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Stachlige Früchte
Mama hat eine Kakteenarmee im Schlafzimmerfenster. Und auch Onkel Henry gehört zur Kaktusfraktion. Verschlossen, dünnpulloverig, knochig, nur der Bauch ist rund und steht leicht ab, das kommt bestimmt vom vielen Fruchtzucker.
Er ist nicht mein richtiger Onkel, sondern mein Großonkel, den mir meine Mutter verheimlicht hat, warum auch immer. Jetzt sitze ich hier, in einem Kleinstgarten in Southampton, in Meeresnähe und war doch nie am Strand, weil ich jeden Tag Henry im Garten unterstützen muss.
„Warum konntest du ihn nicht selbst besuchen, Mama?“ Ich bin so sauer. Ich gebe mir nicht einmal Mühe, beim Telefonieren leise zu sein. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie es hier aussieht! Überall Katzenhaare. Egal, wo man sitzt.“
„Du wolltest doch immer Haustiere haben.“
„Aber nicht fünf Katzen, einen Hund und einen stachelbeersüchtigen Opa – in einem nach Zoo stinkenden Minihaus.“
„Du bist nur sauer, weil du Jenny nicht siehst.“
„Du bist froh, dass du Jenny nicht siehst!“ Mama konnte Jenny noch nie leiden. „Weil ich in der Verbannung lebe, macht sie noch Schluss.“
„Das wäre sicherlich nicht das Schlimmste.“
„Und an allem ist nur der Scheißopa schuld. Wäre ich nur nie gefahren.“ Ich lege auf. Ein bisschen tut es mir leid, dass ich Henry beleidigt habe.
Aber er versteht ohnehin kein Deutsch und werkelt wie immer im Garten. So gehen wir uns wenigstens aus dem Weg. Offiziell soll ich mein Englisch bei ihm aufpolieren, als Ersatz für Sprachschule und Gastfamile. Doch Henry spricht fast nur über seine Gooseberries.
Ich hasse Stachelbeeren! Aber Henrys Beeren sind etwas Besonderes, das erkenne selbst ich. Manche sind hellgrün, fast durchsichtig, riesig und so groß wie die Eier der freilaufenden Hühner aus dem Nachbarsgarten zur Rechten, die jede Gelegenheit nutzen, heimlich rüberzukommen. Mein Job besteht darin, mich im Liegestuhl zu sonnen und dem Hund Gesellschaft zu leisten beim Hühnervertreiben, während Henry mit den anderen das Wichtigste bespricht. Den Stachelbeerwettbewerb. Die Egton Bridge Gooseberry Show. Das ist soetwas wie das Guinessbuch der Rekorde nur für Stachelbeeren.
Und Henry möchte gewinnen. Mit der schwersten Stachelbeere, die in ganz England wächst. Genau wie seine Gartennachbarn. Wie Ian, sein dicker Nachbar zur Linken, ein lustiger Endsechziger und der etwas jüngere, rothaarige John von Gegenüber. John mit seinen sommersprossigen Armen und seiner sommersprossigen Tochter. Normalerweise hasse ich Sommersprossen, aber bei Ginger sehen sie niedlich aus. Ginger hat einen Kuchen gebacken mit einem rosafarbenen Icing. Ein Zentimeter Zuckerguss.
Ich habe Jenny gleich ein Foto davon geschickt, damit sie sich gruseln kann. Jenny lebt schon seit Monaten zuckerfrei.
„Kein Wunder, dass sie so fette Beine hat“, simst Jenny gleich zurück.
„Musst du immer so gemein sein?“
„Wenn du mir so ein Foto schickst.“
Ich schaue mir das Kuchenfoto daraufhin noch einmal an.
Und tatsächlich war noch etwas von Ginger neben dem Kuchen zu entdecken.
„Would you like a piece of cake?“, werde ich von ihr unterbrochen und schnell mache ich das Smartphone aus.
Eigentlich schmeckt der Kuchen bis auf die Glasurschicht toll und ich kaue zufrieden, während Henry mit Ian und John über den Wettbewerb fachsimpelt, wovon ich nur die Hälfte verstehe. Bald ist es soweit und alle drei sind sehr aufgeregt, auch Ginger, die zu meiner Überraschung Stachelbeeren noch mehr liebt als ihre Törtchen. Ginger ist eine richtig Süßsaure.
