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Sprachstörungen
Montag, 1. September; Oval Office Washington DC
14:00 Uhr Weltzeit
„Niemals werde ich dem zustimmen!“
Der 63. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika war puterot angelaufen. Sein Hals war geschwollen und ließ die Halsschlagader tauartig hervortreten.
Der Außenminister und der präsidiale Sicherheitsberater rutschten unruhig auf der vorderen Kante ihrer Stühle herum und sahen betreten zu Boden.
Seit einer geschlagenen Stunde brachte der Präsident mit seiner Stimme die Mauern des Oval Office zum vibrieren und es war nicht absehbar, wann seine Wut verraucht war.
„So einen Affront werde ich mir nicht bieten lassen von diesen…, diesen außerirdischen Niggern!“
Sein Zeigefinger schnellte aus der vor Erregung verkrampften Faust hervor und richtete sich auf den Außenminister.
„Nehmen Sie dieses Scheißfax und wischen sich meinetwegen den Arsch damit ab und…“
Er brachte den Satz nicht zum Ende und rollte genervt seine Augäpfel nach oben.
Langsam, als fürchtete er mit einer hastigen Bewegung einen weiteren Wutausbruch des Präsidenten zu provozieren, erhob sich der Außenminister und nahm das Schreiben vom ausladenden Schreibtisch.
Er fühlte sich dabei ausgesprochen unwohl. Zwar hatte sich sein Machtbereich seit dem Erscheinen des außerirdischen Raumschiffes um einige Trilliarden Kubikkilometer vergrößert, allerdings hätte er im Augenblick gut und gerne darauf verzichten können.
Seine Diplomaten, unterstützt von den Experten der NASA und der NSA hatten vergeblich daran gearbeitet, mit den Ankömmlingen Kontakt aufzunehmen.
Stattdessen war ein Fax über einen geheimen Anschluss direkt im Weißen Haus eingegangen.
Er blickte auf das zerknitterte Papier in seinen Händen.
Auch wenn er die Sprache, in der das Sendschreiben abgefasst war nicht lesen konnte, kannte er den Inhalt fast auswendig.
Die ´Preulen´, so nannten sie sich jedenfalls selber, erboten der Menschheit freundliche Grüße. Sie erklärten, die Erde schon lange zu beobachten und drückten ihre Freude darüber aus, dass eine Ära ohne Kriege, Hunger und Krankheit auf der Erde angebrochen war. Ferner wünschten sie die umgehende Aufnahme diplomatischer Beziehungen und stellten die Überlassung fortschrittlicher Technologien in Aussicht.
Und dann, im letzten Absatz kam der Haken.
Aus Respekt den ´Neuen Freunden´ gegenüber hatten sie die Sprachen der Welt analysiert und sich dafür entschieden, sich im gemeinsamen Austausch auf eine einzige Sprache zu beschränken.
Die Vorzüge dieser Sprache waren, nach dem Dafürhalten der ´Preulen´ leichte Erlernbarkeit, zumindest für sie selbst, logische Tiefe, semantische Variabilität und Nuanciertheit.
Das Fax hatten sie bereits in Dieser abgefasst und baten abschließend um baldige Antwort.
In deutscher Sprache.
Montag, 1. September; Büro des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Berlin
17:00 Uhr Weltzeit
„Herr Bundeskanzler, ich darf Ihnen mitteilen, dass die Amerikaner Kontakt mit dem außerirdischen Raumschiff aufnehmen konnten.
Wie wir in Erfahrung gebracht haben, war Präsident Chainsaw äußerst aufgebracht über das von den ´Preulen´ eingegangene Fax. Leider haben uns unsere amerikanischen Freunde bisher über den Inhalt im Unklaren darüber gelassen.“
Bundeskanzler Schmitt-Harlem saß weit zurückgelehnt in seinem sprichwörtlichen Kanzlersessel, die Augen halb geschlossen und nahm den Vortrag des Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes scheinbar teilnahmslos entgegen.
„Unsere Analyseabteilung ist der Ansicht, dass der Grund für die Empörung des US-Präsidenten wohl nicht Folge in unzumutbaren Forderungen der ´Preulen´ begründet ist. Sein psychologisches Profil und der Abgleich mit seinen allgemeinen Verhaltensmustern berechtigt zu der Annahme, dass die ´Preulen´ wohl unbeabsichtigt den US-Präsidenten selbst oder die USA vor den Kopf gestoßen haben und...“
„Wie haben Sie es in Erfahrung gebracht?“
Der Bundeskanzler richtete sich leicht auf.
„Äh, wie bitte?“
„Sie sagten, dass Sie in Erfahrung gebracht hätten, dass Chainsaw aufgebracht gewesen sei.“
Der Präsident des BND errötete leicht.
„Nun, unsere amerikanischen Freunde sind manchmal etwas zurückhaltend, wenn es um Interna geht. Deshalb wollen wir sie so selten wie möglich mit lästigen Nachfragen behelligen und besorgen uns die Informationen selbst. So schonen wir deren Nervenkostüm und bleiben trotzdem auf dem Laufenden.“
Der Bundeskanzler runzelte bedeutungsvoll die Augenbrauen; dann gingen seine Mundwinkel weit auseinander. Der Präsident des BND lächelte ebenfalls.
