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Spieltrieb
Zum ersten Mal bemerkte ich etwas Seltsames auf dem Spielplatz in der Unnastraße, als sich der warme Sommer in den September schleppte und man sich fragte, ob die Blätter nun wegen des nahenden Herbstes oder doch wegen der ewigen Hitze welkten. Ich war gerade – es war ungefähr acht Uhr abends, denn ich schlafe gerne lang – auf dem Heimweg von der Bibliothek und schlenderte zufrieden mit einer Tasche voller Bücher an besagtem Spielplatz vorbei. Er ist nicht besonders groß; es gibt nur eine rote Rutsche, die in einem Sandkasten endet, zwei Schaukeln an einem Gerüst, und ein kleines Holzhäuschen, in das man durch zwei seitliche Fenster oder die Türöffnung schauen kann. Autos fahren kaum vorbei, da es eine Spielstraße ist, daher hat man hier für gewöhnlich seine Ruhe.
Der Spielplatz wird nicht direkt beleuchtet, da man ohnehin nur bis sieben dort bleiben soll, aber die zwei Laternen am Gehweg warfen gewöhnlich noch genügend Licht auf den Platz, zumal es noch nicht vollkommen dunkel war. Umso überraschender war das rötliche Licht, das aus dem Holzhäuschen kam. Ab und an saßen Jugendliche in oder auf der Hütte und betranken sich oder knutschten mit der zweiwöchigen Liebe ihres Lebens, aber Licht hatten sie selten dabei. Ich hielt kurz an.
Auf einer der Schaukeln saß, wie ich aus dem Augenwinkel sah, ein schwarzhaariges Kind, das gemächlich vor- und zurückschwang. Das passiert, wenn die Kinder zuhause nicht ausreichend fernsehen dürfen, dann bleiben sie eben länger draußen.
Während ich versuchte, vom Gehweg aus durch das Fenster des Häuschens zu sehen, hörte ich leise eine Kinderstimme, die wohl daraus erklang. Sie redete in einem monotonen Gebrabbel, das ich nicht richtig verstehen konnte. Dazu das leise Rascheln der Blätter und das Quietschen der Schaukel. Das plötzlich aufhörte. Ich blickte überrascht hinüber und sah, wie mich der schwarzhaarige Junge anblickte. Er war von der Schaukel aufgestanden und glotzte zu mir. Ich bin sicherlich nicht furchtlos, aber normale Zehnjährige können mich lange anschauen, bis mir so flau im Magen wird. Instinktiv ging ich einen Schritt zurück, was ihn dazu veranlasste einen Schritt nach vorne zu machen.
„In Ihrem Alter müssen sie doch noch nicht sentimental vor Spielplätzen stehen, junger Mann“, sagte eine Stimme neben mir und ich fuhr zusammen. Ich schluckte den Schrei herunter, den ich beinahe ausgestoßen hätte, und drehte mich um. Da stand eine ältere Frau mit weißen Haaren und einem schwarzen Kopftuch. Die dunkle Bluse war mit roten Tupfern verziert, und an einem Arm trug sie einen Korb.
„Ich… äh…“, stammelte ich, immer noch perplex.