Jetzt darf an der Beerenfront nichts mehr schief gehen! Regenschirme wachen über den Büschen, um Starkregen zu verhindern. Damit die Früchte nicht platzen. Henry, Ian und John tun alles für den Sieg. Ein letztes Hätscheln der verwöhnten Büsche. Letzter Sonnenschein, letztes Wässern. Als ob die Beeren davon noch schwerer würden. Meine neu gelernten Wörter drehen sich nur noch um Beeren. Gooseberries wie Goosebumps. Wie meine Gänsehaut als ich, um Ginger zu gefallen, todesmutig in den Zuckerguss beiße, was Ginger mit einem zuckersüßen Lächeln quittiert. Diese meerblauen Augen! Vielleicht frage ich sie, ob wir nicht zusammen zum Strand radeln können. Das wird Jenny ärgern. Soll sie ruhig ein bisschen eifersüchtig sein auf das Mädchen mit den „fetten“ Beinen.
Nach dem Kuchenessen geht Henry ins Haus und kehrt mit einem Karton zurück, auf den sich alle aufgeregt stürzen. Wie kleine Jungs auf ihre Weihnachtsgeschenke. Es muss etwas für die Stachelbeeren drin sein. Und ich liege richtig.
Eine Kamera!
Sie wird prominent am Haus befestigt und richtet sich auf die Stachelbeerbüsche.
„Findet ihr es klug, sie so auffällig anzubringen?“, frage ich in die Runde. „Vielleicht solltet ihr sie lieber im Baum verstecken.“
„Das ist nur eine Fake-Kamera“, flüstert mir Ginger zu. „Die soll die Leute nur davon abhalten, den Garten zu betreten. Nicht dass die Beeren noch geklaut werden!“
Henrys ganzer Stolz sind zehn Büsche mit jeweils drei Ästen. Dreißig tragende Äste. Spärlich mit Früchten besetzt. Mit Früchten, die zugegeben riesig sind. In allen relevanten Wettbewerbsfarben: white, red, green und yellow.
„The red ones are the best“, sagt Ginger. Aber das darf ich erst nach dem Wettbewerb testen. Für mich eine größere Herausforderung als die dickste Icing-Schicht. Aber vielleicht werde ich Ginger zuliebe in eine Glibberfrucht reinbeissen.
Warum tragen Henrys Büsche nur so wenig Früchte? Und das soll ein Mann sein, der seit fünfzig Jahren auf the perfect Gooseberry wartet? Lächerlich.
Und dafür sollte ich nach England? Jenny zuhause allein lassen nur wegen ein paar blöder Beeren? Jenny findet immerhin die Katzen süß. Und so schicke ich ihr immer ein paar Katzenbilder.
Wenn Stachelbeeren toll wären, gäbe es sie im Supermarkt. Einfache Logik. Aber für Henry sind sie das Kostbarste auf der Welt. Und dafür habe ich Zuhause alles liegen gelassen. Hoffentlich trifft Jenny nicht auf einen anderen, der sie zum Eis einlädt. Jenny lässt sich gern einladen, nicht weil sie zu wenig Taschengeld bekommt. Sie liebt es, eingeladen zu werden. Da ist sie anfällig. Es war ein Fehler hierherzukommen und statt auf Jenny aufzupassen, auf blöde Beeren.
„Die Beeren sind ausgedünnt worden, damit die restlichen extragroß werden“, erklärt Ginger.
„Das sehe ich. Aber wozu das Ganze?“
„Für den Wettbewerb natürlich.“
„Wer will schon Stachelbeeren essen.“
Ginger rauscht beleidigt ab.
Henry wiegt seine Beeren mehrfach am Tag mit der Briefwaage. Die größte, ein goldgelbes Monster hat ein Kampfgewicht von stolzen 58,8 Gramm. Fast Weltrekord! Da fehlen nur noch zwei Milligramm. Und morgen ist schon der Wettbewerb. Ob die Beere es noch schaffen wird? Henry traut sich kaum noch, die Beere anzufassen. Das sehe ich an seiner leicht zittrigen Hand.
Der Hund schläft schon seit einer Woche rund um die Uhr im Garten, nicht das jemand die hühnereigroßen Beeren noch kurz vor Schluss klaut.