„Gehe ich recht in der Annahme, dass wir einen ´Freund´ ganz oben haben?“ fragte der Bundeskanzler.
Ein Nicken bestätigte ihm seine Vermutung.
„Wer ist es?“
Der Präsident des BND zögerte.
„Wollen Sie es wirklich wissen?“
„Nein“, sagte der Bundeskanzler nach kurzem Nachdenken.
„Behalten Sie es für sich. Ich wohl recht in der Annahme, dass ich den Inhalt des Fax in Kürze auf meinem Schreibtisch zu liegen habe? “
„Selbstverständlich.“
„Gut, dann ist weiteres Herumraten im Moment überflüssig. Ich danke Ihnen.“
Der Präsident des BND gab dem Bundeskanzler die Hand und wandte sich der Tür zu.
„Wenn Du wüsstest, WER unser Mann im Weißen Haus ist“, murmelte er als er das Kanzlerbüro verlassen hatte.
Montag, 1. September; Oval Office Washington DC
15:00 Uhr Weltzeit
„Der Präsident hat sich in eine seiner halbstündigen Sitzungen zurückgezogen“, sagte der Sicherheitsberater.
„Er hatte die New York Times unter den Arm geklemmt, also wird er uns so bald nicht belästigen.“
Der Außenminister schmunzelte.
Er mochte Leon Brownstein, den drahtigen, graumelierten Sicherheitsberater des Präsidenten; schätzte dessen feinsinnigen, wiewohl ätzenden Humor.
„Erfahrungsgemäß wird er frühestens nach der Durchsicht des Sportteils wieder auftauchen. Und da er nicht gerade ein schneller Leser ist, haben wir wohl eher eine Stunde.
Also bitte, was haben Sie auf dem Herzen.“
„Wo ist eigentlich das Problem“, sprudelte es aus Brownstein heraus,
„Deutsch ist zwar eine lediglich regional bedeutende Sprache, allerdings auch die kopfstärkste europäische Muttersprache.
Außerdem sind die Deutschen unsere Verbündeten. Ich würde Chainsaws Zorn verstehen, wenn die `Preulen´ Nordkoreanisch oder Persisch als ´Lingua Universa´ ausgewählt hätten; oder gar Mandarin!“
„Sie irren“, entgegnete der Außenminister,
„Nordkoreanisch wäre akzeptabel, ebenso beispielsweise Schottisch, Finnisch, Zulu oder Armenisch. Amerikanisch oder Englisch wären natürlich der Idealfall. Inakzeptabel sind jedoch Spanisch, Italienisch, Russisch, Mandarin, Hindi, Portugiesisch, Arabisch, Japanisch, Persisch, Französisch und eben Deutsch einschließlich der Schweizer Variante.
Einige Sprachen sind grenzwertig, so etwa die slawischen Idiome, wie Polnisch, Tschechisch oder Serbokroatisch. Die sind zu eng mit dem Russischen verwandt.“
„Es geht um Macht?“, entfuhr es dem überraschten Brownstein.
Plötzlich stand der Präsident mit notdürftig hochgezogener Hose im Raum.
„Genau darum geht es“, fauchte er,
„Und wenn es nicht anders geht, lasse ich dieses beschissene Deutschland mit Bomben zupflastern, bis die Deutschen sich nicht mal mehr trauen, Ihre eigenen Namen deutsch auszusprechen. Wäre schließlich nicht das erste Mal.“
Brownstein und der Außenminister schwiegen und starrten peinlich berührt auf den nassen Fleck im Schritt der präsidialen Leinenhose.
Dienstag, 2. September; Büro des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Berlin
11:00 Uhr Weltzeit
„Macht?“, hakte der Innenminister ein.
In der kleinen, informellen Runde waren neben dem Bundeskanzler der Außenminister, der Innenminister und der Präsident des BND vertreten.
Sie saßen um den Konferenztisch und hatten den Vortrag des Präsidenten des BND angehört. In den frühen Morgenstunden war ihm eine Kopie des Fax übermittelt worden und seine Schlussfolgerungen deckten sich mit denen des amerikanischen Außenministers.
„Macht“, bestätigte er nachdrücklich,
„lassen Sie es mich skizzieren. Gegenwärtig sprechen siebenundachtzig Prozent der Weltbevölkerung mindestens eine Fremdsprache. Das Englische ist dabei mit einem dreiundneunzigprozentigen Anteil die ´Lingua franca´. Mehr noch, zu keinem Zeitpunkt der Geschichte war eine einzige Sprache so flächig verbreitet. Die Wirtschaft, die Wissenschaft und die Kunst werden von den englischsprachigen Nationen dominiert: durch die Sprache!“
„Jetzt übertreiben Sie aber“, schaltete sich der Innenminister, ein bekennender Anglophilier ein.
„Sie tun ja nachgerade so, als käme ich als Deutscher ohne die Kenntnis des Englischen nicht mehr durchs Leben.“
„Und das trifft exakt zu“, bemerkte der Bundeskanzler,
„Nennen Sie mir nur drei höhere Berufe, bei denen Sie ohne Englischkenntnisse eingestellt werden.“
„Bundeskanzler“, rief der Außenminister und löste allgemeine Heiterkeit aus.
