Spielplatzwüsten und C-Dur
Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich diese Straße das letzte Mal so bewusst entlang gegangen bin wie heute. Vielleicht habe ich es noch nie getan, weshalb mir die Bilder dieses Tages so neu und doch so alltäglich aufgefallen sind, dass ich mich gefragt habe, in was für einer Zeit wir heute leben.
Kinder. Früher hörte ich schon von weitem ihre fröhlichen Stimmen, ihr ausgelassenes Spiel und die Freude, eine wunderschöne Melodie, unbeschwert, ein C- Dur, leicht wie Frühlingsluft und Rosenduft. Dieses Lied ließ mich aufatmen, schenkte mir ein Lächeln, befreite mein Herz von melancholischen Gedanken. Wenn ich so darüber nachdenke, war es wie ein Licht, ein beruhigendes Licht, durch das ich das Gefühl bekam, die Welt, die schnell gewordene, hektische, leistungsorientierte, sterile, gefühlsarme, auch kalte Welt, die Welt, in der der moderne Mensch lebt (oder gelebt wird?), hat noch ihre Inseln der Ruhe, umspült von einem tobenden Meer aus Hektik und Stress.
Und als ich diesem Lied folgte, zu der Insel, dem Spielplatz, schwamm (oder treiben ließ?), den Sandstrand sah, da nahm ich Urlaub vom Alltag, da entspannte sich mein Herz und relaxte. Kinderspiele sind etwas Wunderbares.
Kinderspiele sind etwas Seltenes.
Die Sonne scheint, die Luft ist angenehm warm. T-Shirt-Wetter.
Ich selbst habe immer darauf gewartet, dass es Frühling wird. Dann nämlich werden die Tage länger und ich hatte mehr Zeit, auf dem Spielplatz zu spielen. Ein burgenbauender, kleiner Architekt war ich oder Pilot auf der Schaukel. Ein Poet, als ich Blumen pflückte und ein Musiker, als ich „99 Luftballons“ oder „Looking for freedom“ sang. In der Fantasie ist man frei, das weiß ich noch heute, das habe ich mir beigebracht und ich bin froh, dass ich die Möglichkeit dazu hatte.
Es soll Kinder geben, die müssen arbeiten. Mir sind bei diesem Gedanken immer die Bilder von Teppich knüpfenden Mädchen und Jungen mit Bauchladen vor Augen. Sie kennen keine unbeschwerten Spiele, man hört sie auch nie lachen, wird kein C-Dur in ihren Augen finden. Wenn sie „99 Luftballons“ oder „Looking for freedom“ kennen würden, so müssten sie noch viel trauriger sein, denke ich. Wenn man das Paradies nicht kennt, dann fehlt auch die Sehnsucht, dann keimt auch keine Hoffnung, die in der Realität verdorren würde.
Ich schweife ab.
Mein Hauptgedanke war, etwas über die heutige Zeit hier in Deutschland zu schreiben. Dass es jetzt einen kleinen Exkurs gab, verdanke ich meiner Fantasie. Sie lässt mich oft die Welten tauschen. Das scheint ein Hobby von ihr zu sein, vielfältig und abwechslungsreich daher zu kommen. Wie ich schon sagte, begleitet mich die Fantasie seit meiner Kindheit. Sie ist wie ein treuer Hund. Ich werfe einen Stock und er bringt mir sonst was.
Wenn ich heute mental einen Stock Richtung Spielplatz werfe, dann werde ich traurig.
Der Sandstrand meiner Kindheit ist zur Wüste geworden. Zu einem Ort der Stille. Vereinzelt nur sehe ich Nomaden unserer Zeit, einsame Kinder, vertieft in sich, ruhend, leidend ruhend.
Was ist nur los in Deutschland?
Ist diese Wüste ein Spiegel?
Fast befürchte ich es.
Und schaue ich in das Konterfeit dieses Kindes, das da sitzt, versunken im Wüstenmeer, auf einer einsamen Insel, die Schippe lustlos in den öden Sand stoßend, wie ein Messer, ein Messer, um diese Tristesse zu töten, dann verstehe ich nur zu gut, was das Kind mir damit sagen will.
Auch ich war einsam.
Auch ich habe an dieser Einsamkeit gelitten.
Jahrelang. Doch war ich da ein Jugendlicher, mitten in der Pubertät.
Aber wie soll man einem Kind erklären, dass es nicht schuld ist an dieser Einsamkeit, dass es nichts dafür kann, einsam zu sein?
Dieses Gefühl wird vorbei gehen, Kind. Glaube mir.
Und ich überlege, wie es diese Einsamkeit durchbrechen könnte.
Ich denke an meine Schwester.
Sie ist 15 Jahre und sie ist oft bei ihrer Clique.
Einmal habe ich sie abgeholt, sah zehn oder mehr Personen in einem kleinen Raum sitzen und Playstation spielen. Den ganzen Tag. Stundenlang. Jahrelang.
Ist das der neue Zeitgeist?
Computerspiele, digitale Welten, Spielplätze und Wüsten?
Ich verstehe das Kind, das draußen sitzt bei diesem Wetter. Ich hätte dasselbe gemacht.
Doch wie lange wird es dort noch sitzen?
Ich habe Angst, dass auch der letzte Fetzen dieser Melodie, die ich so liebe, in der Spielkonsole stirbt.