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SS Leviathan
Das Geheimnis der SS Leviathan
Am 26. März 1867 verließ der französische Schriftsteller Jules Verne an Bord der ‚Great Eas-
tern‘ den Hafen der nordenglischen Stadt Liverpool. Seine Seereise führte ihn nach New York.
Während der Passage beeindruckte das größte Schiff des 19. Jahrhunderts dermaßen den bekann-
ten Autor, dass dieser daraufhin den Roman ‚Die schwimmende Stadt‘ verfasste. Detailreich be-
richtet er in dem Werk vom Innenleben dieses Ozeanriesen, seiner wechselhaften Geschichte und
auch von den zahlreichen Unglücken, die dieses Schiff während seiner gesamten Existenz be-
gleiteten. Ein Verbrechen jedoch geschah unbemerkt, denn dessen Opfer barg der stählerne Dop-
pelrumpf in sich.
*
Im Frühsommer 1855 kehrte Hendrik Lowell nach England zurück. Im Hafen von London ver-
ließ er sein Schiff, welches ihn von Frankreich über den Kanal gebracht hatte. Er stand auf dem
Kai, blickte nach Nordwest und konnte bereits sein Ziel am Ufer der Themse ausmachen, denn
die riesige Baustelle war kaum zu übersehen. Der junge Dampfmaschinenbauingenieur mietete
zwei Träger für seine beiden Reisekoffer und wuchtete sich seinen schweren Gepäcksack auf den
Rücken, obwohl er merklich hinkte. Mit einer Droschke wollte er sich nicht zu seiner Pension
fahren lassen, obwohl dies seinem Stand entsprach, denn er war zum Arbeiten zurückgekommen.
Am nächsten Morgen stand er zeitig auf und machte sich früh auf den Weg zu seiner neuen An-
stellung. In der Nähe des noch verschlossenen Tors zum Werftgelände wartete er und blickte
staunend hinüber zu dem hoch emporragenden Rumpf des Schiffs.
„Hey! Das gibt’s doch gar nicht! Hendrik Lowell!“, rief William Holsworthy überrascht, als er
seinen alten Studienfreund auf der Straße vor der Fabrikmauer erblickte. „Was machst du denn
hier?“
„Das Gleiche frage ich dich!“, retournierte der verblüffte Mann und reichte mit großer Wieder-
sehensfreude seinem Gegenüber die Hand.
„Na, dann antworte ich zuerst“, lachte Holsworthy und legte den rechten Arm um die Schultern
seines früheren Kommilitonen, um ihn auf der Straße lang näher zum Eingang des Firmengelän-
des zu führen, „ich arbeite hier!“
„Du baust auch am Schiff? Wie lange schon?“
„Seit Kiellegung! Ich bin verantwortlicher Ingenieur für den Rumpf. Übrigens ist mein Chef
immer noch auf der Suche nach tüchtigen Akademikern für den Einbau der Dampfkessel und der
Konstruktion des Antriebs!“
„Darum bin ich ja jetzt hier. Ich habe mich vor einem Monat schriftlich beworben und bin sofort
eingestellt worden!“
„Fein, dann sehen wir uns endlich wieder öfter und können von den guten alten Zeiten in Oxford
klönen! Ich schlage vor, wir treffen uns regelmäßig sonntags vormittags im ‚Potters Inn‘. Dieses
Lokal ist ein feiner Ort und gar nicht weit von hier! Komm jetzt! Ich zeige dir noch den Weg
zum Chefbüro, bevor ich aufs Gerüst steigen muss.“
*
Isambard Kingdom Brunel beschrieb den neu eingestellten Ingenieuren seine Pioniertat ausführ-
lich und erläuterte akribisch die Baupläne. Er skizzierte das Projekt mit großer Begeisterung,
aber nie angeberisch: “Die SS Leviathan, ‘mein großes Baby’ wie ich es liebevoll nenne, wird
das erste gänzlich aus Stahl gebaute Schiff der Welt sein. Dadurch wird es zum Beispiel in der
Lage sein, bis nach Australien zu schippern, ohne unterwegs Kohle bunkern zu müssen! Seit
1854 ziehen wir mit tausenden von Arbeitern den doppelbödigen Rumpf hoch, umschlossen von
der doppelten Schiffswand, wobei der Abstand zwischen Außen- und Innenbord knapp ein Yard
beträgt.“
(1 Inch = 2,54 cm / 12 Inch = 1 Foot = 30,48 cm / 3 Foot = 1 Yard = 91,44 cm)
Dann winkte er seinen neuen Angestellten, ihm zu folgen und im Nebenraum versammelten sie
sich um ein Modell des Schiffes. Fast zärtlich fuhr er mit den Fingern über die Stellen, die er
gerade beschrieb: „Der fertige Dampfer, bestehend aus zwölf wasserdichten Abteilungen, misst
dann 229 Yards und 2 Foot in der Länge, 27 Yards und 2 Foot in der Breite und mit 18915
Bruttoregistertonnen beträgt der Tiefgang 8 Yards und 19 Inches. Um sicherzugehen und alle
Möglichkeiten auszuschöpfen, werden drei Fortbewegungssarten installiert: Heckschrauben- und
Seitenradantrieb sowie Aufbauten für die gute alte Windnutzung. Auf sechs Masten kann eine
Segelfläche von maximal 6518 Yards im Quadrat gesetzt werden. Zwei oszillierende Dampf-
maschinen treiben die Schraube mit 4900 PS und die Seitenhebelmaschine für die 18 Yards 2
Foot durchmessenden Schaufelräder mit 3400 PS an. Diese Kraft von insgesamt 8300 PS werden
wir im Maschinenraum mit 10 Kesseln und 100 Feuerstellen erzeugen, wobei der Rauch durch
fünf mächtige Schornsteine abziehen kann. Damit können wir das Schiff auf eine Geschwindig-
keit von 13,5 Knoten bringen. Maximal 596 Passagiere werden wir in Kabinen und weitere 2400
im Zwischendeck unterbringen und natürlich haben wir für die Reisenden in der ersten Klasse
das Beste vom Besten zu bieten, wie zum Beispiel Gasbeleuchtung!“
Mr. Brunel lächelte versonnen vor sich hin und resümierte mit verhaltener Euphorie: „Die ‚SS
Leviathan’ wird ein technisches Wunder aus Eisen werden, seiner Zeit weit vorauseilen, ein
schwimmendes Herzstück britischen Glanzes sein und sichtbares Zeichen für die Prachtentfal-
tung des Empires!“
*
Hendrik Lowell fand sich dank der präzisen Anweisungen seines neuen Chefs und aufgrund
seiner eigenen fundierten Kenntnisse gut zurecht, fing sofort Feuer und arbeitete sich mit stei-
gendem Eifer in diese neue riesige Dimension des Dampfmaschinenschiffbaus ein.