„Lassen Sie mich einige weitere Zahlen nennen, meine Herren“, nahm der Präsident des BND den Faden wieder auf.
„Der deutschen Wirtschaft gehen durch den Sprachnachteil in diesem Jahr geschätzte DREIHUNDERTFÜNFZIG Milliarden Euro verloren. Das beginnt bei indirekten Verlusten, durch Übervorteilungen von einheimischen Unternehmen die mit englischen Muttersprachlern verhandeln, über Übersetzungskosten, bis hin zu substanzbedrohenden Einbußen, in der Forschung beispielsweise, wo die Übertragung eines Aufsatzes immer auch einen Zeitnachteil bedeutet.“
„Dreihundertfünfzig Milliarden“, flüsterte der Bundeskanzler entsetzt und dachte an den nur mühsam ausgeglichenen Staatshaushalt.
„…die Kunst im weiteren Sinne“, sagte der Präsident des BND,
„Im abgelaufenen Jahr hatte der Buchhandel hierzulande Zweitausenddreihunderthundacht Neuerscheinungen oder Neuauflagen zu verzeichnen. Unglaubliche einundsechzig Prozent stammten aus der Feder amerikanischer und britischer Autoren.
Selbst in der Politik leiden wir unter dieser Übermacht. Sie erinnern sich sicher an das von der Bundesregierung angestrengte Verfahren vor dem Europäischen Wirtschaftsgerichtshof. Wir haben das Königreich England auf Schadensersatz verklagt, weil es, unserer Ansicht nach, ein gerade erst ratifiziertes Handelsabkommen gebrochen hatte.
Die Passage, auf die wir uns bezogen, war im Englischen Vertragstext viel weiter auslegbar, als es uns die deutsche Übersetzung erahnen ließ. Der Gerichtshof wies unsere Klage ab, da die englische Paraphierung als der EIGENTLICHE Vertrag anzusehen sei. Übersetzungsfehler, auch wenn es mehrere konträre Möglichkeiten der Auslegung gibt, gingen zu Lasten des, so Originaltenor des Gerichts: Fremdsprachlers!
Ein weiterer, nicht zu beziffernder Schaden entsteht uns dadurch, dass uns mit der Sprache auch die Kultur aufgeprägt wird.
Der Autor und Sprachforscher Klemperer sagte einmal, dass ´Sprache für dich dichtet und denkt´. Die Eigenheiten einer Kultur, wollte er damit sagen, sind auch sprachgebunden.
Lassen Sie mich noch einen letztes Aspekt erwähnen, der besonders den Außenminister interessieren dürfte.“
Der Präsident des BND heftete seinen Blick auf den konzentriert lauschenden Außenminister.
„Seit der Wiedervereinigung Deutschlands sinkt der Anteil der Bevölkerung in unseren östlichen Nachbarländern, die Deutsch lernen. Sprachen im Jahr Zweitausenddreißig noch gut je zweiundzwanzig Prozent der polnischen Bevölkerung Deutsch, Russisch oder Englisch, so sieht es heute düster aus: gerade sechs Prozent wählen in den Schulen Deutsch als Fremdsprache, vierzehn Prozent pauken Russisch und praktisch einhundert Prozent der Polen sagen „yes“ zum Englischen.
Damit schwindet auch unser Einfluss auf die Nachbarn; wirtschaftlich, politisch, kulturell.
Die ´Preulen´ sind für uns deshalb ein Gottesgeschenk. Wenn es uns gelingt, Deutsch als die Verkehrssprache mit ihnen durchzusetzen, zerbricht das die Englische Dominanz nachhaltig. Zumindest in den Bereichen Wissenschaft und Handel sollte das Deutsche dann weltweit zur ersten Fremdsprache aufsteigen.“
Der Präsident des BND verstummte, sichtlich erschöpft.
Eine Weile sagte niemand etwas.
Der Innenminister spielte gedankenverloren mit einem Kugelschreiber herum.
Hoffend blickte der Außenminister, vom Vortrag sichtlich erschüttert, auf den Bundeskanzler.
Als dieser sich erhob, strafften sich drei Schultern und drei Augenpaare klarten sich, spannungsgeladen, auf.
„Meine Herren Minister“, brummte der Bundeskanzler staatstragend,
„Veranlassen Sie, was in Ihrer Macht steht, um dem Wunsch der ´Preulen´ Geltung zu verschaffen.“
Mittwoch, 3. September; Oval Office Washington DC
19:00 Uhr Weltzeit
Der Präsident war fassungslos.
„Sie haben was getan?“
Eingeschüchtert wiederholte der Außenminister:
„Die Deutschen haben an so ziemlich jedes Land, mit dem Sie diplomatische Verbindung halten das Fax und eine Bitte um wohlwollende Prüfung übermittelt. Wir haben sofort insistiert und allgemeine Vorbehalte geäußert. Leider kam es bei den meisten Regierungen nicht so gut an, dass wir die Sache bisher geheim gehalten haben.
Drei Dutzend feste Zusagen für eine mögliche Abstimmung bei der UNO, hauptsächlich von Ländern, die uns nur zu gerne blamiert sehen möchten, haben die Deutschen schon.
