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Spurlos verschwunden
Anzu erwachte und blinzelte, hinter gesenkten Lidern, in den Morgen. Draußen regnete es. Von ihrem Bett aus schaute sie in den grauen Himmel, dunkle, tief hängende Wolken zogen schwer wie Blei dahin.
Ihr Zuhause war eine zugige Mansarde. Dunkle Holzbalken, rohe, ungeschliffene Dielen und unverputztes Mauerwerk. Ein etwa zwanzig Quadratmeter großer Raum mit einer abgetrennten Ecke, die als Küche diente.
Ein Kühlschrank der nicht kühlte, eine alte, wacklige Kommode, weiß angestrichen und obenauf ein Elektrokocher mit zwei Platten. Daneben ein halbhohes Regal aus Kiefernholz, in dem angebrochene Packungen Nudeln, Reis, Salz und Zucker standen. Neben einer großen Flasche Sojasoße lagen ein paar Möhren und anderes Wurzelgemüse. Im Fach darunter ein paar Tassen, Gläser, Teller, Suppenschüsseln und anderes Geschirr. Ein hoher Becher aus Kunststoff beherbergte Messer, Gabeln, Holzlöffel und Essstäbchen. Auf dem untersten Regalbrett stand eine tiefe, gusseiserne Pfanne.
Über dem Spülbecken, das keinen Wasseranschluss hatte, jedoch an einem Abflussrohr angeschlossen war, hing ein weißes Regal aus Kunststoff. Auf diesem Regal standen einige Gewürzgläser und ein Marmeladenglas mit grünem Tee.
Die Rückwand eines braunen Kleiderschranks, aus den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, beendete die Küche und war die Grenze zu der übrigen Wohnung. Auf eine der Schranktüren war ein Kalender geheftet. Der Werbekalender einer Apotheke, oben Fotografien von Heilkräutern, darunter der Name des Monats und die Anzahl der Tage.
Es war gerade genug Platz um die Schranktüren zu öffnen, bevor das Fußende des Bettes begann, in dem Anzu lag und auf die gegenüber liegende Wand ihrer Wohnung schaute, in deren Schräge zwei Dachfenster eingelassen waren. Jedes Fenster einen Meter breit und einen Meter hoch, ohne Vorhang oder Gardine, wie zwei Augen ohne Lider und Wimpern, nackt und kalt. Und draußen der trostlose Himmel und der Regen.
Anzus Bett, eine Polsterliege mit einem Bettkasten, ohne Fuß- oder Kopfteil, bezogen mit einem schwarzen Stoff, auf dem große, orangefarbene Ornamente gedruckt waren, roch alt und abgestanden, und war in der Mitte durchgelegen. Das Muster, und viele alte Flecken, wurden verdeckt von der Bettwäsche.
Weiße Bettwäsche, die sie in einem Kaufhaus gestohlen hatte. In dieser weißen, reinen Unschuldsfarbe lag Anzu und hob sich, mit ihren langen, schwarzen Haaren und der gelbbraunen Haut, deutlich von der Wäsche ab. Halbaufgerichtet, den Kopf auf ihren linken Arm gestützt, lag sie da und schaute durch die Fensterscheiben in den Himmel.
Unter einem der Fenster stand ein Tisch. Eine Holzplatte mit zwei Holzböcken, abgenutzt und mit zahlreichen kleinen Brandflecken. Davor ein Korbstuhl, mit einem schmutzigen Sitzkissen. Auf dem Schreibtisch lagen einige Bücher, deren Sprache Anzu nicht verstand, und einige Hefte mit Aufzeichnungen, in derselben fremden Sprache.
Hatte hier ein Schriftgelehrter gewohnt? Und hatte dieser Mensch vielleicht einfach eines Tages diese Wohnung verlassen, in der es im Sommer zu heiß und im Winter viel zu kalt war? Oder war ihm etwas zugestoßen?
Letzteres würde jedenfalls erklären, warum sie die Wohnung vorgefunden hatte, als wäre sie nur für einen Moment verlassen worden, und trotzdem über allem eine gleichmäßige Staubschicht lag.
Trotzdem war Anzu überaus froh, dass sie diese Behausung entdeckt hatte.
Es war kalt und ebenso nass wie heute gewesen, als sie, in einem der Ateliers im Erdgeschoss, Zuflucht suchte. Von dem Toreingang aus, wo sie sich untergestellt hatte, sah sie die hell erleuchteten Fabrikfenster und den großen, und wie es schien, fast leeren Raum dahinter. Und Raum suchte Anzu, einen Raum, der ihr Schutz bot vor dem Wetter, und den Häschern, denen sie knapp entkommen war. Die Eisentür war nur angelehnt, und niemand war zu sehen gewesen, als sie sich in das Atelier schlich. Der große, hohe Raum war angefüllt mit Leinwänden, Malmitteln und allerhand anderen Dingen. Ganz hinten, an der Rückwand, stand ein altes Sofa und daneben ein paar Bierkisten. Und dann gab es noch eine Tür in dieser Wand. Aber es gab keine Heizung und keine Nahrung in dem Raum, Dinge, die Anzu dringend benötigte.