„Es muss Ihnen nicht peinlich sein, das Leben wird nun mal nicht einfacher, nicht wahr.“
Ich atmete langsam aus und beruhigte mich wieder. Dann sagte ich: „Da haben Sie wohl recht. Wenn Sie noch so spät einkaufen gehen müssen…“
Die alte Frau legte mir eine runzlige Hand auf den Arm mit der Büchertasche und lächelte. „Wenn Sie so viel Zeit haben wie ich, spielen Tageszeiten keine so große Rolle mehr. Meine Besorgungen erledige ich ohnehin gerne, irgendwas muss man ja tun.“
Ich nickte und versuchte, ein freundliches Gesicht zu behalten. Irgendwie beruhigte mich ihre Berührung überhaupt nicht. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, als ich antwortete: „Naja, wenigstens das. Äh… ich sollte dann auch nach Hause, ich muss noch eine Hausarbeit bis Sonntag schreiben. Tut mir leid, einen schönen Abend Ihnen noch.“
Sie lächelte mich mit weißen Zähnen an und sagte verständnisvoll: „Natürlich, junger Mann, ich sollte mich auch auf den Weg machen und will Sie nicht aufhalten… man sieht sich bestimmt noch einmal irgendwann.“
Statt „Hoffentlich nicht.“ sagte ich ergeben „Bestimmt, gutes Einkaufen noch, bis dann!“ und lief los, so schnell es ging und immer noch anständig aussah. An der nächsten Ecke bog ich um und wartete kurz, dann blickte ich zurück. Keine Spur von der Frau. Mir fiel ein, dass ich den Jungen und das Leuchten ganz verdrängt hatte, und ich lief noch einmal vorsichtig zurück und spähte hinter einem Busch versteckt auf den Spielplatz. War ich vorher mit einem flauen Gefühl gegangen, fühlte sich mein Magen jetzt wie ein Vakuum an und meine Beine wie verkochte Nudeln. Nichts! Weder war der Junge noch da, noch leuchtete es aus der Hütte. Und der Spielplatz hatte nur den Ausgang, vor dem ich mit der Frau gestanden hatte. Entweder waren sie in der kurzen Zeit, in der ich weggelaufen war, ebenfalls gegangen und hatten das Leuchten mitgenommen, oder sie waren über den Zaun geklettert.
Ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass beides ja sehr wohl möglich war und zuhause ein kühles Bier auf mich wartete. Das flaue Gefühl im Magen konnte ich jedoch nicht gänzlich vertreiben.
Den Rest des Monats beschäftigte ich mich damit, das Ereignis zu verdrängen. Entweder mied ich die Unnastraße oder ich lief ohne mich umzublicken vorbei, obwohl ich manches Mal das Quietschen hörte.
So folgte auf den warmen September ein nebliger Oktober, der nach und nach die Blätter mit sich nahm und die Sicht oft auf wenige Meter beschränkte. Nach einem gemütlichen Ausklingen des Unitages bei einem Bier lief ich wieder einmal um kurz nach acht nach Hause und kam an jenem Spielplatz vorbei. Der Nebel war heute nicht besonders stark, aber zusammen mit der inzwischen herrschenden Dunkelheit schuf er ein durchaus beklemmendes Gesamtbild.
Die letzten Blätter raschelten im Wind, und in der Ferne hörte ich kurz einen Hund bellen, während sich meine Füße mit konstantem tapptapptapp über den Asphalt bewegten. Dann setzte sich ein Geräusch über alle anderen: das Quietschen einer schlecht geölten Schaukel, auf der um diese Zeit niemand mehr sitzen sollte. Warum ich ausgerechnet an einem solchen Abend wieder den Mut fasste, kann ich mir bis heute nicht erklären, aber ich blickte über die blattlosen Sträucher auf den dunklen Spielplatz und konnte vage Bewegungen ausmachen… und ein rötliches Glühen, das aus der Hütte quoll und sich mit dem Nebel wie Blut mit Milch vermischte.
Mein Verstand drängte mich dazu, die Beine in die Hand zu nehmen, um sobald wie möglich eine Türe hinter mir zuschlagen zu können. Doch meine Neugier blendete die schrillenden Alarmsirenen aus und ließ mich langsam auf den sandigen Boden des Spielplatzes zugehen. Sofort kam ein ungutes Gefühl über mich. Scheinbar meinte nicht nur mein Verstand, dass ich hier nicht sein sollte.
Ich hörte, wie das Quietschen aufhörte und die Kette der Schaukel rasselte. Dumpfe Schritte im Sand. Dann eine Stimme wie Eis auf Sandpapier: „Du solltest besser gehen…“
Ich stockte und versuchte, den Jungen in der Dunkelheit auszumachen. Dort hinten, das musste er doch…
„Sie sollten lieber zu einer früheren Zeit hierher kommen, dann ist das Schaukeln nicht so gefährlich“, sagte eine mir bekannte Stimme vom Gehweg aus.