Nach der ersten für ihn sehr harten Sechs-Tage-Woche mit den üblichen zweiundsiebzig ohnehin
anstrengenden Arbeitsstunden trafen sich die beiden Freunde, wie verabredet, sonntags morgens
im ‚Potters Inn’, um sich von dem Stress bei einigen Pinten ‚Guiness’ zu erholen.
„Du humpelst?“, empfing ihn Holsworthy neugierig, der im Sonntagsstaat des typischen engli-
schen Gentleman bereits an der Bar stand.
„Letztes Jahr wurde ich bereits zu Beginn der Belagerung von Sewastopol schwer verwundet.“
„Du hättest auch im Lazarett sterben können, bei den Zuständen dort …“
„Ich hatte Glück, Florence Nightingale persönlich hat mich gepflegt und …“
Holsworthy begann frech zu grinsen und stichelte freundschaftlich: „Kein Wunder! So wie du
aussiehst!“
„Ach was!“, protestierte Lowell und wurde rot im Gesicht, obwohl er keinen Anlass dazu hatte.
„Jedenfalls war der Krimkrieg für mich damit zu Ende und ich kam nach Paris zu meinem
Oheim in Pflege. Dann habe ich mich hier beworben.“
„Wunderbar. Nun werden wir gemeinsam ein Ding erschaffen, was fünfmal größer ist als alles
bisher da Gewesene!“
„Wohin hat es dich eigentlich nach dem Examen in Oxford verschlagen?“, fragte nun Hendrik
Lowell.
„Dass ich nach London gehen wollte, um mir noch drei Jahre lang auf einer Werft handfeste Er-
fahrung anzueignen, weißt du doch!“, antwortete William Holsworthy. „Als diese Praxiszeit dem
Ende zu ging, sprach mich Mr. Brunel von der Nachbarwerft Scott, Russell & Co. in Milwall an
und warb mich für den Bau dieses Dampfschiffsriesen ab. Das war leicht für ihn, denn ich war
sofort von dem Vorhaben fasziniert und Isambard Brunel hatte mit dem Bau der Schiffe ‚PS Gre-
at Western’ und ‚SS Great Britain’ bereits bewiesen, dass er einer der besten Schiffbauingenieure
unserer Zeit ist, wenn nicht der genialste überhaupt!“
„Ja! Es ist bewundernswert, wie er diese Aufgabe angeht!“
„Ja, dann sieh zu, dass du diesem Ding auch genug Dampf machen kannst, damit es überhaupt
vorwärtskommt“, frotzelte Holsworthy seinen Freund.
„Keine Sorge! Ich weiß viel über den Dampf und dessen Kraft! In Paris, während meiner Ge-
nesung, bildete ich mich weiter.“
„Paris! Ich träume von einer Reise dorthin!“
„Das glaube ich dir! Sie ist ja die Stadt der Liebe, nicht wahr, mein Guter?“, spöttelte jetzt Lo-
well.
Jetzt war es Holsworthy, der rot anlief und sofort abzulenken versuchte: „Hast du Dumas kennen
gelernt?“
„Dumas? Den älteren oder den jüngeren? Nein, dazu ist es nicht gekommen. Aber im Salon
meines Onkels lernte ich durch meine Vorträge über Dampftechnik einen ganz jungen Burschen
kennen. Dieser Jules Gabriel Verne aus Nantes erzählte uns phantastische Geschichten. Ein span-
nendes Werk – es heißt ‚Eine Überwinterung im Eis‘ – hat er bereits geschrieben. Ich habe dieses
Buch bei mir, sogar mit einer Widmung von ihm. Das leihe ich dir!“
„Gern, ich mag fantasievolle Geschichten, am liebsten, wenn es mit Dampf in die Luft geht oder
unters Wasser.“
„Wart’s nur ab! Er ist fest entschlossen, Romancier zu werden. Seine Bücher werden wir be-
stimmt mögen!“, prophezeite Lowell. „Sobald wir hier fertig sind, werde ich dich mit nach Paris
nehmen und dann lernst du ihn auch kennen. Und was das dortige Nachtleben angeht, werden
wir …“
„Ohne mich, Hendrik! Ich bin vergeben!“
„Echt, William? Was Ernstes?“
„Ja, ich bin hoffnungslos verliebt!“, lächelte Holsworthy, aber sein Gesicht verwandelte sich un-
vermittelt und er blickte ernst und sorgenvoll drein: „Hast du schon unseren Zahlmeister kennen
gelernt?“
„Meinst du den stattlichen gut gekleideten Mann, der häufig in der Nähe von Mr. Brunel ist und
mit ihm über die finanziellen Angelegenheiten spricht?“
„Ja, der mit dem mokanten Lächeln und dem hinterhältigen Blick ist das. Habe ein bisschen Acht
auf ihn und berichte mir sogleich, wenn dir etwas an ihm auffällt!“
„Warum das denn? Der Bursche ist mir zwar nicht ganz geheuer, aber das kann uns doch egal
sein. Hauptsache die Zahl der Scheinchen in unseren Gehaltstüten stimmt.“
„Nein, nicht ganz, mir kann er nicht gleichgültig sein.“
„Wieso denn nicht?“
„Parker wurde als einer der leitenden Ingenieure eingestellt, war dieser Aufgabe aber nicht ge-
wachsen. Aber weil er mit Mr. Russell, dem Geschäftspartner von Mr. Brunel, eng verwandt ist,
konnte dieser ihn nicht feuern, sondern musste ihn sogar zum Leiter der Zahlmeisterei ‚beför-
dern’. Ich bekam Parkers Posten, den er mir missgönnt, denn er denkt, ich hätte ihn daraus ver-
drängt. Was natürlich gar nicht stimmt. Doch so einer sucht die Schuld immer nur bei Anderen.