Als sie Stimmen hörte verließ sie den Raum durch die Tür neben dem Sofa. Sie führte in das Treppenhaus des Gebäudes. Dort gab es noch mehr Türen, aber die waren alle verschlossen. Anzu schlich die Treppen hoch. In der ersten, zweiten und dritten Etage gab es nur abgeschlossene Stahltüren.
Im Dachgeschoss gab es keine Türen, stattdessen einen großen, offenen Raum der von Stahlträgern und wenigen, halbhohen Wänden unterteilt war. Sie wollte schon umdrehen, als sie am Ende des Dachbodens zwei dunkle Holztüren sah. Hinter der größeren Tür fand sie diese Wohnung. Und da niemand kam, um seine Ansprüche auf diese Behausung geltend zu machen, blieb Anzu. Zuerst voller Angst und nur wenige Nachtstunden, später, als sie sicher war, dass diese Wohnung von ihrem Bewohner verlassen worden war, richtete sie sich gänzlich ein, und ersetzte die schmutzige, Bettwäsche gegen neue, und die wenigen, von einem Mann stammenden, Kleidungsstücke, gegen ihre eigenen.
In der Wohnung gab es kein Wasser, und Strom nur dann, wenn unten in den Ateliers gearbeitet wurde. Anzu hatte keinen Schlüssel für ihre Wohnung, aber sie zahlte auch keine Miete. Rasch hatte sie herausgefunden, wie sie über den Hof und durch die Ateliers in den Treppenaufgang kam, ohne sich von den Künstlern erwischen zu lassen.
Oft hielt sie sich tagelang hier oben auf, besonders dann, wenn sie wieder einmal einen ihrer Peiniger sah, die die Suche nach ihr anscheinend noch nicht aufgegeben hatten. Wenn sie unterwegs war, um sich etwas Geld zusammen zu betteln, vermied sie alle Bahnhöfe und natürlich auch das Hafenviertel, denn von dort war sie gekommen.
Weil Anzu keinen Schlüssel für ihre Wohnung hatte, klemmte sie immer einen Besen unter die Türklinke wenn sie daheim war. Diese Maßnahme würde wohl keinen Eindringling lange aufhalten, aber es vermittelte ihr genug Sicherheit, um schlafen zu können.
Sehr bald würde Anzu durch diese Tür nach draußen gehen, um hinter der ebenso braunen, etwas schmaleren, Tür zu verschwinden, hinter der sich ein Raum befand, der eine Toilette und ein Waschbecken beherbergte. Eine Waschschüssel und einen Eimer, der immer mit Wasser gefüllt war. Mehr nicht. Wenn es Strom gab, beleuchtete eine nackte Glühbirne diese kleine Kammer, die ganz oben eine Luke hatte, durch die, auch an sonnigen Tagen, kaum Tageslicht fiel. Die Wände waren unverputzt, wie die Wände der Wohnung, und bargen, ebenso wie die feuchten, braunen Dielen und finsteren Ecken, allerlei Insekten. Einmal, als sie den Raum betreten hatte, hatte der Toilettendeckel sich bewegt, so als würde von unten etwas dagegen drücken. Seitdem spülte Anzu lange und ausdauernd bevor sie den Deckel anhob und beschwerte ihn hinterher stets mit dem gefüllten Wassereimer. Jeden Morgen ekelte es sie erneut diesen Raum betreten zu müssen, in dem es modrig und schimmelig roch. Und niemals ging sie ohne Schuhe dorthin. Allein die Vorstellung, ihre Haut könnte diese ekligen, schwammigen Dielen berühren, erfüllte sie mit Abscheu.
Anzu ließ ihren Kopf zurück auf das weiße Kissen sinken und zog die weiße Bettdecke bis unter ihr Kinn. Ihr war kalt. Im Sommer, als die Sonne die Mansarde so sehr erhitzte, dass sie sich weder am Tag noch in der Nacht für längere Zeit darin aufhalten konnte, hatte sie sich nichts sehnlicher herbei gewünscht, als den Herbst mit seinen kürzeren Tagen und den kühlen Nächten. Nun war er da, und die Nächte waren so kalt, dass sie sich nach der Hitze des Sommers zurück sehnte.
Anzu wurde unruhig. Nun wurde es langsam dringend, das Bett zu verlassen. Alles in ihr sträubte sich dagegen und so blieb sie liegen. Jeden Tag fiel ihr dieser Gang schwerer. Raus aus der weißen Bettwäsche, hinein in die Schuhe, über die knarrenden Dielen, hinaus aus der großen Tür, und hinein in die Kammer hinter der kleineren Tür, wo es wimmelte und huschte, und unter ihren Schuhsohlen ekelhaft knackte, so dass ihr ein heißer Schauer von Ekel und Abscheu über den Rücken lief. Gestern, als sie schließlich, der Not gehorchend, dieses kleine Kabinett des Grauens betreten hatte, und die Insekten beim anknipsen der Leuchte in die Ecken und Spalten huschten, hatte sie das Gefühl gehabt, als wenn da noch etwas anderes in der Nähe gewesen war. Etwas Fremdes, Schnüffelndes, Grauenvolles.
