- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 14
Spott-Hannes
Einst lebte ein Junge mit dem Namen Hannes. Sein Vater war vor einigen Jahren gestorben. Hannes kannte ihn nicht einmal, zumindest erinnerte er sich nicht mehr. Das einzige, was ihm von seinem Vater geblieben ist, trägt er immer in seiner Hosentasche: Ein schönes Taschenmesser mit einem Griff aus geschnitztem Holz und einer ausklappbaren Klinge, die scharf blitzt, wenn man sie in die Sonne hält.
Er wohnte mit seiner Mutter zusammen, die allerdings kaum Zeit für ihren Jungen hatte, so wichtig und lieb Hannes ihr auch war. Sie schuftete bis in den späten Abend hinein, um ihm wenigstens das Nötigste zu bieten. Ist Hannes am Nachmittag von der Schule gekommen, fand er die kleine Dachwohnung stets leer vor. Er erledigte die Schulaufgaben und kaufte ein, verrichtete die Hausarbeit und kochte, damit er noch mit der Mutter essen konnte, bevor er ins Bett musste. Am meisten genoss Hannes den Kuss, den sie Abend für Abend auf seine Stirn drückte, wenn er die Augenlider geschlossen hatte.
In die Schule ging Hannes gerne. Er war ein fleißiger Schüler und lernte viel flotter rechnen und schreiben als die anderen Kinder. Er wusste immer alles und wenn die Lehrerin eine Frage an die Klasse richtete, konnte sie sicher sein, dass Hannes' Arm als erster in die Höhe schoss und seine Lippen, wenn sie ihn aufrief, stets die richtige Antwort ausstießen. Auch die Mutter beeindruckte er manchmal, in dem er ihr die vielen Namen der Bäume und Pflanzen im Wald nennen konnte, wenn sie doch einmal Zeit fanden, gemeinsam spazieren zu gehen.
Nur die Kinder in der Schule beeindruckte er nicht. Die begannen nämlich, neidisch zu werden, dass Hannes so gescheit war. Während sie noch Buchstaben für Buchstaben in ihrem Lesebuch abstotterten, konnte Hannes daraus schon die schönsten Texte vortragen. Und während sie mühsam ihre Finger gebrauchten, um drei und drei zusammenzuzählen, konnte Hannes schon richtig plus und minus rechnen und machte selbst vor großen Zahlen nicht halt. 37 plus 15. 73 weniger 11, selbst was über einhundert hinausging, beherrschte er schon einigermaßen.
Nach und nach begannen die anderen, ihn zu verspotten. Auf dem Schulhof, jeden Tag. „Du glaubst, dass du so klug bist“, riefen sie Hannes zu, der sich in diesen Momenten für sein Wissen schämte. Er wollte doch gar nicht so gescheit sein und er wollte den anderen helfen, Rechnen und Lesen zu lernen. Aber statt dass sie ihn ließen, machten sie sich über ihn lustig: „Spott-Hannes“, kreischten seine Mitschüler und lachten dann über seine Nase. Die sei nämlich groß, dick und rund und passe gar nicht in Hannes' kindliches Gesicht und zu seinem zierlichen Körper. „Knollennase“, riefen sie und deuteten mit den Fingern auf ihn. Einige hielten gar eine Hand vors Gesicht und formten sie zu einer Faust. „Ich bin der Spott-Hannes und habe eine Knollennase“, plärrten sie dann über den ganzen Pausenhof und alle, die außen herum standen, brachen in schallendes Gelächter aus.
Hannes stand abseits und versuchte sich nichts anmerken zu lassen, doch sein Herz weinte und jede Hänselei ließ eine neue Träne rinnen. Er begann, seine Nase zu hassen und fürchtete sich gar davor, morgens in den Spiegel zu schauen, wo er nur die fette Knollennase erkannte, die das Lachen der Klassenkameraden in seine Ohren trug.