Morgen ist Henrys großer Tag. Und er wird immer unruhiger. Mit habichtartigem Blick behält er vom Küchenfenster aus sein Stachelquartier im Blick. Den Kopf vorgereckt, als ob er so besser sehen könnte. Sein hölzernes Wettbewerbsköfferchen wartet schon auf dem Küchentisch. Es sieht aus wie eine luxuriöse Eierschachtel. Und in die Vertiefungen kommen morgen früh die frisch gepflückten Beeren. Aber noch ist es nicht soweit.
Die Bewegungsmelder sind im Garten wieder abgebaut, weil die Katzen sie immer auslösen. Die Katzen nerven mich noch mehr als die Stachelbeeren. Beides so haarig. Meine Hosen sehen schon ganz weiß aus. Alles voller Tierhaare. Aber das stört Henry in seinem Wettbewerbsrausch natürlich nicht.
„Do you need some Scotch?“, fragt Henry mit einem Grinsen, das hilfsbereit und entschuldigend wirkt.
Ich nicke erfreut. Ja, ein Gläschen Scotch wäre eine feine Entschädigung und eine Geste, die ich Henry nicht zugetraut hätte. Vielleicht ist er doch ein lieber Kerl?
Er kramt in seinem Schrank und kommt mit einer Kleberolle wieder. Scotch Magic Tape. Was hätte ich auch von ihm erwarten sollen!
Als ich eine Stunde später vom Petshop wiederkomme mit einer richtigen Fusselbürste, lese ich Jennys Nachricht.
Das kann doch wohl nicht wahr sein!
Wie stillos ist das denn! Per SMS Schluss machen. Nur weil ich in England bin und sie nicht mehr zu allem einladen kann. Jenny schickt mir jetzt auch ein Foto. Vor ihr ein verlockender Eisbecher. Einer für Pärchen mit Früchten und einer beharrten Männerhand, die gerade ein Papierschirmchen aus der Sahne zieht.
Dass Jenny so gemein sein kann!
Wie ich sie hasse!
Doch Henry lenkt mich ab. Ich soll ihm helfen, ein Vogelhaus in der kleinen Birke zu befestigen. Die Leiter ist wackelig.
Möchte er einen Nistkasten mitten im Sommer anbringen? Ein Nistkasten, der in der Sonne kocht und sich für Vogelbabys wie ein Backofen anfühlen muss?
Das kann wohl nicht wahr sein!
Ich dachte, Henry wäre ein Tierfreund und mit seinen Beeren schon voll ausgelastet.
Der Kasten fühlt sich schwer an, als ob schon ein Vogel in ihm säße. Ein schwerer Vogel wie aus Stein. Aber Henry ist die Sache wichtig und so mache ich es für ihn.
Nicht, dass er mir noch von der Leiter fällt!
Mein Handy piepst.
Mama. Woher weiss sie, dass Jenny Schluss gemacht hat? Mama redet so laut, dass meine Ohren schmerzen. Ich kann jetzt keine schadenfrohen Bemerkungen gebrauchen. Kein „Das-wusste-ich-schon-immer“.
Ich lege auf.
Und bin auch danach noch so sauer. Besonders auf die sauren Beeren.
Ich halte es nicht mehr aus.
War der Wettbewerb der wahre Grund, warum ich hier sein muss? Hat Mama das eingefädelt mit Henry?
Oder wollte sie, dass Jenny Schluss macht?
Wahrscheinlich alles gleichzeitig. Englisch lernen in der Sparvariante. Den kostenlosen Hilfsgärtner machen. Kontakt zur entfernten, englischen Verwandtschaft pflegen. Ich als eine Art Vortester, bevor Mama sich für ein paar Wochen einquartiert und sich herrlich am Strand sonnt.
Nein, nicht mit mir!
So lasse ich mich nicht verarschen.
Ich stelle mir alle möglichen Weisen vor, wie ich mich an den Beeren räche.
Ich könnte drauf treten, sie platzen lassen.
Sie in die Hand nehmen und einfach zudrücken, bis der Saft rausspritzt.
Aber ich verzichte darauf und als Henry für einen winzigen Moment abgelenkt ist, lasse die größte Beere einfach so verschwinden. Unauffällig in meinem Long Sleeve T-Shirt.
