällt schwer, Mitgefühl mit ihr zu haben.

Es ist so eine Art Trend vor allem in qualitativ nicht so hochwertigen Horrorfilmen, die Protagonisten so unsympathisch wie möglich zu machen, damit der Zuschauer sich dann amüsiert, anstatt mitzuleiden, wenn die der Reihe nach dem Monster oder Serienkiller zum Opfer fallen, der daduch quasi zum eigentlichen Protagonisten wird.
Der "bessere" Horror (meiner subjektiven Ansicht nach) funktioniert, weil man sich mit den Opfern identifizieren kann. Man will, dass sie überleben, und man drückt ihnen die Daumen, nicht dem Monster. Das heißt nicht, dass deine Figuren Heilige sein müssen, die keinerlei Charakterschwächen haben. Aber sie müssen menschlich und lebendig wirken.

Die Charaktere sind der größte Schwachpunkt aus meiner Sicht, aber abgesehen davon funktioniert der Spannungsbogen auch noch nicht so richtig. Mindestens die ersten zwei Drittel der Geschichte sind ungefähr so staubtrocken und langweilig, wie die Gegend wo sie spielt. Es passiert nichts von großem Interesse, und die Dialoge und Figuren tragen halt nichts bei, um das aufzulockern. Die Wendung wird auch nicht vorbereitet, das kommt aus heiterem Himmel. Bevor der alte Mann zum Gewehr greift, passiert nichts Bedrohliches, es wird nicht mal angedeutet, dass irgendwas nicht stimmt.

Ein paar Details zum Text:

„Von den Jungen möchte keiner bleiben – hier kann man kein Geld verdienen.“ sprach die Alte weiter und sie sagte es so ruhig und anklagefrei, wie es ihr Tonfall gestattete, der bei Frauen in dieser Gegend immer nahe an der Hysterie liegt.
Die Gegend tut doch hier nichts zu Sache. Du hast es ja bewusst offen gelassen, wo die Geschichte spielt. Also wäre es doch hier sinnvoller, diese spezielle alte Frau, die eine ganz zentrale Rolle in der Geschichte spielt, zu charakterisieren, anstatt Pauschalurteile über die Gegend abzugeben. Der Grundgedanke - sie sagt das ruhig und ohne Vorwurf, aber man merkt trotzdem, dass es sie aufwühlt - ist ja gut. Aber wenn du da so abwertende Worte wie "Hysterie" hinein bringst, verliert das seine Wirkung.

Der Alte lächelte sogar, als sie es sagte und entblößte seine Zahnlücken und einen blinkenden, goldenen Schneidezahn. Es war ein entschuldigendes Lächeln wie es wiederum bei den hiesigen Männern oft vorkommt.
Auch hier. Das ist doch Unfug, dass die Männer und Frauen dieser Gegend alle gleich ticken, und wenn's so wäre, würde es trotzdem nichts zu Sache tun. Zeig mir diesen einen speziellen alten Mann, nur der ist für die Geschichte wichtig.
Außerdem würde ich einen Absatz machen, wenn es um die Reaktion des Mannes geht, sonst ist es verwirrend - beim ersten Lesen dachte ich, du hättst dich mit dem "der" vertan und es ginge immer noch um die alte Frau.

„Gibt es keine gute Arbeit hier und das Leben auf dem Land ist eine Plackerei. Wirft nichts ab, reicht gerade so zum Leben“ fuhr die Alte fort.
Gibt es stereotypen osteuropäischen Dialekt hier. Das ist doof.
Sprechen die beiden alten Leutchen da die Sprache der Reporterin? So flüssige Fremdsprachenkenntnisse in so einer gottverlassenen Gegend scheinen mir nicht plausibel, ich dachte eher, die Redakteurin beherrscht die Landessprache gut genug, um das Interview zu führen. Und in ihrer Muttersprache würden die Alten korrekt sprechen.

“Früher war mein I. stark wie ein Ochse.“
Ich weiß, ich hab das schon gesagt, aber es will mir wirklich nicht in den Kopf, warum du hier Initialen benutzt. Was hast du gegen Namen?

Der Fahrer hatte sie einander vorgestellt und nach einer herzlichen Begrüßung hatte die Redakteurin den Ablauf erklärt, wobei sie etwas überrascht worden war durch deren Selbstverständlichkeit und raschen Auffassungsgabe vor der Kamera.
Worauf bezieht sich das "deren"? Mach lieber zwei kürzere Sätze daraus.

Sie hatten mit Außenaufnahmen begonnen, die Redakteurin gesprochen, ohne im Bild zu sein:
Da fehlt noch "hatte" vor dem gesprochen

„Wie soll das hier noch mehr zerfallen? Hab nie einen größeren Haufen Schrott gesehen“, grinste der Kameramann die Redakteurin schief an
Man grinst keine Sätze

Er hatte seine Hoffnungen auf die Redakteurin vorübergehend aufgegeben und sah im Wodka eine willkommene und auch die einzige Alternative.
Du verlässt hier die Erzählperspektive der Redakteurin und wirfst einen Blick in den Kopf des Kameramanns. In Kurzgeschichten ist es meistens besser, sich auf die Perspektive einer Figur zu beschränken.