Als sie ihn eines Tages wieder verspottet hatten, ging er nach Hause, traurig und enttäuscht. Er saß auf dem Stuhl in der Küche und seine Hand glitt zufällig über die rechte Seitentasche der Hose. Er spürte das Taschenmesser und er zog es heraus. So sehr hasste er seine Nase inzwischen, dass er sie loswerden wollte, den hässlichen Knollen einfach aus dem Gesicht schneiden. Die Schneide hielt er auf den Nasenrücken gepresst, doch gerade rechtzeitig war die Mutter hereingekommen. Sie sah ihren Jungen und in seiner Hand die blitzende Klinge des Messers. Hannes starrte die Mutter eine ganze Weile mit seinen kleinen, nassgeheulten Augen an und erklärte ihr, dass er mit seiner widerlichen Knollennase nicht weiter leben wolle.
„Du darfst deine Nase nicht hassen, Hannes. Du hast sie von deinem Vater, sie ist wunderschön wie seine“, flüsterte die Mutter, nahm Hannes in den Arm und küsste ihm die Nasenspitze. „Nie wieder darfst du so etwas machen, hörst du?“, redete sie auf ihn ein und wollte ihm das Messer abnehmen. Doch er klammerte es fest in seinen Händen, als er ansonsten nur mit dem Kopf nickte.
*
Damit er nicht wieder in die Klasse zurück musste, meldete ihn die Mutter für die zweite Schule in der Stadt. Sie hatte es geschafft, Hannes davon zu überzeugen, dass seine Nase ein ganz persönlicher Teil von ihm ist, und er trug seine Büchertasche gar frohen Mutes in die neue Schule, nicht wieder „Knollennase“ gerufen zu werden.
Doch es erging ihm auch dort nicht besser. Schon nach wenigen Tagen waren die Kinder voller Neid ob Hannes' Fleiß und Gescheitheit und der Beiname „Spott-Hannes“ haftete ihm bald wieder an. Nur hatten es die Kinder diesmal auf seine Ohren abgesehen, die wie bei einem Segelflieger nach den Seiten abstünden. Manche seiner neuen Mitschüler drückten mit den Fingern ihre Ohren hinunter, summten und sausten wie ein Flugzeug über den Pausenhof. „Seht her, ich bin der Spott-Hannes und habe Segelohren“, riefen sie dabei und alle, die außen herum standen, brachen in schallendes Gelächter aus.
Wieder begann Hannes, den kleinen Jungen im Spiegel zu hassen, der ihm Morgen für Morgen immer trübseliger entgegen blickte. An den Nachmittagen saß er zu Hause und heulte. Wieder zog er eines Nachmittags das Taschenmesser seines Vaters aus der Tasche und was er der Mutter versprochen hatte, war ganz vergessen. Den Knorpel ein wenig weggedrückt, setzte er die Schneide gleich hinter der Ohrmuschel an. Doch die Mutter kam wieder rechtzeitig und hinderte ihn, das Messer fest nach unten durchzuziehen.
„Du darfst deine Ohren nicht hassen, Hannes. Du hast sie von deinem Vater, sie sind wunderschön wie seine“, flüsterte die Mutter, bevor sie ihn in die Arme schloss und mit ihren Lippen zart die Ohrläppchen küsste. „Nie wieder darfst du so etwas machen, hörst du?“, redete sie erneut auf ihn ein, denn das Messer, die einzige Erinnerung an seinen Vater, ließ er sich auch jetzt nicht wegreißen. Er steckte es in seine Tasche und wieder vergingen Tage, bis Hannes und seine Mutter alles verarbeitet hatten.
*
Dann meldete sie ihn erneut für eine andere Schule an. Es war die dritte und einzig übrig gebliebene der Stadt. Hannes fühlte sich dort sofort wohl und verstand sich auch mit seinen Klassenkameraden prächtig. Schnell fand er zu seinem alten Fleiß zurück und die anderen Kinder ließen sich gar von ihm helfen. Obwohl Hannes erneut der Beste im Lesen und Schreiben und Rechnen war, mochten ihn die anderen Kinder und waren fast wie Freunde für Hannes geworden.