Die Russen stimmen traditionell mit den Deutschen im Sicherheitsrat und die Osteuropäer folgen den Russen. Die Balten sind Deutschland eng verbunden, Österreich, Schweiz und Lichtenstein sowieso. Italien wird sich mit Rücksicht auf seine Südtiroler dem Ansinnen ebenfalls nicht verschließen.
Ansonsten warten alle erst einmal ab.
Den englischen Premierminister konnten wir in letzter Sekunde davon abhalten, lautstarke Gegnerschaft zu bekunden. Das hätte vermutlich sogar die Franzosen ins deutsche Lager getrieben.“
Der Präsident stöhnte leise auf. Er war ohnehin nicht gut auf den englischen Premier zu sprechen, seit dieser Amerika vor laufenden Kameras als ´italo-irischen Bastard´ bezeichnet hatte.
„Also schön“, sagte er,
„bestellen Sie den deutschen Botschafter ein und sagen Sie ihm persönlich, dass wir zum Äußersten entschlossen sind, wenn Berlin seine Aktivitäten nicht sofort und endgültig einstellt.“
„Zum Äußersten entschlossen?“, ächzte der Außenminister erschrocken,
„wie habe ich das zu verstehen?“
Chainsaw machte eine unwirsche Bewegung, als verscheuche er ein lästiges Insekt.
„Na was schon. Wirtschaftssanktionen, Technologieboykott, Abbruch der diplomatischen Beziehungen, Ausschluss aus der Freihandelszone und so weiter. Wir garantieren Ihnen, dass wir sie mit jeder Art von Krieg überziehen, die ohne Waffen möglich ist. Erbarmungslos. Sagen Sie Ihm das. Genau so.“
In diesem Moment klopfte es an der Tür und Brownstein betrat den Raum zusammen mit einem verhuschten Winzling.
Dessen ätherische Unscheinbarkeit täuschte darüber hinweg, dass in dessen Händen die Fäden des weltgrößten Medienkonzerns zusammenliefen.
„ Ah, da sind Sie ja endlich“, rief der Präsident erfreut.
„Setzten Sie sich, wir haben viel Arbeit vor uns.“
Freitag, 11. September; Büro des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Berlin
11:00 Uhr Weltzeit
„Die machen uns fertig.“
Der sachliche Ton in dem der Außenminister dies sagte, war aufreizend. „seit zehn Tagen erscheinen diese Artikel weltweit in der Presse. Mal sind sie nachdenklich und reflektierend für das so genannte Bildungsbürgertum aufgemacht, dann wieder reißerisch für die breite Masse. Aber der Grundtenor ist derselbe.“
„Und der heißt: die Deutschen sind von Natur aus böse. Wir haben die Weltkriege verbockt, sind die Gaskammernation, haben den preußischen Militarismus erfunden, und so weiter“, warf der Bundeskanzler sarkastisch ein, „Wehe dem, der dem Wolf im Schafspelz vertraut.“
„Und unsere Presse macht gute Miene zum bösen Spiel“, ließ sich der Innenminister vernehmen und deutete auf einen vor ihm abgelegten Zeitungsstapel.
„Unsere Redaktionen leiden gegenwärtig am Jesus-Syndrom“, er lachte schallend, als er die fragenden Gesichter sah.
„Na, wie Jesus laden wir wieder mal alle Schuld dieser Welt auf unsere Schultern.“
„Ich bitte um Ernsthaftigkeit meine Herren. Das Ansehen Deutschlands in der Welt wird offensichtlich gezielt geschädigt, da sind solche Späße fehl am Platze.
Wenn ich morgens den Weltpressespiegel lese, vergeht mir jede Lust auf Witzeleien“, sagte der Bundeskanzler,
„Hat der BND schon Hinweise, wer uns hier angreift?“
„Die gibt es zur genüge“, der Präsident des BND ergriff das Wort,
„die Kampagne, und von einer solchen kann man zweifellos sprechen, ging von WorldWideMedia aus. Ich muss hier sicher nicht näher auf die Verflechtung dieses WWM-Konzerns mit der US-Regierung eingehen. Das dürfte Ihnen alles bekannt sein.
Allerdings waren selbst wir überrascht über die Vielzahl der Beteiligungen an Fernsehsendern und Zeitungen, die dieses Unternehmen weltweit hält.“
„Wollen Sie damit andeuten, die US-Regierung nutzt schamlos die Medien, um uns auszubremsen?“, fragte der Innenminister.
„Ich will es nicht andeuten, ich weiß es! Eine hochrangige Quelle hat uns über ein Treffen des Präsidenten mit dem Hauptaktionär von WWM informiert. Dreimal dürfen Sie raten, welchen Inhalt das Gespräch hatte“, resigniert hob der Präsident des BND die Schultern,
„Unsere Freunde sind augenblicklich wenig freundlich zu uns. Sie fühlen sich durch unseren Vorstoß brüskiert und haben die logischen Gegenmaßnahmen eingeleitet. Der Erfolg gibt Ihnen Recht. Mit einer Mehrheit bei der UNO können wir auf keinen Fall mehr rechnen.“
Der Bundeskanzler hatte sich erhoben und ging nun mit auf dem Rücken verschränkten Armen auf und ab.
