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Spiel ein Spiel mit mir
Ein Tisch trennte Sabina von Timo. Sie hatte ihren Salat kaum angerührt und das Dressing weichte Parmesan und Blätter auf, verschmolz beides zur amorphen Masse.
„Schmeckt dir dein Essen nicht?“ Timo beugte sich über den Tisch, die Ellbogen aufgestützt, die Haare verwuschelt und braun.
„Doch, doch. Ich hab nur keinen Hunger.“
Sie saßen vor dem Restaurant, nahe der Straße, wo keine Autos fuhren, weil das hier ein Wohngebiet nach Feierabend war. Vom Pflaster stieg Restwärme auf, erinnerte an den klebrigen Asphalt und die Backofenluft der Mittagsstunden. Kein Wind brachte Abendkühle in die Stadt und Sabinas Körper schwitzte in Jeans und langärmligen T-Shirt – Hitzestau unter den Achseln, glitschiges Gefühl auf der Haut, feuchter BH und feuchte Hose. Sie trank von ihrem Cocktail, alkoholfrei und süß. Neben ihrem Teller stand eine leere Flasche Mineralwasser.
„Du gehst noch zur Schule, oder?“, fragte Timo.
„Ja.“
„Und gehst du gerne hin?“
„Geht so.“
„Also ich hab die letzten zwei Jahre gehasst …“
Während er redete, von Ausbildung und Arbeit, betrachtete Sabina Studenten, die zu viert hinter Timo saßen und über einen Aufenthalt in Südafrika sprachen und über Sport und das Trainingsprogramm für die Sonne Kapstadts, die weißen Strände und die Mädchen in Bikini, für die Surfer mit Brett und triefender Badehose, ihre Muskeln wirkten wie Kabelstränge unter der Haut. Sie brach den Gedanken ab; sie würde diesen Sommer keinen Bikini tragen.
Timo erzählte noch immer und vom Nachbartisch kam ein Hund gelaufen. Sie kraulte sein Fell, heiß wie ihre Haut, er schnupperte an ihrem Knie und drängte unter den Tisch. „Oh, entschuldigen Sie.“ Die Besitzerin, die allein saß und Wein zur Pasta trank, zog den Hund an der Leine fort.
„Du magst Hunde?“, fragte Timo.
Sabina nickte.
Und wieder dehnte sich das Schweigen und Sabina stocherte in ihrem Salat, aß eine Gabel voll. Es schmeckte fad und wässrig.
„Sollen wir gehen?“, fragte Timo.
„Können wir.“
Also trank sie ihren Cocktail aus und Timo zahlte für beide.
Inzwischen glommen Straßenlaternen über jeder Kreuzung – hypertrophierte Glühwürmchen an Kabeln. In ihrem kränklich gelben Licht erzählte Timo von einem Motorrad, an dem er schraubte, obwohl er keinen Führerschein dafür besaß, und seinem Auto mit Boxen im Kofferraum und 120 PS. Weil außer Gehen nichts zu tun war, zählte Sabina ihre Schritte und simultan die Fenster im zweiten Stock, bis sie durcheinander kam.
„Ist dir eigentlich nicht warm in deinen Sachen?“
Sie zuckte mit den Schultern und schwieg. Sie hatte ihren Körper bereits vergessen, jetzt kam er wieder, mit klebriger Haut und Eigenwärme, müden Muskeln und Kopfschmerzen.
„Warum lässt du dich einladen, wenn ich dich nur nerve?“
Sie spürte Leere neben sich und drehte sich um. Timo war zurückgefallen, stand zwei Meter entfernt. Über ihm hing keine Straßenlaterne und sie konnte sein Gesicht kaum sehen, nur Tintenschwarz zwischen Hals und Haar.
„Findest du nicht, du könntest netter sein?“
Sie zuckte die Schultern.
„Dir ist es egal?“
„Ja.“
„Wirklich?“ Er klang eher überrascht als wütend und Sabina malte sich entsprechend sein Gesicht, der Mund leicht offen, die Augen geweitet.
„Ich bin Nihilistin.“
Als Sabina die Haustür öffnete, vorsichtig, damit Vater nichts merkte, sah sie flackerndes Licht aus dem Wohnzimmer und hörte Fernsehstimmen: Ein Mann und eine Frau unterhielten sich. Sie sprachen über Liebe und Zukunft. Sabina schlüpfte ins Haus und schloss geräuschlos die Tür. Sie verharrte vor der Garderobe, zählte zehn Sekunden an den Fingern ab und lauschte, ob Vater sie bemerkt hatte, ob er aufstand und kam. Aber nichts geschah und sie schlich in die Küche, holte Obst und Jogurt aus dem Kühlschrank.
Sie aß auf ihrem Zimmer, hörte Musik über Kopfhörer und sah aus dem Fenster. Zwei Fahrräder fuhren von links nach rechts. Den Jogurtbecher warf sie in den Papierkorb. Bevor sie ihr Zimmer verließ, horchte Sabina an der Tür – noch immer murmelten die Stimmen. Sie ging ins Bad und putze sich die Zähne mit Wasser aus ihrer Trinkflasche, um kein Geräusch zu machen.
