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Spielgefährten
Sein Weg zur Schule ist durch kahle Büsche gekennzeichnet, denn er reißt die Blätter herunter, zerknetet sie in der Hand, bevor er sie auf die Erde fallen lässt. Warum er das tut, kann er mir nicht sagen, er vermutet, dass er seine Hände beschäftigen muss, während er mit meinem Kugelschreiber herumspielt. Von der Schule selbst will er mir nicht erzählen. Ich habe aber seine Mutter, Lehrer und Klassenkammeraden befragt. Dabei hat sich ergeben, dass er zwar sehr intelligent ist, aber oft keine Motivation zeigt, in der Schule Leistungen zu bringen. Ja manchmal den Lehrern mit Schweigen auf ihre Fragen antwortet oder sogar in Arbeiten leere Blätter abgibt. Nein nicht abgibt, sondern einfach desinteressiert vor sich liegen lässt und wahllos in die Gegend starrt. Die Lehrer vermuten eine Konzentrationsschwäche, denn bei Schulbeginn scheint er hoch motiviert und gehört zu den besten der Klasse, später am Tag aber vollkommen abwesend zu sein. Manchmal rüttelt ihn ein Lehrer an den Schultern, wenn er wieder einmal in die Leere starrt, doch das zeigt keinerlei Wirkung. Erst, wenn die letzte Stunde zu Ende ist, geht er wie ein Schlafwandler langsam und gemächlich nach Hause.
Er selbst will mir auch gar nichts von der Schule erzählen. Statt dessen sagt er mir, er ginge dort nicht mehr hin. Schließlich sei er erwachsen und Manager einer großen Bekleidungsfirma. An die Schule erinnere er sich ungern, weil sie ihn in seinem jetzigen Beruf nicht weiter gebracht habe, Zeitverschwendung gewesen sei.
Ich bitte ihn, mir etwas anderes zu erzählen, was er in seiner Freizeit mache, ob er mit Freunden spiele. Ich habe mich gut auf dieses Gespräch vorbereitet und auch dazu sein Umfeld befragt. Mir wurde bestätigt, dass er keine Freunde hat. Manche Mitschüler sind so dreist, mir zu erklären, dass sie ihn manchmal verprügeln, um ihn in die Realität zurückzuholen, wie sie sagen. Was genau sie damit meinen, wollen sie dann aber nicht sagen, werden plötzlich scheu und sind überhaupt nicht mehr bereit mit mir zu sprechen. Als Psychologe hat man es nicht leicht.
Er aber erzählt mir nichts davon, dass er Prügel einstecken müsse, beschwert sich nicht bei mir über Mitschüler oder Lehrer, sondern erklärte mir ganz andere Dinge, mit bescheidener und verhaltener Stimme. Seinen Mitschülern war er geistig wohl um einiges vorraus:
"Sie haben wahrscheinlich alle befragt, was ich so in meiner Freizeit mache, wer meine Freunde sind, was ich nachmittags mache, was abends, wann ich schlafen gehe. Sie müssen wissen, dass alle, die mich zu kennen glauben, einem Irrglauben unterliegen.
Ich gehe schon seit Jahren nicht mehr zur normalen Schule. Ich habe gelernt, dass es sinnlos ist zu lernen, habe ja schon alle meine Ziele erreicht!" Fing er noch leise und etwas verstört an, wurde seiner Stimme jetzt immer sicherer und bestimmter. Er änderte sogar seine Sitzposition, anfangs etwas zusammengekauert, beugt er sich jetzt mit stolzer Brust etwas nach vorne.
"Erzähl mir über dein wahres Leben!", bitte ich ihn und lehnte mich im gleichen Maße, wie er sich vorgebeugte, entspannt zurück. Sein Angebot mir seine Phantasiwelt zu erläutern scheint mir sehr verlockend, ließen sich doch aus den Wunschgedanken der Menschen sehr gut ihr Probleme ablesen. Normalerweise war es schwer an die Gedanken der Menschen heranzukommen. Deshalb konnte ich solche Erfahrungen noch nicht sammeln, doch, dass ich dadurch viel lernen könnte, scheint mir auf jeden Fall logisch zu sein.
"Ich hätte ohne die Schule schon viel früher in das Geschäft einsteigen können, viel Zeit gespart und wäre jetzt wahrscheinlich ein noch viel bessere Manager. Aber daran kann ich wohl nichts mehr ändern. Als sich abzeichnete, dass mich die Schule nur auf der Stelle treten lässt, habe ich mich dazu entschlossen den Job anzunehmen. Jetzt besuche ich nur noch die Abendschule, sie ist zwar morgens und bringt mich genausowenig weiter, wie die Schule, in die ich zuvor ging, jedoch muss man sich ja immer alle Optionen offen halten und meine Arbeit beginnt auch erst um elf Uhr. So habe ich jedenfalls durch die Schule keinen Nachteil."
Ich beschließe, dass ich erst einige Zeit über seine Ausführungen nachdenken muss, bevor ich einen Ansatz für die Behandlung finden kann. Schließlich bin ich noch jung und neu im Geschäft, darf mir grade in meiner Anfangsphase keine Fehler erlauben.
"Also für heute ist es genug, ich bringe dich hinaus." Ich gehe aus dem Raum zur Tür. Er folgt mir, nimmt seine Schuhe, geht in die Hocke und zieht sie sich nacheinander an. Es scheint ihm Spass zu machen, die Schnürsenkel zu binden, Arbeit für die Finger. Er macht das so elegant, dass es wirklich den Eindruck erweckt, er sei ein Manager.
"Ich wollte frage, ob sie mir einen Kredit gewähren könnten! Sie müssen wissen, ich habe meine Praxis erst seit kurzger Zeit und das Geschäft läuft noch nicht so gut. Ein Kredit wäre eine wirklich nette Geste, die ich zu würdigen wüsste. Vielleicht kann ich ihnen ja auch einmal helfen."
Der Manager guckt mich etwas irritiert von unten an, dann nickt er aber zustimmend, zieht sich die Schuhe wieder aus und geht in mein Arbeitszimmer. Dort setzt er einen Vertrag auf, wir einigten uns über eine Sume von 10 000 Euro mit zehn Prozent Zinsen mit maximaler Laufzeit von fünf Jahren.
Ich unterschreibe und er übergibt mir feierlich einen Verrechnungscheck.
"Diesmal hast du sehr gut gespielt, Kevin.",lobt er mich, wobei seine schönen, weißen, Milchzähne zum Vorschein kommen. "Danke, du warst auch sehr gut Mario!" "Jedenfalls brauchen wir unbedingt noch einen Steuerberater und einen Polizisten, dann muss das Spiel erst Spass machen!", sagte Kevin und drückte die Feder eines Kugelschreibers spielerisch immer wieder schnell herunter, einfach um seine Finger nicht unbeschäftigt zu lassen.