All‘ das wäre für ihn noch zu ertragen, nehme ich an, aber ich kenne seine Verlobte. Du hast sie
übrigens auch schon einmal gesehen. Bei unserem letzten gemeinsamen Boat Race gegen Cam-
bridge im Jahr 1859 hat sie uns am Ufer der Themse für unseren Sieg geehrt.“
„Ich erinnere mich, ja. Unser großes Rennen – ich habe mir fast die Lunge aus dem Leib ge-
rudert. Für diese Anstrengung hätte ich lieber sie als Preis gehabt!“
„Untersteh’ dich, mein Freund! Sie ist mein!“
„Wieso denn? Sie doch mit Mr. Parker verlobt und …“
„Ja, ja, schon. Aber ich habe sie hier wieder gesehen und weiß seitdem, ihr Herz schlägt nun für
mich. Ich bin mir daher sicher, dass sie einwilligt, wenn ich nach Vollendung des Schiffes um
ihre Hand anhalte.“
„Na, dann gratuliere ich schon mal! Aber das wird wohl erst in zwei bis drei Jahren sein, denn
wir haben ja gerade erst den Rumpf geschafft. Wie heißt der Zahlmeister genau?“
„Jonathan L. Parker-Russell!“
„Weiß er, dass er einen Nebenbuhler hat?“
„Bestimmt, wir waren leider etwas unvorsichtig!“
„Dann kann ich mir gut denken, dass dieser Bursche nicht gut auf dich zu sprechen ist. Ich passe
auf ihn auf, deinetwegen.“
*
Den folgenden Samstag ging Hendrik Lowell auf dem Hochgerüst der Baustelle auf die Suche
nach seinem Freund. Es war früher Abend und die Arbeitswoche zu Ende. Spontan war sein Ent-
schluss entstanden, den Kumpan mit in die Verlockungen des Londoner Nachtlebens hineinzu-
ziehen. Als er schon mehr als das halbe Schiff abgeschritten hatte, sah er seinen Kollegen auf
dem letzten Stück des Doppelrumpfes stehen. Er steckte in der staubigen schwarzen Kluft eines
Nieters und hielt in seinen Händen einen schweren Hammer und einen riesigen Schraubschlüs-
sel.
„Hey, William! Bist du taub? Die Feierabendsirene hat längst geheult! Ich dachte mir vorhin,
dass wir heute Abend London unsicher machen. Los! Komm schon!“
„Daraus wird leider nichts, mein Lieber. Ich mache heute Abend die Endabnahme von dem
Rumpf.“
„Jetzt noch? Spinnst du? Sieh dich um! Du bist der letzte Mensch auf der Baustelle!“
„Eben darum. Nur jetzt ist es still genug, um da unten drin zu hören, ob das Material in Ordnung
ist und die Schrauben fest genug angezogen sind.“
„Ach was, die Leute hier haben gute Arbeit geleistet. Wir gehen …“
„Nein, nein. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Außerdem bin ich für den Rumpf verantwort-
lich. Mach’ dir also einen schönen Abend. Auf ein andres Mal …“
„Nee, nee, ich lass dich doch nicht allein da runter. Außerdem reizt es mich, einmal in den Bauch
dieses Schiffes zu klettern. Sonst bin ich ja nur im Büro oder beim Antrieb.“
„Von mir aus. Am Gerüst da hinten hängen noch Klamotten von einem anderen Nieter. Denn die
guten Sachen, die du jetzt anhast, werden da unten vollkommen verdreckt. Zieh’ dich also um,
ich warte so lange.“
Hastig wechselte Lowell seine Kleidung, kletterte eilig zu seinem Freund zurück und nahm ihm
den schweren Schraubschlüssel ab, damit dieser, mit dem Hammer in der Linken, in die Doppel-
wand einsteigen konnte. Die Leiter ragte etwa zwei Yards lang aus dem Rumpfloch heraus und
verlor sich in der undurchdringlichen Tiefe des Schlunds, dessen Öffnung eine Größe von etwa
einem Yard im Geviert hatte. Die schwere Stahlplatte, die nach der Inspektion als Abschluss auf-
geschraubt werden sollte, stand daneben hochkant am Gerüst und darauf in einer stabilen Holz-
kiste mit Tragegriff befanden sich die großen Bolzenschrauben und zwei ebenfalls mächtige ei-
serne Schraubschlüssel. Mit nun doch etwas mulmigem Gefühl stieg Lowell nach und war über-
rascht, wie tief er hinabsteigen musste. Als er schon zwanzig Sprossen gezählt hatte, rief er
hinunter: „Wie tief ist es denn noch?“
„Keine Sorge, ich bin schon am Boden angelangt!“, kam es in beruhigendem Ton zurück.
Aber Lowell musste noch zwanzig Mal nach dem nächsten Tritt tasten, ehe auch er mit einem
hallenden Echo von der Leiter auf den Boden stieg.