Später lag sie im Bett, endlich nackt unterm Nachthemd, die Nachtluft fast kühl auf der Haut, und hoffte, dass kein Besuch kommen würde.
Der Pausengong hatte bereits geschlagen, aber Sabina stand vor der Tür zur Sportumkleide und wartete, dass die Stimmen dahinter verstummten. Kein Mensch war zu sehen. Sabina stellte ihren Rucksack ab, kramte nach ihrer Trinkflasche, 1,5 Liter stilles Mineralwasser. Sie trank hastig, wie unter Zeitdruck.
Inzwischen waren die Stimmen verstummt und Sabina betrat die Umkleide. Sie war nicht allein – nur in Unterwäsche, wandte Xenia ihr den Rücken zu. Das Violett des Sport-BHs stach ab gegen das Papierweiß ihrer Haut. Zum Zopf gebunden fiel blondes Haar über ihre Schulter. „Ist was?“
Sabina schüttelte den Kopf, betrachtete aber weiter Xenias Körper ohne Flecken, während diese sich anzog, kurze Hose, kurzes Top und Schuhe von Puma. Erst als Xenia gegangen war und sie allein war im Milchlicht der Deckenfenster, zog Sabina sich um. Ihre Kleidung war lang: blaue Trainingshose, weißes Oberteil.
Auf dem Weg zum Sportplatz federten ihre Schritte wegen der Turnschuhe, das Gehen fühlte sich wie Hüpfen an. Die anderen Mädchen saßen bereits am Rand der Aschenbahn, während die Lehrerin die Namensliste durchging. Sie warf Sabina einen Blick zu und machte ihr Häkchen – Kommentare hatte sie aufgegeben. Sabina setzte sich zum Rest und schaltete auf Durchzug, bis das Laufen begann.
Nach drei Runden kamen die Schmerzen. Ihrem Körper rann Schweiß in die Augen, seine Beine brannten, das Atmen fiel ihm schwer. Die Aschenbahn schluckte das Federn der Schuhe, bremste jeden Schritt. Ihr Körper lief weiter, überrundete die ersten – dicke Mädchen, die lange Kleidung trugen wie Sabina, und später die Schönen des Jahrgangs, deren Beine im Sonnenlicht glänzten und deren Haar blond war oder brünett. Ihr Körper überholte sie und Sabina schaltete das Denken ab, ließ sich treiben vom Herzschlag. Sechstklässler betraten den Sportplatz und spielten Fußball in Gruppen, ihre Stimmen echoten zwischen Schulgebäude und den Hochhäusern hinterm Pausenhof. Die Sportlehrer standen am Rande und unterhielten sich.
Nach dem Laufen lag Sabina im Gras. Übelkeit drängte vom Magen aufwärts und sie wusste nicht, ob sie aufs Klo gehen sollte und kotzen. Über ihr hing das Gesicht der Lehrerin und Worte fielen auf Sabina wie Regen und sie nickte, damit das Gesicht verschwand und sie mit ihrem Körper allein sein konnte. Schließlich ging die Lehrerin, nicht ohne Glückwünsche, Sabina war die Schnellste.
Vor der Schule saß Timo in seinem Auto. Er trug eine Sonnenbrille und winkte Sabina, als sie ins Freie trat. Seine Musik beschallte den Schulhof und seine Windschutzscheibe reflektierte das Sonnenlicht, blendete Sabina auf den Metern zur Parkbucht. Timo fuhr das Seitenfenster herunter. „Hi. Wie war die Schule?“
Sabina legte einen Arm aufs Autodach, heißes Metall unterm Stoff, und beugte sich zum Fenster. „Was willst du hier?“
„Steig ein.“
„Ich hatte Sport. Ich muss nach Hause und duschen.“
„Mich stört das nicht. Du kannst auch später duschen.“ Er grinste, fühlte sich offensichtlich cool dabei.
„Kann ich nicht.“ Ihr Tonfall schien Timo zu verwirren, denn er nahm die Sonnenbrille ab. Seine Augen waren blassblau. „Warum nicht?“
„Weil später mein Vater kommt.“ Die Erklärung war ein Fehler gewesen, das wusste sie, während Timos Gesicht noch immer nicht verstand.
„Und?“
„Egal.“ Sie lief ums Auto herum, stieg ein. Die Luft war klimaanlagenkühl, die Musik zu laut. Sie drehte sie leiser.
„Was jetzt?“
„Fahr los.“
Sie fuhren über Nebenstraßen zum Gewerbegebiet – Lagerhallen hinter Zaun und Stacheldraht, wenige benutzt, mit Lieferwagen und Menschen davor, die meisten mit eingeschmissenen Scheiben und rostigen Türen. Sabina sah ein geschlachtetes Auto, einen zerfallenen LKW, zwei Hunde, die zwischen Bauschutt und Holzresten stöberten. Timo parkte am Straßenrand und dem Motorbrummen folgte Grillenzirpen und Stimmen in der Ferne, Bauarbeiter in Orange gekleidet.
