Sprungturm
Wir sitzen uns in der kleinen Küche unserer Wohnung gegenüber; ich drehe gerade Nudeln auf die Gabel, sie zieht sie schlürfend in sich hinein, guckt dabei auf die Enden der Spaghetti, wie sie sich schlängelnd ihrem Mund nähern, bevor sie unterhalb der Nase ihrem Blickfeld entschwinden. Draussen ist es schon dunkel, die Dämmerung hat den letzten Sonnenstrahl verschlungen.
Nach jedem Happen trinkt sie geräuschvoll einen Schluck Wasser. Mir ist in all den Jahren tatsächlich nie aufgefallen, wie unglaublich laut sie ist. Wenn sie betrunken ist, ist sie es, das weiss ich. Aber sonst? Vielleicht ist das auch eine neue Sache, dieses Schlürfen.
Das macht sie ab und zu, plötzlich irgendwas Neues anfangen, einfach so. Wie damals, eine Woche nach unserer Hochzeit, als sie plötzlich aufgehört hat, Bier und Drinks und Cocktails zu trinken; dabei hatte sie sich früher munter durch ganze Spirituosenläden getrunken in langen Samstagnächten. Und dann, von einem Tag auf den anderen, wollte sie wohl irgendwie seriös wirken.
Sie nimmt einen Schluck Rotwein, schlürft wieder. Komisches Wort, Schlürfen. Sie setzt das Glas ab und widmet sich wieder übertrieben aufmerksam den tanzenden Enden ihrer Nudeln. Ihr Blick ist schwer zu deuten. Er erinnert mich an meinen Bruder, der immer so geschaut hat, wenn wir im Sommer am See waren und auf den Sprungturm geklettert sind. Da oben hat er dann gestanden, manchmal stundenlang, während wir anderen immer wieder runtergesprungen und wieder hochgeklettert sind. Und immer hatte er diesen Ausdruck im Gesicht; Angst vor dem Sprung, aber auch ein winziger Funke Vorfreude auf den freien Fall. Schlussendlich sprang er immer.
Seit Tagen reden wir kaum noch, und wenn ich es versuche, weicht sie aus. Vielleicht sind mir die Geräusche deshalb jetzt erst aufgefallen, da es zwischen uns so ruhig geworden ist. Sie nippt an ihrem Glas. Das Sprudelwasser gluckert in ihrer Kehle.
«Was ist los, Mirjam?», frage ich. Es klingt ernster als gewollt. Sie schaut kurz auf und stellt das Glas auf den Tisch.
«Du weichst mir aus, du redest kaum mehr. Irgendwas ist doch.»
Etwas Tomatensosse klebt in ihren Mundwinkeln, sie wischt sie weg.
Ruhe. Ich warte.
«Es ist …», beginnt sie und verstummt wieder. «Es ist … schwierig.»
Wieder Ruhe, wieder warten. Aber sie hat schon zu viel gesagt.
Schliesslich sagt sie: «Weisst du noch, dieses Gedicht, dass du vor Jahren für Marie geschrieben hast? Es kommt mir in letzter Zeit so oft in den Sinn.»
Es ist wirklich erstaunlich, wie man irgendwann, wenn man sich lange genug kennt, miteinander sprechen kann, ohne etwas zu sagen. Es braucht nicht mehr als diesen Satz; wir beide wissen, dass es nicht um Marie geht. Und auch nicht um dieses Gedicht.
«Das hat mir von allen immer am besten gefallen», sagt sie und spricht zögerlich weiter, aber ich bin mit den Gedanken schon weit fort.
Bin wieder in Panama, wo wir vor Jahren zusammen auf Reisen waren, als mich die Nachricht erreicht hat, dass Grossmutter Marie gestorben ist. Ich weiss noch, wie ich mich schämte, als ich davon erfuhr. Ich schämte mich, dass mich ihr Tod nicht mehr aufwühlte als ein ganz klein wenig. Also tat ich, was ich immer tue, wenn mich etwas beschäftigt, und schrieb. Schrieb ihr ein Gedicht.
Jetzt, wo Mirjam es erwähnt, beginne ich mich zu erinnern, an diesen Abschnitt, den sie schon damals so bitterschön gefunden hatte. An diesen Abschnitt, der die Lücke beschreibt zwischen dem, was ist und dem, was man fühlt.
Dem, was man fühlen sollte und nicht kann.
Mirjam hat aufgehört zu reden und ich wundere mich, ob sie die Stelle wohl zitiert hat oder nicht, ein gutes Gedächtnis hatte sie schliesslich schon immer. Und ich war schon immer ein schlechter Zuhörer.
Komisches Gefühl, sich so von aussen zu sehen, als stünde man neben sich und sähe die Welt untergehen, ganz so, als ginge es einen gar nichts an.
Sie schaut wieder starr auf ihren Teller, eine Träne kullert lautlos ihre Wange herunter. Mir schnürt sich der Hals zu.
Wäre er doch nur ein einziges Mal nicht gesprungen, nur ein Mal nicht;
man hält es wohl einfach nicht aus.