„Achtung!“, flüsterte Holsworthy, damit es nicht so laut schallte, „hier auf dem Boden stehen
zwei Grubenlampen, die ich vorhin schon herabgelassen habe.“
Lowell hörte ihn an die erste Lampe stoßen, an ihr herumhantieren und dann sah er im heller
werdenden Licht zum ersten Mal die Wände. Unwillkürlich streckte er beide Arme nach ihnen
aus und spürte die Kälte des Stahls. Der Abstand der beiden Wände des Doppelrumpfs zueinan-
der betrug exakt 2 Foot und 9,5 Inches (85 cm). Wie eng einem doch ein immerhin fast ganzes
Yard erscheinen konnte! Als er nun hochsah, konnte er nur noch ein kleines helleres Viereck aus-
machen, welches den Weg ins Freie wies. Er holte tief Atem: „Mann, o Mann, bringen wir’s
hinter uns. Das mache ich bestimmt nicht noch einmal.“
„Ach was“, wisperte Holsworthy gelassen, „das ist mein letzter Abschnitt von vielen. Es ist noch
nie was passiert und ich war auch beim Ausstieg immer locker. Komm schon, wir gehen zum
Anfang!“
Der Bauingenieur ging, seine Lampe hoch emporhaltend, den schmalen stahlwandgesäumten
Weg voran, bis er nach etwa fünfzig Schritten zum Ende dieses Abschnittes kam, der durch eine
eiserne Mauer zwischen den beiden Schiffborden abgeschlossen wurde.
„Dahinter habe ich schon inspiziert“, bemerkte Holsworthy, stellte seine Lampe auf den Boden
und begann, die ersten Schraubenköpfe zu prüfen. Er setzte jeweils den Schlüssel quer an und
schlug mit dem Hammer auf den Schlüsselhals. Zumeist gaben die Bolzen nicht den geringsten
Ruck mehr nach. Aber ein Gewinde musste doch eine Achtelumdrehung fester gehämmert
werden. Holsworthy drehte sich zu Lowell um, der ihm leuchtete, und murmelte befriedigt: „Na,
siehst du! Da war doch noch ein Bolzen locker und …“
Weiter sprach er nicht, denn ein scheuerndes Geräusch in kurzen Abständen drang an ihre Ohren
und sie sahen sich überrascht an.
„Was ist das denn?“, wollte Holsworthy wissen.
„Pscht!“, machte Lowell und horchte angestrengt. Dann zupfte er entsetzt seinen Kameraden am
Ärmel und schrie auf: „Das ist die Leiter! Jemand zieht an der Leiter!“ Dann brüllte er aus
Leibeskräften schräg in die Höhe: „Hier ist noch jemand! Runter mit der Leiter! Runter!“
Mit hallendem Geschrei stolperte er zum Anfang des Gangs zurück, den entsetzten Holsworthy
direkt hinter sich, den ebenfalls mit vollster Lungenkraft hinaufrief. Weiterhin brüllend, die
Grubenlampen schwenkend, sahen sie, wie das letzte Stück der Leiter aus der Luke verschwand.
Als die Beiden schwer atmend Luft holen mussten, hörten sie ein metallen kratzendes Geräusch.
„Die Luke!“, keuchte Holsworthy entsetzt, „das ist der Deckel, der da zur Öffnung gezogen
wird!“
„Menschenskind, sind die denn taub da oben?“ Lowell riss Holsworthy den Hammer aus der
Hand und hieb diesen mit aller Wucht abwechselnd auf die drei Wände, „das muss man doch da
oben hören! Das sind doch nur zwölf Yards! Hey, ihr da oben, hey! Wir sind doch noch hier!“
Als sie eine schemenhafte Gestalt sich an der Luke zu schaffen machen sahen, schrien sie noch-
mals aus vollem Halse, aber sie bekamen nur ein hallendes Aufschlagen und mehrfaches ruck-
artiges Scharren als Antwort und ein kantiger Gegenstand schob die Helle nach und nach aus der
Öffnung. Mit entsetzt geweiteten Augen starten die beiden Männer nach oben.
„Die Platte ist drauf!“, fand Holsworthy als Erster die Worte wieder, „das gibt’s doch nicht!
Hendrik, ich versuche den letzten Ausweg. Ich robbe mich an den Wänden hoch und versuche
die Platte wegzuschieben!“
Lowell unterstützte seinen Freund die ersten beiden Meter nach oben, dann sah er ihn aus dem
Lichtkreis seiner Lampe verschwinden und hörte nur noch das heftige Keuchen und das hastige
Rutschen seiner Hände, Füße und des Rückens. Auf Holsworthys Weg nach oben hörten beide,
wie der erste Bolzen in die Platte gedreht wurde und weitere in schneller Folge. Ein regelmäßi-
ges Ratschen ließ verlauten, dass die erste Eisenschraube durch die Platte gedreht, im Schiff-
rumpfgewinde eingekommen war und sich nun darin festzog.
Holsworthy war oben angekommen, hämmerte und drückte mit seiner rechten Faust verzweifelt
unter die Platte, schrie zum Erbarmen. Doch als Antwort kam nur das Knirschen der sich festdre-
henden Bolzen.
Holsworthys Kräfte ließen rapide nach, er konnte sich nicht mehr durch Drücken in der Höhe
halten, rutschte immer schneller ab und fiel dann mehr als er abglitt. Sein Warnschrei verhin-
derte, dass er auf Lowell stürzte und obwohl dieser trotzdem noch versuchte, den aus der Finster-
nis herabrauschenden Freund abzufangen, überlastete dieser beim Aufprall sein linkes Bein. Der
Oberschenkelknochen zerknackte ob dieser Wucht und William Holsworthy heulte vor Schmer-
zen auf. Wimmernd lag er im Winkel und beide stierten sich im Lichte von Lowells Gruben-
lampe ungläubig an.
„Hendrik!“, stöhnte Holsworthy verzweifelt auf, „das kann doch alles gar nicht wahr sein?“
Aschfahl antwortete sein Freund: „Ich fürchte, William, das war gar kein Zufall!“
*
Am folgenden Montag, gegen zehn Uhr wie üblich, betrat Jonathan Parker das Büro von Isam-
bard Kingdom Brunel, um mit ihm den Ablauf der Woche zu besprechen. „Guten Morgen, Mr.