Oben im Schlafzimmer schaue ich sie mir genauer an. Ihre Adern, das Pralle.
Schmeckt eine große Beere anders als eine kleine? Wie sie sich im Mund wohl anfühlt? So groß wie sie ist, würde sie ihn komplett ausfüllen. Eine unangenehme Vorstellung. Der ganze Mund voll Glibber.
Ich möchte Ginger besuchen. Ich überlege, was ich ihr mitbringe. Von Mama hatte ich den Tipp, Glühwein mitzubringen. Angeblich stehen Engländer darauf. Auch im Sommer. Mal schauen, wie wild Ginger wird, wenn sie richtig betrunken ist. Und dann werden wir noch Schneewittchenschokolade essen. Oder Pechmarieschokolade in meinem Fall. Meine Puffreisschokolade mit Märchenmotiven wird Gingers Herz im Nu erobern. Dank der Froschkönigschachtel ist sie während des Flugs nicht zerbrochen. Und auch nicht geschmolzen. Meine Kühlakkus haben dankbar durchgehalten.
Und beim Froschkönig ist noch Platz für eine Überraschung, für eine wahre Goldkugel.
Mit dem Geschenk unter dem Arm gehe ich zum Nachbarhaus.
Ginger freut sich über das kleine Päckchen, ihre Augen leuchten noch blauer aus als sonst. Wahrscheinlich bekommt sie nicht oft etwas geschenkt.
„Bei der Hitze solltest du es lieber in den Kühlschrank stecken.“
„Ich hab hier oben einen“, sagt sie mit einem überraschend traurigen Unterton und ich folge ihrem Blick zum Minikühlschrank. „Der ist noch von Grandma aus dem Altenheim. Sie ist vor sechs Wochen gestorben.“
„I feel so sorry for your loss“, kommt mir automatisch über die Lippen und ich schäme mich, dass sich der Satz anhört wie aus meinem Englischbuch.
Der Kühlschrankwürfel ist voller Ginger Ale. Ich staune. Ginger heißt nicht wirklich Ginger. Sie mag das Bittere. Und sie ist so bittertraurig, dass es mich anrührt und ich sie am liebsten in den Arm nehmen möchte.
Aber stattdessen trinken wir beide eine Flasche Ginger Ale und schweigen.
Sie denkt an ihre Oma und ich an Henry. Vor allem plagt mich das schlechte Gewissen. Ginger ist so viel netter zu ihrer Oma gewesen als ich zu Henry. Ich schäme mich und komme mir wie ein Raben-Großneffe vor. Und ich denke, das man aus einer auf einen winzigen Garten verkleinerten Welt nicht das Größte mitnehmen sollte.
Wenn Ginger wüsste, was ich getan habe!
Aber ich traue mich nicht, es ihr zu beichten.
Und ich bereue, was ich ihr in die Schokoladenkiste gesteckt habe.
Noch abends im Bett ärgere ich mich über mich selbst. Und während ich darüber nachdenke, was ich alles vermasselt habe, höre ich ein leises Klingeln unten an der Tür.
Am nächsten Morgen lässt Henry sich nichts anmerken und erntet schweigend alle Beeren. Sein Schweigen schmerzt mich mehr als jede verdiente Standpauke.
Mit seinem Holzkästchen fährt er nach Egton Bridge zu seiner heißgeliebten Show, zum Stachelbeerwiegen, auf das er sich seit Monaten vorbereitet hat. Aber dabeisein ist für ihn wohl alles. Auch wenn seine Chancen auf den Sieg verloren sind. Wegen mir.
Und in den Eierkartons kuscheln sich die Beeren wie bunte Eier. Nur, dass sie ein paar entscheidende Milligramm zu klein sind.
Stunden später klingelt es an der Tür.
Ist Henry schon wieder zurück?
„Wie konntest du ihm das nur antun?“ Ginger ist total wütend.
„Was antun?“
„Du weisst gar nicht, wieviel Glück du hast, das du deinen Großonkel noch hast und statt dankbar zu sein, nimmst du ihm das Letzte, was er noch hat. So geht man mit älteren Menschen nicht um!“
Ihre Augen blitzen und ich finde, dass Ginger wütend wirklich süß aussieht. Aber ich will nicht noch mehr falsch machen. Und Ginger hat in allem so Recht. Aber was soll ich nur machen? Für eine Wiedergutmachung ist es zu spät.
