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Spinnendämmerung

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17.04.2003
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Spinnendämmerung

Spinnendämmerung

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht gewollt.

Gewidmet den Opfern des Highschool-Massakers von Littleton.


Verwundert starrte er auf seine Fingerspitzen, die vom Blut, das aus seiner Nase lief, rötlich glänzten. Im Hintergrund, kaum wahrnehmbar für seine Sinne, schienen die Verhöhnungen der Anderen ein makaberes Crescendo erreicht zu haben. Er fragte sich, was falsch gelaufen war. Er hatte sich genau nach dem gerichtet, was die Spinne ihm gesagt hatte, war hart geblieben, war kalt geblieben, hatte jegliche gefühlsmäßige Reaktion in den Griff bekommen. Er war Spinne gewesen, Spinne war er gewesen. Und doch blutete er.
Spinnen bluten nicht.
Ihr Panzer bricht nicht.

In diesem Moment war ihm klar, dass er versagt hatte.
Wieder einmal.
Er war nicht die Spinne. Er war immer noch der Wurm, der zu sein er immer abgelehnt hatte. Und als er dies realisierte, kamen die Tränen, wie ein altvertrauter Feind. Die Anderen verstanden nicht. Wie konnten sie auch. Sie sahen nicht in ihn, sahen seine Beweggründe nicht. Als ob er wegen der lächerlichen Verletzung weinen würde. Er versuchte die sich aufdrängende Tatsache, dass diese verflucht weh tat, zu ignorieren.
Spinnen fühlen keinen Schmerz.
Er stand langsam auf; die Tränen rannen in Strömen sein Gesicht herunter, vermengten sich mit seinem Blut, zerliefen im schneidenden Dezemberwind zu bizarren Mustern.
Wie in Trance sah er sich um. Um ihn herum die Meute der Bluthunde. Ihr Anführer, eine groteske Gestalt mit einer ausgebeulten Hose und einer Sonnenbrille, lächelte ihn bösartig an. Sie konnten nicht verstehen. Er versuchte verzweifelt, sich auf die Spinne in ihm zu konzentrieren, sie über ihn Macht gewinnen zu lassen. Er sammelte seine Schultasche auf und machte sich, begleitet vom heulenden, beinahe infernalisch tosenden Siegesbebrüll der Bluthunde auf nach Hause.

Zuhause. Sein Zuhause. Er fragte sich, was es bedeutete, dieses Wort, mit dem scheinbar jedermann um sich warf, wie es ihm beliebte.
Er sah aus dem Fenster. Doch sein Blick blieb verschlossen für die bezaubernde Tödlichkeit der Schneelandschaft, für die scheinbare Idylle der Nachbarskinder, die einen in seiner Einfachheit lächerlichen Schneemann konstruierten.
Sein Brennpunkt lag keine fünf Zentimeter hinter der wärmespeichernden Doppelglasschicht des Fensters. Dort, durch das launische Wetter mit kleinen Perlen besetzt, befand sich ein kleines Meisterwerk der insektoiden Baukunst.
Eine erhabene Kreuzspinne thronte in der Mitte ihres Netzes aus Kraft und Überlegenheit und blickte ihn mit einem wissenden, lauernden Blick an. Sie trug das Kreuz auf ihrem Rücken wie ein zynisches Zeichen der Macht und des Überlebens.
Sie war noch da. Trotz der beinahe inquisitorischen Umtriebe seiner Mutter, die die Fackel durch ein Insektenspray ersetzt hatte, war sie noch da. Sie hatte den ungleich stärkeren Feind überlistet. Noch ein Zeichen ihrer Stärke. dachte er. Er überlegte, was er tun sollte, um wie sie zu werden.

