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Stacheldraht im Gehirn
Als du zu mir sagtest, „Deine Stimme zu hören ist, als ob mir jemand Stacheldraht durchs Gehirn zieht“, applaudierte ich stumm für diesen Vergleich. Natürlich schmerzte die Beleidigung auch. Aber beschwert sich ein Ast, wenn ein Bussard seine Krallen um ihm legt? Ich war deine Missbilligungen bereits gewohnt. Zum Beispiel, als du beim Frühstück mal sagtest, „Du bist so hässlich. Du bist der hässlichste Mensch, der mir je vors Gesicht gekommen ist.“ Oder, als wir in der Schlange vor der Frittenbude standen. „Ich hatte doch gesagt, du sollst das rote Hemd anziehen. Wie bist du auf die Idee gekommen, das blaue tragen zu dürfen?" Laut genug, dass es auch der Mitarbeiter hinter der Fritteuse hatte hören können.
Ich – das ist ein hagerer, schwacher Mann, der von dir in die Ecke gegeißelt wird. Du – das ist eine laute, herrische Frau, deren Augen meist starr vor Ungeduld sind.
So unkreativ. Alle von ihnen. Bis dato. Ich weiß, dass du keines meiner Bücher liest, auf allen hat sich Staub abgesetzt. Außerdem kannst du nicht gleichzeitig fernsehen und lesen.
„Deine Stimme zu hören ist, als ob mir jemand Stacheldraht durchs Gehirn zieht.“ Du dachtest, mein darauf folgendes Schweigen diente deiner Besänftigung. Warum sollte ich dich auch zusätzlich aufregen? Vor allem nicht mit dem Bügeleisen in deiner Hand, mit dem du das Hemd bügelst, dass ich heute anziehen soll. Ich bin nicht so dumm, wie du es mir einzureden versuchst.
Ich blieb stumm, weil du dich in Poesie versuchtest. Das überwältigte mich. Das war wie Gregor Samsas Erkenntnis nach dem Erwachen, Raskalnikovs Hinkehr zu Religion, wie der Moment, als Lord Henry das Portrait Dorian Grays enthüllt. Ich ließ das Lächeln in meinem Kopf einige Male umherwirbeln und suchte in Gedanken Werke ab, aus denen du das übernommen haben könntest. Kein Buch fiel mir ein, keine Zeitschrift, nicht mal ein Lied. Es musste etwas sein, dass du beim Fernsehen aufgeschnappt hattest, etwas, das wir nicht mehr gemeinsam taten, seit du mich vor vier Monaten mit den Worten „Ich kann deine Haltung nicht ausstehen. Geh und guck nebenan.“ ins Nebenzimmer delegiert hattest.
Poesie. Poetik. Ein Vergleich. Der erste, den ich je deiner giftigen Zunge entnommen hatte. Ich hätte dich küssen können, wenn du mich gelassen hättest.
Also legte ich weiter stumm die Kleidung zusammen. Das Grinsen in meinem Gesicht sahst du nicht, obwohl ich gar nicht versuchte, es zu verstecken. Ich wollte, dass du mich fragst, was denn so witzig sei. „Nichts“, hätte ich geantwortet und du hättest gefragt, „Und warum grinst du dann so blöd?“ - „Ich grinse nicht", hätte ich gesagt, und du, „Tust du doch“, und ich, „Tut mir Leid.“ Aber du schautest nicht hoch, warst dir der Wirkung deiner Aussage zu sicher. Und ich legte die Kleidung zusammen, ein Grinsen im Gesicht, meine knorrigen Finger legten sich wie Fleischerhaken um die Stoffe.
Ich faltete jedes Teil aus den vier Altkleidersäcken, die ich selbst in die Wohnung geschleppt hatte. Du wiegst dreißig Kilo mehr als ich und bist fast doppelt so stark. Aber ich hatte gar nicht erst mit dem Gedanken gespielt etwas zu sagen. Da ist dieses hörbare Pfeifen in meiner Aussprache, wann immer ich aspirierte Worte benutze – Sex, Zynismus, Kilo, Kuh – ein Umstand, den ich einer frechen Antwort verdanke, die ich dir vor dreizehn Jahren gab und auf die hin du mir einen Eckzahn ausschlugst. Ich räumte die Kleidung weg, alles an seinen angedachten Platz, hübsch zusammengefaltet, und wollte schon fragen, was ich als nächstes machen sollte, als mir dein Satz wieder einfiel. Ich machte stattdessen dein Bett, zum zweiten Mal für heute, und wischte den Fernsehschirm mit Glasreiniger ab.
Ich verließ das Zimmer, öffnete leise die Tür zum Hausflur. Ich wusste, dass du wusstest, dass ich die Wohnung verließ. Das Geschrei und Geheul der Nachbarskinder verrieten mich. Ich kam rasch mit der Post zurück, hielt den Stapel von Briefen vorsichtig in beides Händen als hielt ich statt ihnen ein zerbrechliches Küken.
„Ist die Bewilligung vom Arbeitsamt dabei“, fragtest du.
Ich schüttelte den Kopf.
„Hast du alles durchgesehen?“
Ich nickte.