„Du bist die größte Enttäuschung, die er je erlebt hat“, sagt sie. „Das hat er nicht verdient, das ist nicht fair.“
„Hast du ihm etwas gesagt?“, frage ich sie und schäme mich, dass ich am Vorabend so kindisch war.
„Henry ist nicht so tüddelig wie er aussieht“, meint Ginger ohne mich anzuschauen. „Er hat die Kamera ausgewertet.“
„Das ist doch nur eine Fakekamera. Das hast du doch selbst gesagt.“
„Die meine ich gar nicht.“ Ginger sieht für Momente noch entrüsteter aus. Doch dann weicht ihr Zorn einer großen Traurigkeit. „Der Nistkasten.“
„Für Vögel, die nicht im Sommer rumvögeln“, sage ich auf Deutsch und hoffe gleichzeitig, dass Ginger meinen Scherz nicht versteht. Ich kann es einfach nicht lassen, mich gegen jede Vernunft immer weiter in die Scheiße zu reiten.
„Vielleicht bist du sensibler als gedacht“, sagt sie unbeeindruckt. „Dann hätte dir schon beim Anbringen auffallen müssen, dass der Kasten viel schwerer ist, als er sein sollte.“
Das war mir auch aufgefallen. Aber was will mir Ginger damit sagen? Ich bin ratlos.
Da kommt Henry. Wir haben ihn gar nicht kommen hören.
„Er kann es dir gleich selber sagen“, meint Ginger.
„Was soll ich ihm selbst sagen?“, fragt Henry.
Ginger und ich schauen uns an. Henry sieht so glücklich aus. Seine Augen leuchten. So hat er noch nie ausgesehen.
Das passt alles nicht zusammen. Warum lächelt er uns an, mit einem – wie soll ich es sagen – mit einem richtigen Gewinnerlächeln?
Wir beschließen, wortlos das Thema zu wechseln.
„Was soll ich ihm selbst sagen?“, wiederholt Henry und schaut uns beide aufmerksam an und seine Augen bleiben an mir hängen. „Ach, die Wildkamera meinst du, Ginger.“
Und ein Schatten fällt auf sein Gesicht, als er mich betrachtet. Ich sehe seine Enttäuschung, auch wenn er sie sich nicht anmerken lassen will.
Ich spüre, wie ich rot anlaufe.
Hat Henry mich gestern die ganze Zeit im Garten beobachtet, ohne, dass ich es merkte?
Nie war mir etwas so peinlich.
Ich traue mich kaum noch, ihn anzuschauen.
„Man muss immer zweigleisig fahren“, sagt er zu mir. „Ablenken und alles unter Kontrolle behalten. Die Kamera im Nistkasten hat den Dieb überführt.“
Was soll ich jetzt bloss machen?
Alles ist verloren. Ich weiss nicht, wie ich es Mama beichten soll. Einem alten Menschen das Liebste nehmen, was er hatte. Selbst die Katzen und der Hund schauen vorwurfsvoll. Und Ginger möchte ich am liebsten gar nicht mehr anschauen.
„Ich kann dich verstehen“, sagt er. „Der Faszination der Stachelbeere bin ich auch erlegen, als ich so alt war wie du. Und ich habe etwas für romantische junge Männer übrig.“
Jetzt bin ich völlig verunsichert. Eigentlich müsste er mich hassen! Was ist das jetzt für eine Strategie?
Henry geht in die Küche und ich betrachte nachdenklich seinen Rücken. Sein Gang ist so beschwingt, als wäre er dreißig Jahre jünger.
Er kehrt mit einer großen Proseccoflasche und drei Gläsern zurück.
Was soll das jetzt? Ich werde aus ihm nicht schlau.
„Lass uns anstoßen!“, sagt er und gibt uns ein Glas. „Auf das junge Glück!“
Ginger und ich schauen uns ratlos an.
„Du kannst stolz auf Ginger sein“, sagt er zu mir. „Sie hat die Beere in der Schokoladenschachtel so gut ausgepolstert, dass sie den Transport unbeschädigt überstanden hat. Und ohne deine Hilfe, aber vorallem ohne deinen dummen Streich, dein verrücktes Geschenk für Ginger hätte ich den Wettbewerb auch nicht gewonnen!“