„Wir brauchen eine Lösung meine Herren“, sagte er,
„Ich habe eine Rede auf der UN-Vollversammlung angekündigt und will da nicht wie ein Vollidiot dastehen. Vorschläge?“
„Können wir denn nicht die Sprache der ´Preulen´ übernehmen?“, fragte der Innenminister.
„Ausgeschlossen. Weder ist unsere Sprachapparatur geeignet, die Laute der ´Preulen´ auch nur annähernd nachzuahmen, noch werden wir mit der variablen, extrem fließenden Grammatik fertig“, fuhr der Präsident des BND dazwischen.
„Und wenn wir uns möglichst lautlos zurückziehen? Wir könnten den Amerikanern signalisieren, dass wir uns dem Vorschlag der ´Preulen´ nicht anschließen, wenn im Gegenzug die Kampagne gegen uns eingestellt wird.“
„Niemals!“, der Bundeskanzler spie das Wort in den Raum,
„Soll ich denen zu Kreuze kriechen? Vor zehn Tagen hätte man darüber sprechen können. Aber unter den gegenwärtigen Umständen sehe ich mich außer Stande einen Rückzieher zu machen.“
„Ganz unschuldig an der Malaise sind wir doch auch nicht. Schließlich waren wir über unseren Botschafter in Washington gewarnt worden. Das Auswärtige Amt hat in seiner Stellungnahme um Mäßigung und Fühlungnahme gebeten“, wagte der Innenminister einzuwenden.
Der Bundeskanzler überging den Einwand eisig.
„Weitere Vorschläge?“
Konzentriertes Schweigen antwortete ihm.
„Wie wäre es mit Schwyzerdeutsch?“, versuchte er der Innenminister, bemüht seine Scharte auszuwetzen, zaghaft.
„Das werden die Amerikaner nicht akzeptieren.
Tja, wenn damals die Mehrheit der amerikanischen Pilgerväter Deutsche gewesen wären und unsere Sprache in die neue Heimat mitgenommen hätten…“, er brachte den Satz nicht zum Ende. Sein Gesicht leuchtete im Glanze eines Geistesblitzes auf.
„Meine Herren, wissen Sie eigentlich weshalb ich Bundeskanzler bin?“, fragte er und lächelte spitzbübisch,
„Weil ich häufiger als Sie die Lösung für ein Problem finde.“
Sonntag, 20. September; Stadtzentrum, Washington DC
11:30 Uhr Weltzeit
Brownstein, Sicherheitsberater des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika steckte im Stau und fluchte still vor sich hin.
Er war aussichtslos in einer Mauer aus Blech eingezwängt und zugleich ein mikroskopisch anmutendes Teilchen davon, doch das störte ihn nicht.
Was ihm bitter aufstieß, war das teilweise Scheitern eines ausgeklügelten Plans.
Er hatte das Fax der ´Preulen´ dem deutschen Bundesnachrichtendienst zugespielt und hatte die ersten Reaktionen von Bundesregierung und dem US-Präsidenten richtig antizipiert, doch dann hielt die deutsche Seite sich nicht an sein imaginäres Drehbuch. Seiner Planung nach sollten die Deutschen dem Druck der Amerikaner nachgeben und sich so selbst der Weltöffentlichkeit der Lächerlichkeit preisgeben.
Dass die Deutschen standhaft blieben, auch wenn sie einen aussichtslosen Kampf ausfochten, hatte er für ausgeschlossen gehalten. Diese starrköpfige Handlungsweise gefährdete die Stellung Deutschlands als europäische Führungsnation und würde mittelfristig den Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kosten. Begriffen die das denn nicht?
Der Wagen vor ihm ruckte an und zuckelte einige Meter voran, dann blieb er wieder stehen. Brownstein machte sich nicht die Mühe, die entstandene Lücke zu schließen, auch wenn sein Hintermann wütend die Hupe tönen ließ.
Für die UNO-Vollversammlung am nächsten Tag hatte der deutsche Bundeskanzler eine Ansprache angekündigt. Bei dem Gedanken daran war Brownstein mulmig zu Mute. Was würde der Mann sagen? Was plante er? Und gefährdete das seine Rache?
Endlich war das Wort in aller Deutlichkeit gedacht. Es ging um Rache.
Um Rache für den Fluch, der auf seiner Familie lag und ihm die tiefste Demütigung seines Lebens beschert hatte..
Lag die Zeit, in der fast seine ganze Familie den Weg durch spezielle deutsche Duschen und hohe deutsche Schornsteine nehmen musste auch fern in der Vergangenheit, warfen doch die Gespenster der Toten noch immer ihre dunklen Schatten bis in das Heute hinein.
Einem Brownstein, ein namentlicher Chaime Braunstein aus Tschernowitz in der Bukowina, gelang es, Passage auf einem Amerikafahrer zu bekommen und der nahm den Fluch, nahm das Deutsche mit über den Ozean.
Und gab es wie einen Staffelstab weiter.
Leon Brownstein war dem Pass nach US-Amerikaner, aber die Sprache der Ahnen hatte sich ihm vererbt. Er zweisprachig aufgewachsen.