Ich verzog kurz das Gesicht, dann drehte ich mich um und ging vom Spielplatz auf die alte Frau zu. Sie sah aus wie bei unserer letzten Begegnung, dieses Mal war ihr Korb jedoch abgedeckt und sie trug eine beige Bluse mit schwarzen Tupfern.
Sie lächelte mich an und schien mich ebenfalls sofort zu erkennen: „Oh, Sie sind es! Wissen Sie, im Dunkeln kann so viel passieren, ich bin mir sicher, dass die Kinder sie auch mittags nicht gleich vom Spielplatz jagen werden.“
„Die mittags vielleicht nicht“, sagte ich mehr zu mir selbst und verzog das Gesicht.
Sie blickte mich fragend an und sagte: „Welche denn sonst?“
„Naja, die beiden, die gerade hier sind, auf der Schaukel und in der Hütte.“
Die Frau blickte an mir vorbei auf den Spielplatz und hob eine Augenbraue. „Sind Sie sicher, dass jemand hier ist? Für mich sieht das alles sehr leer aus.“
„Aber sehen sie nicht das rötliche Leuchten aus der Hütte? Da muss doch…“, sagte ich und drehte mich um, damit ich darauf zeigen konnte. Mein Mund blieb offen und mein Zeigefinger sank langsam nach unten. Der Spielplatz lag in völliger Dunkelheit da, selbst die Schaukel glitzerte still durch das schwache Licht der Straßenlaterne.
„Ich… also, da war aber… ganz sicher war da…“, sagte ich in einer Mischung aus Verärgerung, panischer Angst und dem unguten Gefühl den Verstand zu verlieren.
„Beruhigen Sie sich, junger Mann. Geht es Ihnen nicht gut? Vielleicht wollen Sie mit mir nach Hause gehen und einen Tee trinken? Das beruhigt, und dann können Sie mir ja erzählen, was Sie gesehen haben.“
Es gab wenige Dinge, die ich weniger gern erlebt hätte. Mit gespielt betrübtem Gesicht sagte ich: „Oh, ich würde wirklich sehr gerne, aber ich muss leider... Aufgaben... und ein Referat...“
Sie trat noch einen Schritt näher an mich heran und blickte mir in die Augen. Es war wie ein Blick in ein dunkles Zimmer. Man weiß, dass es irgendwo Wände geben muss, aber sie sind einfach nicht zu sehen. „Ich glaube, dass es keine so schlechte Idee wäre, sich erst einmal auszuruhen. Es ist auch nicht weit. Kommen Sie doch!“
Ich musste mich anstrengen, um mich von ihrem Blick loszureißen. Entschlossen sagte ich: „Nein danke, ich sollte das wirklich erledigen. Schönen Abend Ihnen noch!“
Unter Aufbietung all meiner Willenskraft riss ich mich los und lief ohne auf eine Antwort zu warten davon.
Sie rief mir noch etwas nach, das die Wörter „Ihre Entscheidung“ und „bereuen“ enthielt. Dann war ich um die Ecke verschwunden und blieb stehen. Ich wartete ein paar Minuten, dann sah ich wieder um die Ecke. Die Frau war verschwunden. Aber da waren die Kinder! Der Junge und das Mädchen verließen den Spielplatz und gingen vermutlich heimwärts in das Höllenloch, das sie ausgespuckt hatte. Entschlossen, neugierig und töricht folgte ich ihnen.
Die Straßen waren wie verlassen, nur der Wind und gefallene Blätter bewegten sich zwischen den Häusern. Ich zog meine Jacke zu und schlich vorsichtig hinter Mauern, Autos und Häuserecken, ohne die beiden aus den Augen zu verlieren. Hatten sie mich wirklich nicht bemerkt? Sie liefen so oft um Ecken, links, links, rechts, links, rechts, rechts, dass ich bald schon nicht mehr wusste, wo ich eigentlich war. Die Häuser wurden älter, die Straßenlaternen spärlicher, und der Wind beißender.
