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Sommer, Semmeln, und Stöckelschuhe sind drei Teile meiner Kurzgeschichtensammlung "Mietshaus".
Stöckelschuhe
Stöckelschuhe
Frau Schuhmacher stand in der Küche und tunkte den Beutel ihres Anis-Kümmeltees dreimal ein, ließ ihn für fünf Sekunden ziehen, und wiederholte die Prozedur gewissenhaft. Der Arzt hatte ihr letzte Woche Omeprazol und Antibiotika gegen ihre Magenschleimhautentzündung verschrieben. Sie hatte die Tabletten auch direkt aus der Apotheke um die Ecke mitgebracht, doch ihr Homöopath hatte ihr davon abgeraten. Das kann man auch mit Tees bereinigen, hatte er gesagt, und so trank Frau Schuhmacher nun ihren täglichen Flüssigkeitsbedarf in Anis-Kümmel, Fenchel, oder Pfefferminz. Sie fand, dass es auch täglich besser geworden war, doch heute Abend war es wieder besonders arg. Es war schon über Stunden schlimmer geworden, geduscht hatte sie, eine Wärmflasche danach auf den Bauch und die Beine an ihrem Lieblingsplatz am Fenster hochgelegt. Doch nichts hatte geholfen, und so hatte Frau Schuhmacher beschlossen sich noch einen letzten Tee zu machen und ins Bett zu gehen.
Eine leichte Erschütterung aus dem oberen Stockwerk riss Frau Schuhmacher aus ihren Gedanken. Das hatte sie schon ganz verdrängt, das Fräulein Stöckel, das über ihr wohnte. Die ganze Woche schon hatte diese Person sie abends zur Weißglut getrieben. Den ganzen Tag Ruhe und abends dann immer dieser Radau. Da, jetzt ging die Madame ins Badezimmer, Frau Schuhmacher konnte es genau an den Schritten über ihr hören. Wasserhahn an, aus, und ein paar Minuten Ruhe. Jetzt ging’s in die Küche, hin und her. Die Stöckel stöckelt in ihren Stöckelschuhen, dachte Frau Schuhmacher grimmig. Sie hob den Teebeutel aus der Tasse, schaute zu, wie er sich im Kreis drehte und Tropfen zurück in die Tasse fielen. Dann schmiss sie den Beutel in den Mülleimer. Doch selbst diese kleine Bewegung verursachte einen brennenden Schmerz unter ihrem Rippenbogen, so dass sie sich gekrümmt auf die Küchenzeile stützen musste. Indes drang das Schaben eines Stuhls zu ihr hinunter. Oh, diese Person! Nichts als Partys im Kopf, jeden Abend aus und erst in den frühen Morgenstunden heimkommen. Kein Wunder, dass sie allein wohnte. Wäre das ihre Tochter, dann hätte sie sie auch rausgeschmissen. Bei so einem Verhalten helfen oft nur drastische Maßnahmen. Wer weiß, womit sie diesen Lebenswandel jetzt finanzierte, vielleicht war sie sogar eine von diesen, diesen Bordsteinschwalben. Bei dem Gedanken nahm sich Frau Schuhmacher vor, das Fräulein Stöckel noch etwas genauer zu beobachten. Nicht, dass da über ihr noch ein unlauteres Gewerbe eingerichtet wurde...
Sie hob ihre Tasse an und wandte sich zur Tür. Das erneute Schaben des Stuhls ließ sie so sehr erzittern, dass sie etwas Tee verschüttete. Jetzt reichte es ihr. Sie setzte die Tasse wieder ab, holte ihren Besen hinter der Tür hervor und hieb den Stiel mehrmals gegen die Zimmerdecke. Dann wartete sie und lauschte. Da, verhaltene Schritte über ihr, und schon schoss der Besenstiel an die Decke, genau da, wo die Füße von Frau Stöckel aufsetzten. Frau Schuhmacher lauerte. Es war eine Weile ganz still, doch dann drangen erneut Schritte zu Frau Schuhmacher herunter, diesmal aus dem Flur, und auf jeden Fall jetzt auch mit Schuhen. Frau Schuhmacher ging, Besen errichtet, ebenfalls in den Flur und fuhr mit ihrem Feldzug fort: Ein Schritt, ein Besenhieb, ein Schritt, ein Besenhieb, bis zur Eingangstür.