Mit einundzwanzig hatte er dem Staat Utah, wo sich seine Familie seit Generationen siedelte, den Rücken gekehrt und war zum Studium nach New York gegangen.
Dort suchte er Anschluss an die beachtliche deutsche Kolonie und wurde bereits am Ende der ersten Woche zu einem Oktoberfest des Deutschen Kulturvereins eingeladen.
Aufgeregt wie ein dreizehnjähriges Mädchen vor dem ersten Rendezvous betrat er das schmucke Kulturhaus, das so gepflegt aussah, wie er es bei diesem Volk von Perfektionisten erwartet hatte.
Er betrat die kleine Bühne auf die man ihn bat und hielt eine kurze Rede, in der er sich vorstellte. Es war die erste und die letzte Rede, die er hier in dieser Sprache halten sollte.
Er sah in entgeisterte, schamrote Gesichter, in denen verschämt ein Lächeln im Mundwinkel zuckte.
Er fühlte sich blamiert und bloßgestellt.
Hass entflammte in ihm.
Es war in ihren Mienen zu lesen, die zwischen Mitleid und Belustigung pendelten. Sein Deutsch war ein Phantasieprodukt, eine vokabulare Fata Morgana, nicht einer der Anwesenden hatte verstanden was er gesagt hatte.
Sonntag, 20. September; Foreign Office, Washington DC
12:00 Uhr Weltzeit
Brownstein saß dem Außenminister gegenüber und verfolgte den Faltenlauf in dessen von Müdigkeit gezeichnetem Gesicht.
„Die Deutschen ziehen es tatsächlich durch“, sagte er und so etwas wie Respekt schwang in seiner Stimme mit.
„ich hätte es nicht für möglich gehalten.“
„Ja die Deutschen“, der Außenminister brummte ungehalten vor sich hin. Die Vorbereitungen für die bevorstehende Vollversammlung der Vereinten Nationen hatten seine letzten Kraftreserven aufgebraucht.
„Ein merkwürdiges Volk. So was sollte es nicht geben. Was immer sie anpacken, sie tun es mit einer Konsequenz, die beneidenswert ist… ach was, zum Fürchten; geradezu unmenschlich. Übermenschlich würden sie selbst wohl sagen.
Wir haben sie in nur drei Wochen in den Augen der Welt herabgewürdigt, mit dem Kainsmal der ewigen Bestie versehen, sie auf unabsehbare Zeit zum Judas unter den Nationen gemacht.
Und trotzdem gehen Sie ihren Weg in den Untergang der morgigen Abstimmung, begegnen dem ihnen entgegenschlagenden Hohn mit leutseligem Großmut und sind so gutgelaunt, als hätte sie noch eine verdammte Wunderwaffe in der Hinterhand.“
„Eine Wunderwaffe?“
„Oh, das kennen Sie nicht? Ein veralteter Ausdruck aus dem zweiten Weltkrieg. Das ist so etwas wie das mythisch-technologische Gegenstück zum göttlichen Bannstrahl.“
Montag, 21. September; Großer Saal der Vereinten Nationen, New York
7:00 Uhr Weltzeit
Zitternde Spannung machte sich wie Gas breit, überflutete die amphitheatergleich ansteigenden Sitzterrassen. Durch das aufgeregte Geschnatter schrillte die elektronische Glocke, die den Sitzungsbeginn verkündete. Schlagartig verstummten die Gespräche, nur hier und dort ließ sich leises Flüstern oder das Rascheln von aufeinander reibenden Aktenblättern vernehmen.
Der amerikanische Präsident beugte sich zu dem neben ihm sitzenden englischen Premierminister herüber.
„Versauen Sie es nicht“, flüsterte er mahnend.
„Halten Sie sich an Ihr Manuskript.“
Mit säuerlichem Gesichtsausdruck zischte der Premier eine Zustimmung zurück.
Es wurmte ihn mächtig, dass ihn die Amerikaner genötigt hatten eine Rede zu halten, die das US-Außenministerium verfasst hatte.
Zwar stimmte er dem Inhalt durchaus zu, aber er verabscheute es, dass er wie ein Lakai das ausgearbeitete Manuskript auf seinem Schreibtisch vorgefunden hatte. In dem beigefügten Begleitschreiben war ihm unmissverständlich klar gemacht worden, dass die US-Regierung andernfalls auch mit dem Spitzenkandidaten der Opposition bei der anstehenden Wahl gut leben könnte. Dies würde den Medien gerne mitgeteilt.
Innerlich fluchend ging er in Gedanken seine Rede durch.
´Sprache der Auschwitz-Schlächter…, Überfälle auf friedliche Nachbarn…, militaristische, preußische Tradition…, Auslöser zweier Weltkriege…, ist eine Zumutung für die Nachfahren der Ermordeten dieses Idiom zu erlernen…, zu bedenken, Englisch als Sprache der UNO…, akzeptieren kein Sprachdiktat der Preulen…, freie Entscheidung der Erdbevölkerung…, notfalls, was nicht zu hoffen ist, Verzicht auf einen dauerhaften Austausch unter diesen Umständen…´, memorierte er die Stichworte still vor sich hin.