Endlich liefen sie auf ein Haus am Kopfende der Straße zu. Es war beinahe eine Villa, mehrstöckig, schwarz, von einer hohen Hecke umrahmt. Etwa zwanzig Meter entfernt kauerte ich hinter einem klapprigen Auto versteckt. Wollte ich wirklich wissen, wer hier noch wohnte? Beinahe war ich dabei zu gehen, als das Tor aufging und eine Person, die nicht viel größer als die Kinder war, mit einer Lampe in der Hand erschien. Ich lehnte mich vorsichtig etwas weiter um das Auto, damit ich sie besser sehen konnte. Augenblicklich schreckte ich zurück. Das konnte doch... aber es ergab so schrecklich viel Sinn. Ich blickte noch einmal kurz um die Ecke und aus dunkler Vorahnung wurde schaurige Gewissheit: die alte Frau stand vor den Kindern, redete mit ihnen – und blickte mich an. Ich war so weit entfernt, aber ich wusste genau, dass die leeren, schwarzen Augen genau wussten, dass ich hier war.
Mein Puls raste, ich musste hier weg! Von drüben hörte ich Kinderlachen. Mit verschwitzten Händen zog ich mich am Auto hoch und blickte mich nach einem guten Fluchtweg um. Das Lachen der Alten stimmte in das Kinderlachen ein. Kam es näher? Panisch sah ich umher, aber es gab keinen „guten“ Weg. Es war eine verdammte Sackgasse! Vielleicht waren die drei ja nur seltsame Leute? Dennoch harmlos? Was wusste ich schon? Schritte kamen näher, das Lachen war verstummt. Mein Körper wusste genau, dass sie mitnichten harmlos waren. Ohne nachzudenken rannte ich einfach los, hinter den geparkten Autos entlang, an den Anfang der Straße. War sie vorher schon so lang gewesen? Verfolgten sie mich überhaupt? Ich rannte, solange ich konnte, und kam schließlich zumindest an der Kreuzung an. Wohin? Der frostige Wind trug ein krähendes Lachen von links. Ich rannte nach rechts. Schritte aus dieser Richtung. Also geradeaus. Ich lief planlos weiter, getrieben nur von Geräuschen, Echos. War ich so hergekommen? Ich blickte kurz zurück und sah niemanden hinter mir. Der folgende Aufprall trieb mir die Luft aus den Lungen. Keuchend sah ich den schwarzhaarigen Jungen vor mir.
„Wärst du doch mit Mutter gegangen...“, sagte die eisige Stimme.
Ich schrie und rannte zurück. Hörte mich hier denn niemand? Keine Lichter gingen an, aber die Schatten an den Häuserwänden wuchsen plötzlich. Rötliches Glimmen legte sich über die Straße, das Lachen wurde lauter. Meine Lungen brannten, aber ich lief weiter. Wieder eine Kreuzung! Und geradeaus stand das Mädchen!
„... dann wäre das jetzt viel einfacher für dich.“, kicherte es.
Ich entschied mich für die linke Abzweigung und spürte, wie mir die Luft auszugehen drohte. Überall dieses Lachen! Was war hier los? Keuchend mühte ich mich voran, als plötzlich die alte Frau wieder vor mir stand.
„Genug der Spielerei! Wachen Sie auf!“
Ein schwarzer Schleier legte sich über meine Sicht. Quälend langsam wurde es heller, dann konnte ich Schemen erkennen. Ich wollte mir mit der Hand über das Gesicht fahren, aber es ging nicht. Drei Gestalten zeichneten sich gegen das Licht einer Deckenlampe ab. Ich war auf einer Liege festgeschnürt!
Die alte Frau sagte mit zärtlicher Stimme: „Los, Lilith. Mach es so, wie wir es mit den Puppen geübt haben!“
Das Mädchen strahlte freudig, hob den Dolch über mein Herz und stach zu.