Unten im Haus sang jemand, den er nicht namentlich kannte einen uralten Song im Radio. "Walking in a winterwonderland..." Die Weinachtszeit. Er hatte schon beinahe vergessen, wie sehr er diese aufgesetzte Feststimmung hasste. Er stand auf, und legte eine CD in seine Stereoanlage ein. Zwei Knopfdrücke später brüllte irgendeine Industrial-Combo ihren Hass auf die Welt heraus und es half ihm, seinen Kopf wieder klar zu kriegen, die heutige Niederlage zu vergessen. Er legte sich mit dem Rücken auf sein Bett und dachte nach. Er verlor sich in der Musik und summte gedankenverloren den Refrain mit.
Sein Blick schweifte durch sein Zimmer. Schwarze Kerzen, ein umgedrehtes Kreuz, eine riesige Zeichnung einer Spinne, die er letzte Woche angefertigt hatte. Alle sagten, er hätte Talent zum Zeichnen. Kunst war das einzige Fach, in dem er über eine Vier herausgekommen war, obwohl er in der Schule nur selten erschien.
Ihm war durchaus klar, dass er keinesfalls dumm war, er wusste seinen genauen Intelligenzquotienten nicht, schätzte ihn aber so um die 110, 120, was verflucht gut war, wenn man bedachte, dass er lediglich die Hauptschule besuchte.
Er blickte weiter, über das Iron Maiden-Poster, das Sportgewehr, das er zum sechzehnten Geburtstag von seinem Vater bekommen hatte, bis wieder zum Fenster, von wo ihn die Spinne immer noch anstarrte.
Was soll ich denn machen?
Von dem Tier kam keine Antwort, die er hätte hören können.
Gib mir ein Zeichen! flehte er, doch seine Gebete, so sie das waren, wurden nicht erhört.
Ihm wurde schlecht beim Gedanken, morgen wieder durch die gleiche Hölle gehen zu müssen, sich wieder den gleichen Martern auszusetzen, wie heute.
Und Gestern.
Und die Tage davor.
Manchmal schien das Leben es in einer Art 'kosmischer Ironie' vorgesehen zu haben, dass er den Fußabtreter für eine ganze Schule spielte.
Er fragte sich, was er getan hatte, um so bestraft zu werden.
Dann fiel ihm auf, dass lediglich die religiösen Fanatiker wie sein Religionslehrer mit althergebrachten Idiomen wie Tat/Strafe argumentierten und er überlegte, ob er vielleicht tatsächlich nichts getan hatte und zu diesem Leben einfach nur verdammt war.
Wieder kroch sein Blick zur Kreuzspinne, die regungslos in ihrem Netz thronte und die Situation aus kalten, emotionslosen, überlegenen Facettenaugen betrachtete.
Einmal mehr wünschte er sich, seine Gefühle abschalten zu können.
Mehr Spinne zu sein, als weichlicher Mensch.
Lauernd auf seine Chance zu warten.
Sein Blick schweifte zum Gewehr und ungewollte, dennoch willkommene Visionen von Rache und elementarer Vergeltung drängten sich ihm auf.

Die Pausen waren am schlimmsten.
Wenn die einen der Meute im nahen Wald waren um sich einen Joint zu rollen und die anderen genug Langeweile hatten, um sich an ihr Lieblingsopfer zu erinnern.
Es half nichts, sich irgendwo innerhalb des Schulgebäudes zu verstecken.
Die Meute witterte.
Die Meute jagte.
Die Meute fand ihr Opfer immer.
Die Spinne konnte nur warten.
All diese Gedanken gingen ihm in dem einzelnen Moment, in dem die Schultasche ihn am Kopf traf und zu Boden warf, durch den Kopf.
Als er merkte, wie das Blut aus der Platzwunde auf das Eis des Schulhofes sickerte
rote schlieren auf dem eis
und dort Muster bildete, die vielleicht etwas bedeuteten, wurde ihm klar, dass es an der Zeit war, etwas zu unternehmen.
Als Erstes hieß das, aus dieser Situation zu entkommen, ohne noch mehr Schläge einzustecken.
Also raffte er sich träge, wie ein angezählter Boxer nach einem Leberhaken, wieder auf und sah sich um. Das Blut, das in sein linkes Auge sickerte,
rote schlieren auf dem eis
enthüllte mehr als es verbarg.
Sie war auch da. Stand neben den Bluthunden. Lächelte.
In dem Moment wurde ihm kalt ums Herz.
Eiskalt.
Er fragte sich, ob es nicht langsam Zeit war, das Netz zu spinnen.
Es war Zeit.
Er machte zögerlich einen Schritt nach vorn und rammte dem Führer der Meute so schnell er konnte die Faust in den Magen. Lange Zeit des Hasses hatte ihm eine Kraft verliehen, die nicht nur aus Muskelmasse, sondern zu einem guten Teil aus Frustration und Wut kam. Der Bluthund sah mehr erstaunt als verletzt aus und er beschloss, diesen kleinen Vorsprung, den er sich erarbeitet hatte, nicht ungenutzt verstreichen zu lassen.
Er wischte sich rasch die Augen frei
rote schlieren auf dem eis
und rannte durch eine Lücke in der sonst hochaufgeschlossenen Mauer der tumben Gewalt, die die Meute bildete, in die freiheitversprechende Eiseskälte des nahen Waldes. Hinter sich hörte er das Keuchen und Jaulen, die Hetzlaute des Rudels. Dennoch entkam er. Er hatte gesiegt.
Das wurde ihm erst klar, als er daheim in seinem Zimmer saß und sich allen Ernstes fragte, was zum Teufel er anders gemacht hatte, als sonst. Dann erinnerte er sich an den winterlichen Stahlreif, der sein Herz zerdrückt hatte, als er sie bei ihnen gesehen hatte.
Ihm wurde klar, dass er zum ersten Mal in seinem Leben wirklich Spinne gewesen war.
Der Wurm war geschlüpft, hatte seine Metamorphose abgeschlossen.
Zeit für die arachnoide Form.
Er verspürte zum ersten Mal seit Langem eine ehrliche, echte Freude.