„Hast du's zweimal durchgesehen?“
Ich nickte weiter.
Du last den Absender jedes Briefes laut vor. Einen wichtigen Brief schobst du dir unter die Achsel, Werbung landete neben deinen Füßen. „Du hast sogar mal was richtig gemacht“, sagtest du höhnisch. „Manchmal glaube ich, du bist gar nicht so geistlich behindert.“
Ich konnte nicht fassen, was du da sagtest. „Nicht so geistlich behindert.“ Vor einigen Minuten war da noch der exquisite Vergleich gewesen - „Deine Stimme zu hören ist, als ob mir jemand Stacheldraht durchs Gehirn zieht.“ - und jetzt solch ein scheußlicher Fehler. Hinter zusammengekniffenen Lippen biss ich auf meiner Zunge herum. Du hattest mir einen kurzen Moment von Verzückung erlaubt und warst dann zur Simplizität zurückgekehrt. Man sollte nicht Heine nachahmen, um darauf hin Pilawa zu zitieren.
Du legtest die Post auf der Couch ab, meinem Schlafplatz, und ich wollte mich schon fast beschweren, als mir einfiel, dass ich heute mit dir Alarm für Cobra 11 schauen würde, vom anderen Zimmer aus. Bis dahin waren es noch fünf Stunden, Zeit, die verbracht werden musste.
„Können wir in den Park gehen?“ In meine Stimme legte ich die Hartnäckigkeit Mephistos, der seinen Faust zum Zaubertrank verführt.
„Au“, schriest du auf.
„Was ist denn?“
„Au, au“, schriest du weiter und hieltst dir mit schmerzverzerrtem Gesicht beide Ohren zu.
Ich ließ mich auf die Knie fallen, hob einen der Umschläge auf, kroch zum anderen Ende des Couchtisches, wo dein Kugelschreiber lag, der, mit dem du in der Fernsehzeitung Sendungen markierst, G für Gucken, A für Aufnehmen, und schrieb meine Frage auf. Du jammertest weiter, während du sie last. Ich rückte weg.
„Von mir aus. Aber du ziehst das gelbe Hemd an.“
Ich ging rasch die Stapel durch, bis ich das leuchtende Gelb fand. Ich war ekstatisch. Erst hattest du in Poesie gesprochen, und nun durfte ich Enten beim Aufschnappen von Brotkrumen betrachten.
Der Weg zum Park, durch Verkehr und ungeduldiges Schubsen, erschöpfte mich. Humpelnd und nach Luft schnappend musste ich von dir gestützt werden. Ich deutete auf eine alleinstehende Bank, weil ich wusste, dass du es nicht erlauben würdest, in der Nähe anderer Leute zu sitzen. Meine Wahl war weise, meine Überlegung fiel dir nicht auf. Ich war Bradburys leerstehendes Haus, das weiter Mahlzeiten zubereitete, die Zimmer reinigte und Gedichte von Dickinson las.
Im Sitzen zog ich die drei Brotscheiben aus meiner Tasche. Ich war wie ein Magnet, ein schwarzes Loch: Fixiert eilten die Enten zu dem Stück Wiese vor unseren Füßen.
Aber meine Gedanken kreisten noch immer um deinen Vergleich. „Deine Stimme zu hören ist, als ob mir jemand Stacheldraht durchs Gehirn zieht.“ Er kennzeichnete etwas Tiefgehenderes, ein Symbol. Wie sehr wollte ich dir das erklären. In meiner Vorstellung sagte ich zu dir, „Weißt du eigentlich, was das bedeutet, dass du einen Vergleich benutzt hast?“ - „Einen was? Wovon faselst du da?“ Und ich hätte dir den Begriff Vergleich erklärt. „Ein Vergleich ist die Gegenüberstellung zweier Zustände oder Bilder, die mit einem Vergleichspartikel wie 'wie' oder 'als' verbunden werden. Du hast meine Stimme mit dem Ziehen von Stacheldraht durch dein Gehirn verglichen.“ - „Na und?“, würdest du sagen und ich würde erwidern, „Das ist nicht nur das erste Mal, dass du einen Vergleich benutzt, um mich zu beleidigen, sondern auch der Beleg für eine innere Schönheit, die du in all den Jahren immer unterdrückt hast.“ - „Was?“, würdest du sagen, und ich, „Wenn es die Musik ist, die die einfachen Gemüter beruhigt, dann ist es die Poesie, oder in diesem Fall das Denken in einem Vergleich, das die Existenz einer freundlichen Seele beweist. Daran sehe ich, dass du nicht so grausam bist, wie du immer tust, dass in deinem Inneren die Neigung zur Poesie schlummert. Und Mitgefühl.“ Und du würdest daraufhin schweigen, also würde ich fortfahren, „Das ist ein Anfang. Versuch es doch noch einmal. Sag, dass ich wie jemand laufe oder wie jemand esse. Wir können das üben.“
Aber ich sagte nichts. Ich bin nicht so dumm. Mit dir zusammen zu leben ist, als ob ich mir auf die Zunge beiße, um mir mein eigenes Blut zu spenden.