Der Präsident hatte sich derweilen zu seinem anderen Sitznachbarn umgedreht.
Wie es seine Art war, lächelte ihm der chinesische Staatspräsident unergründlich zu.
Und wie jedes Mal fühlte sich Chainsaw verhöhnt.
Als er an die Konzessionen dachte, die er den Schlitzaugen für ihre Unterstützung bei der heutigen Abstimmung zu machen gezwungen war, packte ihn kalte Wut.
Da in diesem Moment der deutsche Bundeskanzler an das Rednerpult getreten war, nahm er den Focus seiner Entrüstung vom Chinesen, um ihn ganz auf den Deutschen zu richten.
Der Bundeskanzler räusperte sich.
„Meine Damen und Herren, heute ist ein denkwürdiger Tag“, sagte er. Sein voluminöses Organ ließ die Trommelfelle der Zuhörer angenehm vibrieren. Selbst an den sachlichen, scheinbar körperlosen Stimmen der Simultanübersetzter stahl sich der warme Klang seiner Stimme vorbei.
Einige Delegierte nahmen für einen Moment die Köpfhörer ab, um der fremden, so angenehmen Melodie zu lauschen.
„Am heutigen Tag werden Sie, meine Damen und Herren, entscheiden, mit welchem Zungenschlag die Erde künftig mit ihren kosmischen Freunden zu sprechen wünscht.“
Er unterbrach, da zaghafter Beifall erklang.
„Wie Ihnen bekannt ist, haben die ´Preulen´ die Deutsche Sprache als Basis der gemeinsamen Kommunikation vorgeschlagen.
Ich spreche hier wohl für alle Deutschen, Schweizer, Österreicher, Südtiroler, Luxemburger und Liechtensteiner, wenn ich Ihnen sage, dass ich dies als große Ehre empfinde.
Nach vorausgegangenen Konsultationen und in Übereinstimmung mit allen deutschsprachigen Regierungen und Vertretungen haben der Deutsche Bundestag und die Regierung der Bundesrepublik Deutschland sich jedoch gegen die Unterstützung des Vorschlages der ´Preulen´ ausgesprochen.“
Die Überraschung der Delegierten manifestierte sich in einem unüberhörbaren Raunen.
Bislang war man davon ausgegangen, dass die Deutschen ohne Rücksicht auf Verluste um ein Votum für die deutsche Sprache kämpfen würden. Die Deutschen selbst ergingen sich in viel sagenden Andeutungen, hatten aber nichts bestätigt oder dementiert.
Der US-Präsident sah verwirrt um sich, während seine Berater aufgeregt zu ergründen versuchten, was den überraschenden Umschwung des deutschen Standpunktes herbeigeführt haben könnte.
„So wie wir Deutschen uns an die Verbrechen unserer Vorfahren mit Grauen erinnern, ist das Gedenken an diese dunklen Zeitalter auch im jüdischen Volk evident. Wir haben erkannt, dass es den Nachfahren des Holocaust unmöglich zuzumuten ist, die Sprache, mit der ihre Ahnen in die Massengräber und Gaskammern getrieben wurden, wieder und wieder anhören zu müssen.
Denn jeder Fernsehbericht, jeder wissenschaftliche Aufsatz über die ´preulische´ Technologie würde zwangsläufig deutsche Sprachbestandteile enthalten.“
Die Verwirrung war nun vollständig. Der Chinesische Staatspräsident lächelte noch breiter und der US-Präsident war zu perplex, um sich über diese Volte der Deutschen noch ereifern zu können. Im weiten Rund wurde getuschelt und gestikuliert.
„Allerdings leitet die Bundesregierung, und dies auch im Namen aller deutschen Muttersprachler, aus unserem Verzicht ein Vorschlagsrecht für einen Kompromissvorschlag ab“, fuhr der Bundeskanzler fort und blickte Zustimmung erheischend in die Wand aus betretenen Delegiertengesichtern.
Verunsichert sah man sich gegenseitig an, bis der chinesische Präsident aufsprang, ein ´China unterstützt diese Ansicht´ hervorstieß und sich wieder auf seinen Stuhl fallen ließ.
Chainsaw ließ den Blick über die Reihen wandern und erkannte, dass eine Abstimmung hierzu überflüssig war. Das offen zur Schau getragene Wohlwollen für die deutsche Anmaßung war einmütig.
Zögernd nickte er selbst zum Zeichen seines Einverständnisses.
Brownstein der seinen Platz auf einer der Zuschaueremporen gefunden hatte, rang im selben Moment beschwörend die Hände. Niemand beachtete ihn.
Er hatte schlagartig begriffen, dass die Deutschen mit List und Tücke einen Coup de Etat vorbereitet hatten.
Nun war er dazu verurteilt, ohnmächtiger Zeuge des deutschen Triumphes zu werden. Was die Deutschen da trieben war ihm noch nicht klar, aber dass es ein Spiel mit gezinkten Karten war, daran bestand für ihn kein Zweifel mehr.
Und es war clever angelegt.
Die Deutschen zeigten offenherziges Verständnis für die jüdischen Vorbehalte, obwohl sie genau wussten, um was es hier wirklich ging.