Er blickte zur Spinne.
Einen Moment stutzte er, dann erkannte er, was sich seinem Blick darbot:
Mitten im Netz befand sich, geschützt von der Spinne persönlich, ein Ei.
Nicht einfach nur ein Ei, das erkannte er sofort, es war mehr ein Zeichen, das Spinne ihm gesendet hatte.
Es war soweit. Es war Zeit, die Fäden zu verbinden und die schwarze Liste zu schreiben. Mit einem Anflug von Sarkasmus und bitterer Traurigkeit erkannte er, dass es wahrscheinlich einfacher war, die aufzuschreiben, die keine Sünde begangen hatten, und deshalb frei von Strafe bleiben würden.
Er sah noch einmal zur Spinne und dem Ei, dann zum Sportgewehr, dann wieder zur Spinne.
Ja, es war wirklich soweit.

Es war bitterkalt im Wald. Der Winter, der sich unerbittlich vorarbeitete, hatte die Bäume mit einer weißen Puderschicht umgeben, die dem Ort beinahe etwas friedliches gab. Es lächelte bei diesem Gedanken zynisch, als er über Kimme und Korn die alte Statue anvisierte.
Hier im blattlosen Busch spürte er die Kälte kaum, auch wenn er wußte, er hätte eigentlich frieren müssen.
Er warf einen kurzen Kontrollblick auf die Armbanduhr, die er zusammen mit der Waffe, die er gerade in der Hand hielt, bekommen hatte.
Es war große Pause.
Zeit für ein wenig Rache.
Es dauerte nicht lange, bis er zwei Gestalten näher kommen sah. Schnell wischte er sich den Schnee aus den Augen und blickte über den Lauf des Gewehres.
Die Statue war ein beliebter Treff bei der Meute, und tatsächlich war der Näherkommende einer von ihnen.
Er erinnerte sich nicht an seinen Namen, aber es war ihm egal.
Die schwarze Liste würde auch ohne so nebensächliche Dinge wie Namen bestehen.
Dann erkannte er sie.
Einen Moment war ihm klar, dass er nicht schießen können würde. Er ließ das Gewehr sinken, das er zuhause mit Mühe und Sorgfalt geputzt und geladen hatte.
Erinnerte sich an die unendlichen Stunden, in denen er sie von Weitem beobachtet hatte, wie sie sich bewegte, wie sie beim Sprechen den Mund bewegte, die unendlichen Stunden, in denen er ihre Mimik und Gestik studiert hatte.
Er konnte nicht hören, was sie sagten, doch die Blicke, die sie sich zuwarfen, sprachen Bände.
Als sie den Bluthund zärtlich küsste, wie sie ihn so oft in seinen Träumen geküsst hatte, besiegelte sie ihr Todesurteil, brach den Stab über ihrem eigenen Haupt.
Zornig, mit Tränen in den Augen, hob er die Waffe wieder, zielte sorgfältig und drückte zweimal ab.
Der Rückstoß prellte ihm die Schulter, doch als er sah, wie der Bluthund durch die Kugeln nach hinten gerissen wurde, war es das wert.
Ein gellender, verzerrter Schrei kam aus ihrem Mund, als einige Blutspritzer
rote schlieren auf dem eis
sie trafen.
Er erhob sich und strich sich mit einem warmen Lächeln das Haar aus dem Gesicht, verlor sich für einen Moment wieder in ihren Augen.
Dann senkte er den Lauf und verpasste dem angeschlagenen Tier, das vor ihm in seinem eigenen Blut auf dem Boden kroch, den Gnadenschuß. Es war ihm kaum bewußt, wie theatralisch diese Geste war, doch wenn, wäre es ihm egal gewesen.
Sie war so schön wie nie. Ihr schulterlanges Haar wehte in den eisigen Böen des Dezemberwindes, als sie einige Schritt zurück ging.
Ihr unbeholfenes Stolpern war graziler, als der anmutigste Schritt jemals hätte sein können.
Der namenlose Schreck, die Panik, die sie empfand, warf eine Maske der Grazie auf ihr perfektes Gesicht, und er spürte, dass er sie in diesem Augenblick mehr liebte, als jemals zuvor.
Schönheit ist vergänglich...
Als er ihr in den Bauch schoss, war der Schlag des Kolbens fast wie ein Orgasmus.