Brunel, wie war das Wochenende?“
„Gut, blendend! Ich habe wieder einige Eingebungen gehabt und das gestrige Treffen mit Lon-
dons Major hat meinem Projekt mit Sicherheit weitergeholfen.“
„Das sind gute Nachrichten, Mr. Brunel. Leider kann ich nicht mit Gleichem dienen.“
„Wieso nicht?“
„Tja, es geht um zwei von unseren Ingenieuren.“
„Wie, was ist mit denen?“
„Sie haben heute Morgen ihren Dienst quittiert.“
„Was? Das gibt es doch gar nicht! Ingenieure, die an so einem Schiff bauen, gehen nicht eher, bis
es fertig ist.“
„Leider doch.“
„Wer denn überhaupt?“
„William Holsworthy und Hendrik Lowell.“
„Was? Zwei meiner besten Leute! Das kann einfach nicht wahr sein!“
„Leider doch. Schauen sie auf die Quittungen! Beide haben sich vollständig ausbezahlen lassen
und auch den Empfang ihrer Papiere mit ihrer Unterschrift bestätigt. Bitte sehr, sehen sie selbst.“
„Ach was. Das lese ich doch nicht auch noch. Unglaublich ist das doch! Ja, warum haben sie
denn die beiden nicht aufgehalten, sofort zu mir geschickt, ihnen mehr Geld geboten? Zum
Donnerwetter noch mal!“
„Habe ich doch!“ Parker blickte so beleidigt, wie es nur ging, „habe ich doch alles versucht. Sie
ließen sich durch nichts aufhalten. Lowell wollte auf der Stelle nach Paris, offensichtlich einer
Weibergeschichte wegen. Und Holsworthy partout mit, weil er ja mit seiner Arbeit fertig sei,
denn er habe die letzte Platte des Rumpfes an Ort und Stelle persönlich festgeschraubt.“
Nach diesen letzten Worten sah der Zahlmeister mit einem verdeckten lauernden Blick zu Brunel
hinüber. Jedoch fiel diesem im aufkeimenden Ärger über diese charakterlosen Ingenieure deren
merkwürdige Betonung nicht auf.
*
Die Nacht zum Sonntag hatten die beiden Ingenieure zumeist in stummer Trostlosigkeit ver-
bracht und begannen bereits abzuwägen, welche Todesart denn die mildeste sei: verdursten, ver-
hungern, ersticken oder erfrieren, als Lowell Holsworthys Hoffnung mit dem Hinweis weckte,
dass sie nur noch bis Montagmorgen durchhalten müssten, bis die Männer wieder auf die Bau-
stelle kämen und sie sich durch heftiges Hämmern bemerkbar machen könnten. Nur müsse dies
rechtzeitig geschehen, bevor der allgemeine Baulärm einsetze.
*
„Morjen!“, muffelte Norman Shaft seinen Kumpan Walt Morgan an, als sie sich auf der Baustelle
trafen, „ausjepennt?“
„Nä, woher denn?“, raunzte dieser zurück, „auuh, mein Kopp!“
„Auch zu tief ins letzte Glas rinjekuckt, wa?“, griente Shaft mit nachsichtig verkniffenem Ge-
sicht. Morgan nickte griesgrämig – so fing jede Arbeitswoche der Beiden an.
Seufzend machten sie sich auf den Weg zu ihrer aufgehängten Arbeitskleidung.
„Hey, das gibt’s doch gar nicht. Wo sind se denn?“ staunte Walt Morgan, „hat doch tatsächlich
einer unsere Sachen jeklaut!“
„Komisch,“ schüttelte Norman Shaft verwundert den Kopf, „der Herr Ingenieur hat sonst die
Sachen immer wieder hingehängt!“
„Hä?“
„Der hat doch noch die Endabnahme gemacht, nachdem wir Feierabend hatten. Dann borgt er
sich immer meine Sachen aus und hängt sie mit einigen Cents in die Tasche wieder hin.“
„Und nun?“
„Tja, das hat wohl dieses Mal nicht hingehauen.“
„Und warum sind dann meine Sachen auch weg, hä?“
„Keine Ahnung, Walt. Aber komm jetzt. Wir müssen runter, heute ist das erste Zwischendeck
dran.“
„Hey, Norman!“
„Ja, wat denn noch?“
„Hörst’e denn nicht?“
„Wat denn?“
„Dat Klopfen!“
„Klopfen? Hier? Den ganzen Tag, Mann! Und in der Nacht sausen mir die Ohren noch davon!“
„Nee, Mann. Das ist irgendwie komisch. Als wenn’s unter uns wär’.“
„Unter uns? Im Rumpf? Spinnst du? Guck doch! Der letzte Deckel dahinten ist drauf und fest
und …
… ui, ui, Walt, wir hauen besser ab an die Arbeit. Da hinten kraxelt doch tatsächlich der Parker
hier hoch …“
„Wer? Der Zahlmeister etwa? Was hat denn der hier verloren?“
„Das frag’ ich mich auch, aber …“
„Was habt ihr hier noch suchen? Ihr fangt doch heute auf dem Unterdeck an!“, schnauzte der
herangekommene Mann die beiden sofort an.
„Äh, wir wollten nur unsere Klamotten holen und dann runter …“, begann Norman Shaft, sich
zu rechtfertigen.
Walt Morgan fiel ihm ins Wort: „… aber die sind weg und jetzt haben wir so ein komisches Ge-
räusch gehört und …“
„Namen!“, kommandierte Parker abrupt und sah dabei Morgan stechend an.