Bis zu dem Tag, an dem er plötzlich die Brille trug. Seine Augen seien in den letzten Wochen schlechter geworden, weil er so viel geweint habe, hatte ihm der Arzt erklärt. Damit sie sich wieder erholen können, brauche Hannes unbedingt eine Brille. Die Mutter hatte sich gar frei genommen, um ihm bei der Auswahl zu helfen und Hannes fand seine neue Brille an diesem Nachmittag wirklich schön. Fast schien es, als hätte Hannes von seinem Außenseiterdasein ins richtige Leben zurückgefunden.
Doch kaum war er mit den Augengläsern auf der Nase in die Schule gekommen, lachten die anderen Kinder: „Blindschleiche“, riefen sie, immer- und immerzu und er war für sie wieder nichts weiter als der Spott-Hannes, den sie mit albernen Gesten und Grimassen nachäfften. Er stand abseits auf dem Pausenhof und alle, die außen herum waren, brachen in schallendes Gelächter aus.
Er hasste seine Augen, weil sie so schlecht geworden sind und ihm jede Chance auf Anerkennung, Respekt oder gar Freundschaft verweigert hatten. Noch am selben Tag hatte er das Messer genommen und führte die Spitze ganz nah an den blutunterlaufenen Apfel seines linken Auges. Die Mutter kam herein, rechtzeitig, und schaute mit an, wie sich ihr geliebter Junge nun zum dritten Mal selbst verletzten wollte, wie er dabei war, sich seine wunderschönen grünen Augen auszustechen, die sein Vater ihm vermacht hatte.
*
Sie wusste nicht weiter und als einzige Hoffnung blieb ihr, Hannes auf ein Internat zu schicken. Hannes wollte nicht, doch als sie ihn zum Bahnhof brachte, war auch er voller Hoffnung, dort endlich ein Leben leben zu können, in dem er für die anderen kein Spott-Hannes mehr war, den alle auslachen wegen seiner Nase, seinen Ohren und seiner Brille. Sie lachten, weil sie neidisch waren, ob Hannes' Fleiß, und weil er so gescheit war und sie selbst so dumm. Manche lachten aus Langeweile, manche aus purer Bosheit. Viele lachten auch einfach, weil es leichter war als sich gegen die anderen aufzulehnen und man fürchtete, dann selbst zum Spott-Hannes zu werden.
Doch schon am ersten Tag im Internet zerplatzte Hannes' Wunsch, endlich akzeptiert zu werden. „Deine Mutter schickt dich nur hierher, weil sie dich nicht liebt!“, rief eines der Kinder. Und als sie erfuhren, dass sein Vater gestorben war, kreischten sie: „Dein Vater hatte es nicht mit dir ausgehalten, deswegen ist er gestorben!“
„Du liebloses Ungeheuer“, brüllte ein dicker Junge, „hast deinen eigenen Vater umgebracht - Kein Wunder, dass dich keiner mag!“ und alle, die außen herum standen, brachen in schallendes Gelächter aus. Ein Mädel schüttelte den Kopf und fragte Hannes, warum er überhaupt ein Herz habe, wenn es doch niemanden gäbe, der ihn liebt und versteht.
Zufällig hatte eine der Aufseherin mitbekommen, wie Hannes von den anderen Kindern im Internat empfangen wurde. Streng schickte sie diese auf ihre Zimmer und drohte, dass das noch Folgen haben würde. Sie schimpfte so sehr, dass sie keine Acht auf Hannes gab.
„Das Mädchen hat Recht“, war sein letzter Gedanke, „warum habe ich überhaupt ein Herz?“, weinte er und er hasste das überflüssige kleine Pümpchen in seiner Brust. Leblos lag er auf dem Rücken, der hölzerne Griff seines Taschenmessers ragte aus dem toten Körper des hilflosen, stets nur verspotteten Jungens.