Die Alte stand direkt vor ihr, beinahe wären sie zusammengestoßen.
Mir würde es besser gefallen, wenn die Alte keine Mutantenkräfte hätte. Aus Einsamkeit den einzigen Besuch als Geiseln zu nehmen, das macht sie schon beängstigend. Die übernatürliche Geschwindigkeit ist eher fehl am Platz, finde ich.

Der Alte schien irgendeine lustige Bemerkung gemacht zu haben denn der Kameramann lachte.
nach haben fehlt ein Komma

„Bleiben Sie noch ein bisschen. Wir haben so selten Besuch“, schmeichelte die Alte. „Tut mir leid, das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber unser Wagen fährt jetzt!“ antwortete die Reporterin bestimmter als beabsichtigt. „Nein! Sehen Sie, er ist schon weg“, lächelte die Alte. „Was?“
Beim Sprecherwechsel in einem Dialog sollte immer eine neue Zeile beginnen, sonst ist es nicht sehr lesefreundlich.

„Was ist das für ne Sch…?“, regte sich der zurücklaufende Kameramann auf.
Ja, das frag ich mich auch, ehrlich gesagt :p. Wenn du keine Fäkalsprache verwenden möchtest, dann überleg dir etwas anderes für den Fluch. Aber wenn der hier Scheiße sagt, dann kannst du dir als Autor nicht zu fein sein, auch Scheiße hinzuschreiben. Soll ich mir als Leser da so einen Zensurpiepston vorstellen, oder was?

„Sind sie völlig irre?“ schrie sie den Alten an mit vorwurfsvollem aber verängstigtem Blick.
Da bist du auch plötzlich raus aus der Perspektive der Redakteurin, da sieht sie ein allwissender Erzähler von außen und beschreibt ihren Blick. Ich denke es würde der Geschichte gut tun, die eine Perspektive wirklich durchzuhalten, also wirklich strikt beim personalen Erzähler zu bleiben, und den Schwerpunkt darauf zu legen, ihre Emotionen zu zeigen. Ich will nicht wissen, ob sie vorwurfsvoll oder ängstlich aussieht, ich will wissen, was in ihr vorgeht.

Grüße von Perdita

 

Danke für Deine ausführliche Meinung, Perdita. Schade, daß Dir meine Geschichte nicht gefallen hat, ich kann dazu nur sagen, daß eine Geschichte bei mir immer im Kopf beginnt und in Bildern in Gedanken existiert. Diese Bilder in Worte zu fassen kann zu Abstraktionen führen. Was ich damit sagen möchte ist, daß die Bilder eben nicht bei jedem anderen Leser ankommen und dann funktioniert die Geschichte möglicherweise nicht.
Aber abgesehen davon möchte ich nochmals betonen, daß ich mich keineswegs an "Show- Dont tell" oder sonstige amerikanische Unsitten gebunden fühle und mit der Beschreibung statt der Darstellung einer Situation eben die Phantasie des Lesers mehr beanspruche. Deiner Erzähler-Perspektive kann ich nicht folgen, es handelt sich von Anfang an um einen auktorialen Erzähler. Bei den Charakteren gebe ich Dir recht, die kommen eher zu kurz.

 

Hallo nochmal Felix-Florian,

das soll jetzt nicht kein "meine Meinung ist besser als deine" Kommentar sein, aber ich würde gerne noch mal kurz auf das Thema "Show, don't tell" eingehen. Ich sehe das nicht als Konvention, der man als Autor zwangsläufig folgen MUSS. Es gibt schon Geschichten, wo ich es gerechtfertigt finde, wenn der Autor viel erzählt und nicht so viel zeigt - in Science-Fiction-Geschichten kann es z.B. um ziemlich abstrakte Gedankenspiele gehen, und das finde ich völlig okay, da ist das Beanspruchen des Lesers oft ein ganz wichtiges Ziel. Aber bei Horrorgeschichten geht es in erster Linie ums Erschrecken des Lesers. Und das ist nicht abstrakt.
"Show, don't tell" ist einfach eine handwerkliche Empfehlung. Man muss es nicht als schicksalhaft hinnehmen, dass "die Bilder nicht bei jedem Leser ankommen" - es gibt Techniken, wie man das hinkriegt. Nur weil amerikanische Autoren da eine längere Tradition haben, und Kreatives Schreiben in den USA schon länger als Handwerk unterrichtet wird, muss man da nicht die Nase rümpfen. Für mich ist wichtig, was funktioniert, was kommt bei den Lesern an.

Also wenn mir bei einer Horrorgeschichte jemand sagt, er hat was gegen Show, don't tell, dann ist das für mich so als ob man sagt: Ich beuge mich nicht der Unsitte, Nägel mit einem Hammer einzuschlagen, ich nehme meine Zange dafür! Das kann man natürlich machen, aber das Endresultat wird in der Regel weniger gelungen sein als bei jemandem, der das empfohlene Werkzeug eingesetzt hat.

Wir können aber gerne agree to disagree :D

Grüße von Perdita

 

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