„Walt! Äh, Walt Morgan“, und als Parker eine fragende Kopfbewegung zu Shaft hin machte,
fuhr er stotternd fort, „Norman! Äh, Norman Shaft ist das hier und …“
„Sofort!“, befahl der Zahlmeister den beiden eingeschüchterten Männern. „Auf der Stelle runter
an euren Arbeitsplatz! Wenn ich euch noch einmal an einer Stelle erwische, wo ihr nichts zu
suchen habt, dann streiche ich euch sofort von der Lohnliste! Klar? Ab!“
Während sich die beiden Werftarbeiter eiligst davon machten und abstiegen, ging Parker betont
gelassen weiter, bis er auf die Abschlussplatte trat, dort stehen blieb und sich um seine Achse
drehend die Baustelle besah. Dann verharrte er still auf dem Viereck und versuchte, sich nichts
anmerken zu lassen, denn er spürte ein rhythmisches Hämmern unter seinen Füßen, dessen Vib-
rieren ihm in die Beine stieg und sich in seinem von schlaflosen Nächten gemarterten Geist ein-
nistete.
Hol sie raus!, flüsterte sein in den hintersten Winkel seines Gehirns gedrängte Gewissen, noch
bist du kein Mörder! Hol’ sie raus und lass’ sie versprechen, kein Wort zu sagen! Schraub auf!
Lass hier alles stehen und liegen – fang woanders neu an!
Er straffte seinen Körper, holte tief Luft und schüttelte dann unwillig seinen Kopf. Dieser füllte
sich mit seinem Hass, von dem er sich willentlich überfluten ließ: Welche Demütigungen habe
ich durch Holsworthy erfahren! Und wofür habe ich mir die Mühe gemacht, ihre Kleidung zu
durchsuchen, die Schlüssel zu ihren Zimmern zu finden, in ihre Gewänder gehüllt dort einzudrin-
gen, all ihre Habe in deren Koffer zu packen, die ausstehende Miete, über deren Höhe ich mich
frühzeitig erkundigt habe, mit einem beiliegenden Abschied nehmenden Notizzettel zu hinter-
lassen und letztendlich das Ganze in der Themse zu versenken? Und dann auch noch zwei, statt
wie erwartet, nur einer!
Wieder fest entschlossen senkte er seinen Kopf zur Platte hin: Verrecken sollt ihr! Beeilt euch
ein bisschen, damit ich endlich meine Ruhe habe!
Nun wurde es so laut, dass er beruhigt die Baustelle verlassen konnte. Beim Abstieg auf der
Leiter zum Zwischendeck nahm er sich noch vor, ein wachsames Auge auf die beiden Arbeiter
zu haben.
*
In ‚Barkers Hole’ war Norman Shaft beim vierten Glas des hier exklusiv ausgeschenkten bier-
ähnlichen Gesöffs ‚Barkers Only Brewed Ale’ angekommen, als er Walt Morgan mit dem Ellbo-
gen anstieß und ihm mit Bestimmtheit mitteilte: „Walt, ich geh‘ jetzt aufs Schiff und seh’ nach!“
„Waaas! Norman, bist du bekloppt? Erstens siehst’e nix und zweitens riskierst du deinen Job,
wenn ’ne Wache dich erwischt!“
„Neee! Erstens bin ich mir sicher, dass da was faul ist und zweitens ist der Mond fast voll und
die Wachen auch! Wetten, dass der Ingenieur noch da drin ist! Und, warum wohl, war der Parker
dort, wo er überhaupt nichts zu suchen hat, he?“
„Du spinnst ja, sauf dein Zeugs aus und dann …“
„… gehen wir, richtig! Und zwar sofort zum Schiff. Du kommst mit! Keine Widerrede, ich
brauch’ dich! Los!“
Im Gefühl, ein richtiges Abenteuer zu erleben, schlichen sich die beiden braven Taglöhner auf
die Baustelle, kletterten die Leitern hoch und tasteten sich auf dem Gerüst entlang bis zur letzten
Platte. Shaft trug einen der mächtigen Schraubschlüssel und Morgan hatte einen schweren
Hammer mitgenommen, mit dem er nun sachte auf den eisernen Deckel klopfte, nach kurzer
Pause etwas fester. Inzwischen legte Shaft sein rechtes Ohr auf das kalte Metall. Auch Morgan
spürte durch seine aufgestützten Hände die Schläge, die als Antwort kamen und deren Schall in
Shafts rechtes Ohr drang.
Kaum noch überrascht blickten sich die beiden an, nickten sich entschlossen zu und flugs steckte
Shaft die Schraubschlüsselbacken um den nächsten Bolzenkopf, hämmerte mit Schlägen auf den
Schlüsselhals die Schraube locker und begann, den Bolzen herauszudrehen.
„Walt!“, kommandierte er seinem Kumpan, „da geht’s über zwölf Yards runter. Die Leitern, die
wir aufgestiegen sind, reichen dafür nicht! Steig’ wieder runter und schnapp dir eine von den
langen, die auf dem Unterdeck liegen, und stell’ sie hier an. Ich zieh’ sie dann hoch! Mach’
schon!“
Während Morgan davon eilte, drehte Shaft schon den zweiten Bolzen heraus und hörte unter sich
heftigeres Klopfen, das von einer offensichtlich lebhafter gewordenen und hoffnungsvoll er-
wachten Gestalt verursacht wurde.
Kurz danach vernahm Shaft einen dumpfen Bums, ein Klatschen von einem aufprallenden
Gegenstand und wunderte sich über den Krach, den sein Kumpel mit der langen Leiter da unten
machte. Doch nur zwei Minuten später sah er im Augenwinkel die Gestalt Morgans über das Ge-
rüst zurückkehren. Während er eifrig weitere Schraubenköpfe locker schlug, dachte er verärgert:
Was kommt dieser Idiot unverrichteter Dinge zurück? Der soll doch erst die Leiter hier anstellen
und dann …
Und dies waren die letzten Gedanken in seinem Leben, welchem der herabsausende Vorschlag-
hammer durch berstendes Eindringen in seinen Schädel ein Ende bereitete. Der sterbende
Norman Shaft sank in sich, knickte um und stürzte die Schiffinnenseite hinab auf das unterste
Deck und zerschmetterte dort wenige Yards neben seinem in einer Blutlache liegenden Kumpan
Walt Morgan.