Doch diese Demutsgeste sicherte Ihnen die allgemeine Zustimmung für ein Vorschlagsrecht, welches von Ihnen, nüchtern betrachtet, doch ziemlich dreist reklamiert wurde.
Damit saßen soweit alle Trümpfe in Ihrer Hand. Doch was bezweckten Sie?
Wollten Sie es den Amerikanern heimzahlen, indem sie beispielsweise Spanisch ins Spiel brachten? Dachte sie an die deutsch-russische Achse, die ohnehin viel zu stark geworden war und unterstützten die Sprache Ihrer Freunde in Moskau?
Profitierten die Inder, die ein starkes Interesse an der verstärkten Zusammenarbeit mit Deutschland signalisiert hatten?
Mittlerweile sprach der Bundeskanzler wieder.
Mit halbem Ohr hörte Brownstein auf die Übersetzung.
„.. und den ´Preulen´ entgegenkommt. Aber prüfen Sie selbst, ob der Klang dieser wundervollen Sprache Sie unberührt lässt. Sie können die Kopfhörer abnehmen, denn was ich Ihnen als Kostprobe vortragen möchte ist in einer Sprache verfasst, die den Herren und Damen von der Übersetzung unbekannt sein dürfte.
Leihen Sie mir Ihre Ohren für ein Gedicht, das mir mein Großvater oft vorlas, als ich noch ein kleiner Junge war.“
Der Bundeskanzler verharrte; bewegungslos wie aus Granit gemeißelt. Mit seinen halbgeschlossenen Augen wirkte er versunken und fern der Welt, einem olympischen Gott gleichend.
Doch kaum hatten die letzten Delegierten die Kopfhörer zögernd abgelegt, schwoll sein Brustkorb.
Er holte tief Atem und dann brach es in einen mollfarbigen Tonfall aus ihm heraus:
„In a klain Schtetl ganz morgen fartug
Es hert sech a Gejummer a Gewain în a Klug
Mentschen, halb nacket, fîn die Betten arois
Jiden traibt men zî die Bahn arois!“
Brownstein trafen die Worte wie Hammerschläge. Es schnürte ihm die Kehle zu. Tränen traten in seine Augen. Ganz leise flüsterte er:
„In einer kleinen Stadt, lange vor Tagesanbruch
Erhebt sich Jammer, Weinen und Klage
halbnackte Menschen, aus den Betten heraus,
Juden treibt man zur Bahn heraus!“
Er verstand es!
Und erst dann begriff er es.
Vor seinem inneren Auge erstand sein Großvater auf. Sprach mit ihm in der Sprache seiner Vorfahren. Dies war ihr ganz eigenes Deutsch, das sie selbst aus Deutschland mit fortgenommen hatten, schon lange vor der Entdeckung Amerikas.
Gerettet durch Zeit, Entfernung und Assimilation hindurch.
Bewahrt und rein gehalten.
Und voller Heiterkeit erkannte er seine Zukunft. Gab es auf der Welt überhaupt eine Handvoll Menschen, die gleich ihm diese Sprache beherrschten? War er womöglich der Letzte und Erste der sie sprach? War es an ihm, die Stimme der Welt zu werden?
Nichts schien unmöglich.
Jiddisches Original und Deutsche Entsprechung
In a klain Schtetl ganz morgen fartug
In einer kleinen Stadt, lange vor Tag
Es hert sech a Gejummer a Gewain în a Klug
hört man Geschrei, Weinen und Klage
Mentschen, halb nacket, fîn die Betten arois
halbnackte Menschen, aus den Betten geholt,
Jiden traibt men zî die Bahn arois!
Juden, die zur Bahn gebracht werden.
Nischt baschraiben kenn die feder,
Niemand kann das beschreiben
wie es draien sech die Raider!
Wie die Räder sich drehen
Die Wagones senen fîll
volle Waggons
Dort firt men die Jiden
dort führt man die Juden
oif Kiddusch haSchem - nuch Treblinka.
in den Tod: nach Treblinka.
În îndsere Brider fîn jener Sait Jam
Unsere Brüder auf der anderen Seite des Meeres,
Sai weln nischt wissen dem bitteren Tam
wissen sie nicht die bittere Wahrheit?
Sai kennen nischt wissen die bittere Noit
Sie haben von unserer Not nicht erfahren
As jedem Tug erwartet înds der Toit.
wo jede Stunde uns den Tod bringt.
Die Milchume wet oich amul nehmen an Ek
Auch dieser Krieg wird einmal ein Ende nehmen
Die Welt wet arîmnehmen a groisamen Schreck
Einen grausamer Schock für die Welt.
Ungefillt mit Waitik dus jidische Herz
Voller Sehnsucht das jüdische Herz
Wejer kenn farschtain îndseren Schmerz.
Wer kann unseren Schmerz verstehen?
Taichen Treren weln rinnen,
Flüsse von Tränen werden fließen
as men wet amul gefinen
Wenn man es entdeckt:
dem greßten Kaiwer oif der Welt.
Das größte Grab der Welt
Dort liegen Millionen oif Kiddisch haSchem - In Treblinka.
Es sind Millionen, die dort liegen, geheiligt wurde der Name - in Treblinka.