Über die Feuerleiter kletterte er auf das Dach der Schule. Er würde es besser machen, als diese Stümper drüben in den Staaten, die sich den ganzen Medientumult mit ihrem spektakulären Tod erkauft hatten, indem sie erst ihre Mitschüler, dann sich selbst hinrichteten.
Er wollte keinen Ruhm.
Nur blutige Rache.
Er war so entschlossen wie nie. Jeglicher Zweifel in ihm war ausgelöscht, als er sich auf das Dach der Sporthalle legte, und über den Lauf des Gewehrs in den Schulhof blickte.
Ein Kontrollblick auf seine Uhr verriet ihm, dass die große Pause noch genau sechs Minuten andauern würde. Er lag gut im Zeitplan.
Schnell hatte er die Meute ausgemacht. Sie zu identifizieren, fiel ihm nicht schwer, die Schläge, der brennende Schmerz des Schamgefühls hatten jedes einzelne Gesicht in sein Gedächtnis eingebrannt. Die ganze Situation war so, wie er sie sich immer vorgestellt hatte. Er würde richten, und sie würden sterben. Es war auf eine bizarre Art richtig so.
Er gab dem Lauf des Gewehrs einen Kuss, dann blickte er mit einem Stoßgebet wieder durch Kimme und Korn.
Später konnte er sich nicht mehr genau erinnern, was nun passierte. Nur die Schreie blieben in seinem Gedächtnis, das Blut
rote schlieren auf dem eis
und der Blutrausch, der ihn erfasst und gezwungen hatte, wieder und wieder den kleinen Stahlbügel durchzuziehen.
Einmal drücken und ein Leben endet.
Noch einmal und noch einmal und nocheinmal undnocheinmalundnocheinmalund...
Er kam völlig erschöpft zuhause an und ging auf sein Zimmer, wo er das erste Mal, seit er sie gesehen hatte, nicht auf die Spinne achtete.
Seine Mission war endlich erfüllt.
Er hängte das Werkzeug seiner Rache wieder auf den kleinen Haken in der Wand und legte sich auf sein Bett, wo er, noch immer erfüllt von seiner grenzenlosen Befriedigung, einen Blick zum Fenster warf.
Das Ei bewegte sich.
Sofort sprang er auf und lief zur Scheibe, um die Geburt und die Entstehung der neuen Spinne mitzuerleben! In diesem Moment war er sich sicher, dass er alles richtig gemacht hatte.
Dies war seine Belohnung! Die Spinne erlaubte ihm, an der Geburt ihres Nachfolgers teilzuhaben, während sie ihm gleichzeitig zu verstehen gab, dass er nun tatsächlich eine Spinne wie sie selbst war. Was hätte es sonst bedeuten können?
Das Ei öffnete sich, und Hunderte kleiner, schwacher Spinnen krochen heraus und liefen auf ekelhaft fragilen Beinen zu ihrer Mutter.
Angewidert entfernte er sich einen Schritt von der Scheibe und ihm wurde klar, dass diese Brut keinesfalls Spinnen waren, die man aufgrund ihrer Stärke bewundern konnte. Die Spinne würde sicherlich bemerken, dass da etwas schiefgegangen war, und diese eher den Bluthunden als der starken Kreuzspinne ähnlichen Geschöpfe töten, so wie er heute seine Nemesis, die Meute gerichtet und ausgelöscht hatte, und tatsächlich kroch die erhabene Spinne, ohne Schwankungen in ihrem Netz auszulösen, auf ihre Brut zu, doch diese machte keine Anstalten, zu fliehen, stattdessen stürzten sie sich zusammen auf die Spinne und bohrten sich durch ihren Chitinpanzer, durch ihren weichen Bauch, die Spinne schlug zuckend mit ihren Armen um sich, während er drinnen mit Entsetzen mitansah, wie das starke Geschöpf, das er verehrt hatte, von seiner eigenen, mißratenen Brut gemartert und getötet wurde.
Tränen strömten ihm über sein Gesicht, als ihm in Einklang mit den Todeszuckungen der Spinne im Netz die ganze Trostlosigkeit seiner mißratenen Existenz klar wurde, als ihm aufging, dass er wieder versagt hatte.
Diesmal würde es keine zweite Chance geben.
Nicht nach diesem Fehlschlag.
Mit zitternden Fingern wischte er sich einen Blutstropfen aus dem Gesicht, blickte wieder zur Spinne und fühlte sich auf einmal entsetzlich leer.
Er würde Verantwortung übernehmen müssen für das alles.
Ihm war nicht ganz klar, was er falsch gemacht hatte, doch die Zeichen waren kaum anders zu deuten. Ihm wurde auch klar, dass es nur eine Alternative gab.
Er schämte sich seiner Tränen nicht, als er zitternd nach der Rasierklinge griff.

 

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