Ächzend und tief verärgert ob dieser zusätzlichen Mühsal – denn jetzt musste er auch noch zwei
Leichen in der Themse versenken, das ganze Blut aufwischen, wieder zwei Zimmer räumen und
nochmals Quittungen fälschen – zog Parker die Schrauben wieder so fest zu, wie er nur konnte.
*
„Das, was uns hier geschieht, kann sich nur ein ganz perfider Geist ausgedacht haben!“, stöhnte
Lowell auf, nachdem sie minutenlang in stummem Schock verharrt hatten, als sie an den nach
kurzer Pause wieder einsetzenden Drehgeräuschen hörten und erkannten, dass diese nun die ent-
gegengesetzte wieder hineingehende Bewegungsrichtung der Bolzen verkündeten.
Holsworthy heulte voller Qual auf, denn die Schmerzen, welche die unversorgte Wunde ver-
ursachte, wurden immer schlimmer und er taumelte von einem fiebrigen Dämmer in den nächs-
ten. Nun brach auch sein Lebenswille: „Hendrik, ich kann einfach nicht mehr! Diese Qualen!
Bitte erweise mir den letzten Freundschaftsdienst und erschlage mich! Bitte!“
Lowell schluchzte wegen der grausigen Enttäuschung auf, schüttelte aber verneinend das tränen-
überströmte Gesicht, schlug in einer letzten verzweifelten Trotzhandlung den Hammer nochmals
wild an die eisernen Wände um sich. Als er nach stundenlangen ungezählten Versuchen nach
dem Verhallen immer wieder nur ihr eigenes keuchendes Atmen der stickigen Luft als Antwort
vernahm, nickte er nur noch ergeben im Licht des letzten kleinen Dochtes der Lampe, den sie
sich noch für alle Fälle aufgehoben hatten. Er sah zu, wie sein leidender Freund sich stöhnend so
auf den Bauch legte, dass sein Kopf vor ihm lag, und hörte zu, wie dieser zu beten begann:
„Vater unser, der du bist im Himmel …“
Als William Holsworthy den Mund öffnete, um sein letztes Amen zu sagen, sauste der schwere
Hammer auf seinen Hinterkopf nieder und löschte dessen Lebenslicht.
Die Flamme der Lampe flackerte auf dem Dochtrest und wurde immer winziger.
Dann riss sich Lowell an den groben Gussnähten des Schraubschlüssels die Unterarmhaut ein-
schließlich der Pulsadern auf und legte sich, ergeben die Augen schließend, auf seinen toten
Freund. Das Herz stieß sein Blut ohne Wiederkehr in den geöffneten Lebenskreislauf. In den
Windungen seines absterbenden Gehirns raste Hendrik Lowell in eine phantastische Welt und
dort mit einem riesigen Raumschiff kochend dampfend zum Mond, tauchte mit einem Monster
aus Kolben, Pumpen, Zylindern in eisernem Rumpf unter Wasser zwanzigtausend Meilen durch
die Weltmeere bis seine Dampftraumschienenbootrakete unter Ausstoß einer gewaltigen weißen
Wolke hyperschrillend pfeifend in einen abgrundtiefen nachtschwarzen Schlund zum Mittel-
punkt der Erde raste und verging.
*
Das fertige Schiff war endlich im Wasser und wurde auf seine Erprobungsfahrt vorbereitet, als
Isambard Kingdom Brunel seinen ehemaligen Zahlmeister zu sich in sein Haus bat. Tief gebeugt
seufzte Mr. Brunel auf, denn es ging ihm gar nicht gut. Die steten Sorgen um das Schiff, die
vielen Unglücke, seine Pleite und letztendlich der Verkauf an die Great Ship Co. hatten ihm
schwer zugesetzt.
„Dieser unselige Name ist schuld an ihrem schlechten Gesundheitszustand!“, begann Jonathan
Parker unvermittelt.
„Welch unseliger Name?“
„Der vom Schiff natürlich!“
„Wieso denn? Ich taufte das Schiff nach jener von Thomas Hobbes erdachten Leviathan-Gestalt!
Dem so symbolisierten Souverän, der über Land, Städte und deren Bewohner herrscht. Sein
Körper besteht aus den Menschen, die in den Gesellschaftsvertrag eingewilligt haben.“
„Pah! Ihr Ansinnen in allen Ehren, Mr. Brunel. Doch wer kennt schon jenes Staatswesen! Für die
Männer am Bau trug dieses Schiff den Namen des biblischen Drachens Leviathan, einem der
sieben Dämonenfürsten, welcher die Menschen zur Todsünde des Neides zu verführen sucht!“
Parker gedachte dabei seiner eigenen Missgunst und schluckte schwer an seinen eigenen Worten.
„Und darum ist es gut, dass die neuen Besitzer es in ‚SS Great Eastern’ umbenannt haben!“, fuhr
er hastig fort.
Brunel machte eine unwillige wegwerfende Handbewegung, forderte seinen Besucher zum
Sitzen auf und kam ohne Umschweife zu seinem Anliegen: „Mr. Parker! Sir Percival Lowell er-
kundigte sich bei mir brieflich nach seinem Neffen, der vor drei Jahren wieder nach Paris ge-
gangen sein soll. Nur sie haben das bezeugt und daher habe ich mir die beiden Quittungen
herausgesucht und doch mal näher besehen. Parker, mir machen sie nichts mehr vor! Für mich
damals Ahnungslosen war es nicht zu erkennen, aber diese Unterschriften sind eindeutig ge-
fälscht, und das können nur Sie gewesen sein! Also, wo sind die beiden Ingenieure wirklich?“
Parker fuhr heftig zusammen, weil er seine Untat längst verdrängt hatte. Doch er fing sich rasch,
weil er sich der Verborgenheit seiner Tat gewiss war. Daher begann er selbstsicher zu lächeln und
antwortete mit steigendem Zynismus: „Die sind offensichtlich nicht weit gekommen, Mr. Brunel.
