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Splitter und Balken
Der Platz war leer.
„Fuck!“
Andi ließ die Scheinwerfer seines VW Käfer aufleuchten, startete erneut den Motor und drehte eine langsame Runde: nichts, nicht mal eine Ratte ließ sich blicken. Was war da los? Er checkte die Wolkenkratzer rings um, nicht ein helles Fenster. Selbst das Wetter passte in diese Science Fiction Szenerie: windstill, wolkenschwerer Himmel, kein Mond zu sehen. Einzig die Straßenbeleuchtung tat so, als wäre alles wie immer.
„Verfluchte heilige Scheiße!“, schrie er in das Schweigen und irgendwo in der Ferne glaubte er, Krähen Antworten krächzen zu hören. Andi schaltete den Motor ab, identifizierte die Geräusche von Hubschraubern. Aufschauend stellte er fest, dass sie noch außer Sichtweite waren. Wieder drehte er den Zündschlüssel um, gab behutsam Gas und überquerte den Platz, um sich im angrenzenden Stadtforst zu verstecken.
Wie waren sie ihm so schnell auf die Spur gekommen? Sicher hatte er eine hinterlassen, im Darknet sowie in den offiziellen Netzwerken, allerdings, dumm war er nicht, nur auf den Pinnwänden seiner Fake Profile, welche er unter den Nicknames Fu Hannes, Jesco und Karl-Peter pflegte. Kurz vor seinem Aufbruch hatte er die Posts abgesetzt, in denen er ankündigte, dass dies sein großer Tag sei, wo er es allen zeigen werde, allen, die auf ihn herabgesehen hatten, ihn nicht beachtet, verachtet, sich nicht die Mühe gemacht hatten, seine wahre Größe zu erkennen. Allen würde er es zeigen, allen, mit ihren blinden Splitteraugen. So hatte es Oma Josepha immer bezeichnet, wenn die ihn verspottet und auf dem Schulweg verdroschen hatten:
„Die haben die Augen voll Splitter, Andi, deshalb sehen sie dich nicht, aber du wirst es ihnen zeigen, aus welchem Holz du geschnitten bist, mein Bubi.“
Das würde er! Kein Amoklauf, damit konnte man sich längst kein Denkmal mehr setzten in dieser beschissnen Welt.
„Ein Spinner nur, nur ein armer Irrer...“, würde die Öffentlichkeit in diesem Fall feststellen, um erleichtert aufzuatmen und, kaum innehaltend, sich, verächtlich lachend, zurück in ihren Alltag der Superlative zu stürzen, voller geiler Megas, die sie ihm verwehrten. Die einzige Währung, die denen wirklich Angst einjagte, war Terror. Er glaubte weder an Gott noch Teufel, aber an seine eigene Größe. So hatte er den alten, vom Großvater geerbten, VW Käfer wieder flott gemacht und sich eine Kalaschnikow besorgt. Damit wollte er heute, nach bewährtem Vorbild, auf dem belebtesten Platz der Stadt in die Menge rasen, auf die Fliehenden ballern und Allahu Akbar schreien, nur die letzte Kugel aufsparend, um sich selbst ins Nirwana zu befördern. Und falls es doch ein Paradies gab mit auf ihn wartenden Jungfrauen, so hatte er nichts dagegen, auch auf diesem Gebiet war er zu kurz gekommen.
Rau lachend schüttelte Andi den Kopf, so dumm war er nicht. Das Einzige, woran er glaubte, war Gerechtigkeit, sein Ruhm, den er endlich ernten wollte.
Aber was zum Teufel ging hier vor? Er spähte in die Dunkelheit und lauschte. Nur die Hubschrauber waren in der Ferne zu hören. Nichts hatte sich verändert. Andi schaltete sein Radio an:
„… bleibt zu Hause und hört Soundcheck 24, Euren Sender in jeder Lage, für jede Stimmung und auch für dieses Wetter!“
Wie auf das Stichwort heulte ein Wind auf, der an seinem VW Käfer rüttelte, ein grellweißer Blitz zerfetzte den Himmel, augenblicklich folgten ihm weitere seiner Art, dazu dröhnender Donner und peitschender Regen. Ein blutroter Mond, wie er noch keinen gesehen hatte, schaute grinsend auf ihn herab. Andi packte seine Kalaschnikow, stieß die Fahrertür auf, schwang die Füße in den Matsch, drehte sich seitlich raus, wollte aufspringen, doch der Sicherheitsgurt hielt ihn zurück.
“Verdammich!”, schrie er und feuerte eine Salve in den Himmel. „Allahu Akbar!“
Der Wind, der zum Sturm herangewachsen war, entriss ihm die Worte, Blitze zerbröselten sie in ihre Buchstaben, welche der Donner verschluckte und wieder erbrach, der Regen spie ihm die ganze Suppe in die Vissage. Wieder hob er das Gewehr, drückte brüllend ab, jetzt hörte er ein anderes, dumpf berstendes Krachen.
„Gewaltiger Balken!“, dachte er noch, als er zu dem berstenden Ast einer mächtigen Eiche aufsah, der auf ihn herab zu schweben schien, stetig seinem Gesicht näher kommend, um sich schließlich, mit seinem spitz zulaufenden Ende voran, Millimeter für Millimeter in sein rechtes Auge zu bohren, wobei sich ein elektrisierender Schmerz durch seinen Körper wühlte, der alles, selbst seine Wut, verbrannte. Andis Hände hatten das Gewehr verloren. Gleich gestutzten Flügeln flogen seine Arme zum Kopf, um auf halber Strecke kraftlos auf die längst gelähmten Lenden herabzusacken. Der Ast der Eiche verkeilte sich derart in der Karosserie des VW Käfer, das er den Körper seines Opfers mit nach hinten überstrecktem Kopf und grotesk durchgebogenen Rückgrat im Türrahmen fixierte.
Wie unter solchen Umständen nicht anders zu erwarten, zog Andis kurzes Leben in seiner trivialen Belanglosigkeit an seinem inneren Auge vorbei. Einziger Lichtblick war die Großmutter, wie sie ihn an ihren mächtigen Busen drückte, seinen Kopf streichelte und über die Splitter in den Augen der Anderen schimpfte.
Andis Lebensfilm wurde untermalt vom Punksong der Ärzte: „Schrei nach Liebe“. Wenn er schon an keinen Gott glaubte, glaubte er jetzt an den Teufel, denn das war genau der Song, den er von allen am meisten hasste. Er sollte ihn bis zum Schlussakkord verfolgen, die sich anschließende Stimme des Moderators nahm er nicht mehr wahr:
„Bleibt zu Hause und hört Soundcheck 24, Euren Sender in jeder Lage, für jede Stimmung und auch für dieses Wetter! Die Katastrophenwarnung gilt weiterhin und die Evakuierungsmaßnahmen rund um den...”
Der Ton erstarb.