Dann hörte Frau Schuhmacher, wie die Tür oben auf und wieder zu ging, ein Schlüssel im Schloss, und Getrappel im Treppenhaus. Und dann war endlich Ruhe.
Frau Schuhmacher, senkte den Besen.
Sie tat einen Schritt zur Küche, um ihren Tee zu holen, doch soweit kam sie nicht mehr. Die Schmerzen im Oberbauch waren so plötzlich wieder da, wie sie heftig waren. Sie klappte vornüber, ihre Knie gaben nach und der Besen fiel klappernd zu Boden. Gekrümmt lag Frau Schuhmacher in ihrem Flur.
„Hilfe,“ kam es schwach aus ihrem Mund. Doch selbst wenn sie hätte lauter Schreien können, so war niemand da, der es hätte hören können. Herr Sommer gegenüber war kürzlich verstorben, Frau Semmelmeyer darüber war mit Mann und Kind über‘s Wochenende an die Ostsee gefahren, und das Fräulein Stöckel hatte soeben das Haus verlassen.
Mit letzter Kraft schob sie sich Stück für Stück über den Boden. Da war ihr Telefon, auf dem Kaffeetisch. Nur noch ein kleines Stückchen. Das Telefon fiel ihr auf den Kopf, als sie danach tastete, doch der Schmerz war nichts gegen das Brennen, das sich nun zwischen ihren Schulterblättern ausbreitete.
Zittrig wählte sie den Notruf.
Als Frau Schuhmacher am nächsten Morgen erwachte, konnte sie sich nur verschwommen an die Begebenheiten der letzten Nacht erinnern. Sie hob vorsichtig ihren Arm und begutachtete den durchsichtigen Schlauch, der aus ihrer Armbeuge ragte und zu einem Tropf führte. Die Schmerzmittel, die in ihrem Körper zirkulierten, gaben ihr ein wohliges Schweregefühl. Sie konnte von ihrem Krankenbett den Parkplatz des Krankenhauses sehen. Gerade sprang ein Mann aus seinem Auto umrundete es und schaffte es gerade noch seiner hoch schwangeren Frau die Hand zu reichen, bevor diese von einer Wehe gepackt sich vornüber beugte. Dann war die Wehe vorbei und das Paar verschwand aus Frau Schuhmachers Blickfeld, doch schon geschahen die nächsten aufregenden Dinge: ein Beinah-Auffahrunfall; ein älterer Herr in offenem Krankenhauskittel, der von ein paar Sicherheitskräften eingefangen und wieder zurück ins Krankenhaus geführt wurde; ein paar Frauen, die sich rauchend hinter einem Baum versteckten. Frau Schuhmacher fühlte sich fast wie zu hause.
Mit dem Frühstück kam eine ganze Schar Krankenschwestern ins Zimmer. Überrascht sah sich Frau Schuhmacher dem Fräulein Stöckel gegenüber.
„Guten Morgen, Frau Schuhmacher,“ grüßte Frau Stöckel freundlich. „Wie geht es ihnen heute?“
„Gut, gut,“ krächzte Frau Schuhmacher.
„Gut,“ lächelte Frau Stöckel. „Wir haben Schichtwechsel und ich wollte sicherstellen, dass die Schwestern über alles informiert sind. Ich bin dann wieder heute Nacht für sie da.“ Frau Stöckel wendete sich den anderen Schwestern zu. „Frau Schuhmacher ist gestern Nacht mit einer Magenperforation eingeliefert worden. Die Not-Operation verlief ohne Komplikationen und die Patientin wird nun noch einige Tage mit Schonkost zur Nachuntersuchung hier bleiben.“
Frau Stöckel wartete, als die Delegation wieder das Zimmer verließ.
„Es tut mir leid, wenn ich sie nachts störe. Ich versuche immer so still wie möglich zu sein.“
„Das ist schon in Ordnung,“ antwortete Frau Schuhmacher großzügig.
„Ich bekomme nächste Woche Teppichboden, das sollte etwas helfen. Und hier ist meine Telefonnummer, falls sie nochmal Hilfe brauchen.“