Ich sagte Ihnen doch, die waren völlig von Sinnen. Vielleicht sind sie dem Opium verfallen und
dämmern in einer dieser geheimen Rauschgifthöllen hier in der Hafengegend vor sich hin – viel-
leicht trennen uns nur einige Wände von ihnen?“
„Was reden Sie da für einen Unfug, Parker!“
Nun fiel diesem ein, dass er nicht mit gerechtfertigter Empörung auf die Fälschungsunterstellung
reagiert hatte, und holte dies flugs nach: „Mr. Brunel! Das hätte ich niemals für möglich ge-
halten, dass Sie …“, er pausierte, um ein nicht mehr Luft bekommen vor Betroffenheit zu simu-
lieren, „… mich …, unglaublich ist das …, mir so etwas zu unterstellen. Ich bin zutiefst ent-
täuscht von Ihnen, aufs Äußerste empört und …“
Jetzt wurde Brunel hochrot im Gesicht, kam seinerseits in Fahrt und setzte zu einer Zornesrede
an: „Und ob ich Ihnen das zutraue, und ob, und ob! Für mich waren sie schon immer ein hinter-
hältiger Ränkeschmied und ich verfluche die Tatsache, dass ich Sie trotz Ihrer Unfähigkeit be-
schäftigen musste, bloß weil Sie ein Verwandter meines Partners Russell sind! Rücken Sie doch
endlich raus mit der Sprache! Wo sind die beiden wirklich verblieben? Was habe Sie mit ihnen
angestellt?“
Parker sah sich rückversichernd um – sie waren allein, keine fremden Ohren konnten lauschen.
Etwas drängte ihn ihm, sich zu offenbaren – und da es ihn nicht gefährden konnte, gab er nach.
Sein Blick wurde dämonisch und mit einem hässlichen Lachen flüsterte er dem ihm zugebeugten
gealterten Manne das Ungeheuerliche zu: „Die sind tot, eingeschlossen im Schiffsrumpf – auf
ewig – aber ich werde für immer ungestraft bleiben!“
Isambard Kingdom Brunel ballte die Fäuste, erhob sich schwerfällig, um sich auf Parker zu stür-
zen. Lauthals brüllend wollte er ihm Gottes strafende Gerechtigkeit durch seine Hände androhen,
als ihn unversehens der Schlag ereilte. Parker stand bereits in Abwehrhaltung, als der schwer-
gewichtige Mann vor ihm aufruckte, erstarrte und umkippte. Ungerührt sah er zu, wie dieser mit
der linken Schläfe hart auf dem Boden aufschlug. Höhnisch grinsend ließ Parker den Ohnmäch-
tigen an Ort und Stelle liegen, schloss die Wohnzimmertür ab, und warf den Schlüssel fort. Er
war sich gewiss, dass jener hier erst gefunden würde, wenn es für ihn zu spät war.
Brunel wurde erst am nächsten Morgen entdeckt, aber er lag in Starre und verstarb wenige Tage,
nachdem die SS Great Eastern ausgelaufen war, sodass er das schreckliche Geheimnis nicht
mehr preisgeben konnte, um somit der Gerechtigkeit auf den Weg zu verhelfen.
*
Inzwischen lief am 7. September 1859 ‚die schwimmende Stadt‘ zu ihrer Probefahrt aus. Mit an
Bord war auch Jonathan Parker. Inzwischen war er mit mit jener jungen Dame aus reichem
Hause verheiratet, durch sie Teilhaber von ‚Great Ship Co.’ und daher Mitinhaber dieses Schif-
fes. Er konnte wirklich mit sich zufrieden sein und gedachte, diesen Tag in Muße als lesender
Passagier an Deck zu verbringen. Bereits auf dem Weg nach oben nahm er sich aus Neugier noch
einen Inspektionsgang durch den Maschinenraum vor.
Doch der rächende Zufall wartete dort bereits auf ihn – einer der Heizkessel stand wegen eines
Konstruktionsfehlers unter explosivem Hochdruck und bereits der kleinste Auslöser konnte eine
Katastrophe bewirken.
Parker hatte den langen Raum fast durchschritten, als er das kleine Büchlein, das er schon seit
Jahren lesen wollte, aus seiner Jackentasche nahm, um den wieder vergessenen Titel in Augen-
schein zu nehmen. Aus Versehen rempelte ihn dabei einer der Kohlenschipper mit seiner Schau-
fel am Ellbogen und der Band flog einige Yards durch die Luft und schlitterte unter die Wölbung
des vordersten Kessels. Parker fluchte heftig auf den Heizer ein, kroch dann doch selbst auf den
Knien unter den Kesselbauch, weil der Kohlenmensch unabkömmlich war, griff mit der Rechten
nach dem Buch, rutschte dabei aus, langte mit der Linken Halt suchend um sich und erwischte
einen langen Hebel, den er dadurch umlegte, erfasste letztendlich mit Blick und Geist noch
flüchtig den Titel: ‚‚Eine Überwinterung im …“. Danach flog er in der Explosionswolke des
Kessels an Decke und Wände der Halle, welche die zerrissenen Teile seines Körpers aufhielten.
„Es ist und bleibt der ‚Leviathan’, das Schiff der Verdammnis!“, krächzte der durch den kochen-
den Dampf lebensgefährlich versengte Heizer und bekreuzigte sich noch einmal mühevoll, ehe er
seinen Todeskampf verlor.
*
Trotz seines neuen Namens blieb der eiserne Riese wegen zahlreicher weiterer Vorfälle bis zu
seinem, erstmals Ertrag bringenden Ende, ein ‚Unglücksschiff’. Als im November 1891 die ‚SS
Great Eastern’ auf einer Werft in der Nähe Liverpools in dreijähriger Arbeit schon bis zum letz-
ten Segment abgewrackt worden war, fand man in diesem die Überreste der beiden unglück-
lichen Ingenieure. Ihre verblichenen Knochen werden seitdem im Beinhaus des Friedhofs von
Birkenhead, Merseyside, aufbewahrt.
ENDE