Diese Empfindung war stark gewesen und hatte an ihren Nerven gerüttelt und gezogen. Ihre Sinne aufs äußerste angespannt, verrichtete sie in fliegender Eile ihre Notdurft, und verließ den Raum mit angehaltenem Atem und vor Angst hochgezogenen Schultern. Dabei vergaß sie den Toilettendeckel herunter zu klappen und ihn mit dem Wassereimer zu beschweren. Die Tür warf sie gehetzt hinter sich zu, ohne noch einen Blick zurück zu werfen, und darum war ihr dieser folgenschwere Fehler nicht bewusst. Seitdem war sie nicht mehr dort gewesen, nicht einmal um die Waschschüssel zu holen, wie sie es jeden Abend tat.
Der Regen trommelte stärker und sie konnte den Himmel nicht mehr erkennen. Nur noch die Regentropfen die auf die Fenster prallten, nach allen Seiten auseinander liefen, sich wieder fanden und in kleinen Rinnsalen eilig die Scheiben hinab liefen. Das monotone Geräusch, das dabei entstand, machte ihre Angelegenheit noch dringender. Sie drehte sich vom Rücken auf den Bauch, und suchte das Gefühl, welches auf ihr Bedürfnis aufmerksam machte, zu unterdrücken. Wenn ich jetzt wenigstens die Waschschüssel hier hätte, dachte sie.
Schließlich sprang sie aus dem Bett, schlüpfte mit ihren zierlichen Füßen in die Schuhe, rannte zur Tür und riss ungestüm den Besen beiseite. Schon war sie draußen in der Weite des Dachbodens, und zögerte nur eine Sekunde, bevor sie entschlossen die Tür zur Toilette aufriss und einen schnellen Schritt hinein machte, um den Lichtschalter zu erreichen.
Der kleine Raum erhellte sich spärlich und beleuchtete etwas, das auf dem Toilettensitz saß. Etwas, das Anzu noch nie zuvor gesehen hatte, gaffte sie aus kalten Augen an. Anzu öffnete ihren Mund zu einem Schrei, und im gleichen Augenblick setzte das Ding zu einem Sprung an. Im nächsten Moment spürte sie feuchtes, verfilztes und übel stinkendes Fell in ihrem Gesicht, das ihren Schrei in ein ersticktes Gurgeln übergehen ließ. Sie ruderte wild mit den Armen, um unter dem Aufprall des Wesens nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und schlug hart mit Kopf und Oberkörper gegen die, bis dahin, noch halboffene Tür. Angst, Ekel und Entsetzen nahmen ihr den Atem. Mit Händen und Armen versuchte sie Kopf und Hals zu schützen, als sie, mit dem Rücken gegen den Ausgang gepresst, langsam zu Boden sank. Noch einmal versuchte sie aufzustehen, sich wegzudrehen, um sich in Sicherheit zu bringen, und diesem ekelhaften Gestank zu entgehen, den das Tier verströmte, das wie ein schweres Gewicht an ihr hing. Da spürte sie, wie warme Flüssigkeit unter ihrer Hand hervor quoll. Wo? Woher? Anzu hatte keinen Biss gespürt. Und doch wurden ihre Bewegungen fahriger und matter, und das Rauschen in ihren Ohren lauter, bis ihr Bewusstsein schwand. Ihre letzten Wahrnehmungen waren, die feuchten, schimmeligen Holzdielen, die schmatzende Geräusche von sich gaben, und das warme Gefühl, als sich ihre Blase entleerte.
Aus Löcher und Spalten krabbelten Tausende Insekten und bemächtigten sich des bewusstlosen Körpers. Von allen Seiten drangen sie in ihn ein und alle Lebenssäfte flossen aus ihm heraus, wurden fortgetragen und sickerten zwischen die braunen Dielen, unter denen weitere Bewohner auf ihren Anteil warteten.
Über all dem saß, auf dem Kopf des Opfers, hoch aufgerichtet wie ein König über seinem Volk, eine Ratte von der Größe einer mittelgroßen Katze. Ein scheußliches Tier mit zottigem Fell und einem nackten Schwanz an dessen Ende ein paar lange dunkle Haare zitterten. Grässlich anzusehen waren die langen, verformten, wie zu Spiralen gekrümmten, Krallen des Ungeheuers, und die kalten, dunklen Knopfaugen blickten aufmerksam, die Barthaare zitterten erregt und die spitze Nase schnüffelte unablässig über dem Gewimmel, der aus der Toilettenschüssel strömenden Ratten.
Schließlich neigte das Tier langsam, fast bedächtig, den Kopf und schlug seine langen, gelben Nagezähne erneut in Anzus Hals.
Es dauerte Tage, bis der Körper nach und nach in den Ecken, unter den Dielen und der größte Teil in den verschlungenen Abwasserrohren verschwand. Das Fabrikgebäude war alt, und nur im Erdgeschoss waren wenige Räume vermietet.
Niemand störte die Tiere bei ihrer ausgedehnten Mahlzeit, und den Abtransport der unverdaulichen Überreste. Selbst Anzus Kleidung verschwand auf unbekannten Wegen.