„Was willst du hier?“
„Wart’s ab.“
Sie stiegen aus. Nach der Luft im Auto fühlte Sabina sich in einer Sauna. Sie wollte trinken, am liebsten Wasser mit klickenden Eiswürfeln, aber ihre Flasche war leer. Timo stieg durch eine Lücke im Zaun und ging auf die Lagerhalle zu. Auf halben Weg blieb er stehen und winkte ihr zu. Sie folgte ihm nicht. Ein Schweißtropfen lief hinter ihrem Ohr den Hals entlang. „Komm schon. Ich will dir was zeigen.“ Auf dem rissigen Asphalt, mit glänzendem Gesicht, wirkte er sehr jung, trotz Bart und Poloshirt, ein Spielkind bloß, und Sabina bückte sich durch den Zaun und folgte ihm.
Die Tür der Lagerhalle war mit einem Vorhängeschloss versehen und Timo zog einen Schlüssel aus der Tasche. „Das Schloss hab ich wegen den Jugendlichen und Penner. Die lassen sonst überall ihren Müll liegen und pissen in die Ecken. Durch die Dachfenster kommen sie nicht rein.“
„Dir gehört die Halle?“
„Jetzt schon.“ Er grinste wieder und stieß die Tür auf.
Im Inneren wirkte die Luft tot wie aus dem Backofen und doch roch es nach dem Moder langer Winter. Von der Decke hingen die Ketten der Lastenzügen, glitzernde Schnüre im Sonnenlicht. Der Boden wirkte wie leergefegt, kein Schutt, kein Staub, und ihre Schritte hallten darauf. „Was wollen wir hier? Es ist zu heiß.“
Timo deutete in eine Ecke der Halle. Auf einem Teppich standen dort ein Sofa und zwei Sessel, bedeckt mit Kissen und Decken, ein Schlafsack lag daneben; es gab eine Petroleumlampe und einen Gaskocher, dazu Kochtopf und Pfanne. „Die Sachen sind von mir. Ich kam früher öfter her, wenn ich meine Ruhe haben wollte. Hab auch gelegentlich mit Freunden gekifft. Hier riecht niemand den Rauch.“
„Idiot. Deswegen hast du mich hergeholt?“
„Du hast echt Ansprüche.“
„Es ist heiß.“
Timo ging zu einem der Sessel, räumte Kissen und Decken beiseite und setzte sich. „Mach’s dir bequem.“ Sabina blieb stehen. Sie überlegte, ob sie gehen sollte, aber ohne Auto war der Weg zu weit. Ihr eigener Schweiß ekelte sie.
„Okay. Wir sind noch wegen etwas anderem hier. Du hast doch gesagt, dir wäre alles egal. Du wärst Nihilistin.“ Sabina sah zur Decke, durch die Fabrikfenster sah sie Ausschnitte des Himmels, das Weiß winziger Wolken wirkte durchsichtig gegen das grelle Blau. „Der Punkt ist, ich glaube dir nicht. Deswegen habe ich mir ein Spiel überlegt. Ich wette, dir ist nicht alles egal.“
Sabina fixierte Timo – er lag halb auf dem Sessel, ließ ein Bein über die Lehne hängen und erinnerte an ein Männermodel oder einen Playboy. Sein Bart umrahmte einen begeisterten Mund. Die Sonnenbrille schien ihm zu groß zu sein, sie war auf seine Nasespitze gerutscht und er schob sie mit dem Zeigerfinger wieder hinauf. Die Haare auf seinen Armen glänzten feucht, als hätte er geduscht.
„Mach 20 Liegestützen“, forderte Timo.
„Was?“
„Ist es dir wirklich wichtig, das nicht zu machen? Oder ist es dir letztlich egal?“
„Ich hab gerade Sport gemacht.“
„Na und?“
Sabina schüttelte den Kopf, aber ihr Körper ging in die Knie, stütze sich auf Hände und Füße.
Es brauchte mehrere Pausen, in denen ihr Körper mit offenem Mund nach Luft schnappte und auf den Boden starrte, wo es nur Haarrisse gab und winzige Löcher. Auf dem rauen Beton schmerzten ihre Hände, beim Bewegen ihre Arme. Als sie aufstand, sah sie Sterne und wieder kam die Übelkeit und der Wunsch, ihren Körper aufzugeben. Sie hörte Timo klatschen, als wäre sie beim Zirkus. Er saß noch immer in Lebemannhaltung im Sessel und zwinkerte ihr zu. „Du siehst fertig aus. Komm, ich fahr dich nach Hause.“
Timo verließ die Halle, Sabina folgte. Grell grüßte die Sonne und Sabina schlug die Augen nieder und folgte Timo zum Auto.
Als sie aufschloss, fiel ihr ein, dass sie zu früh war. Aus der Küche kamen Schritte und Vater stand in der Tür, breit und schwer, mit sonnenverbranntem Gesicht und Seemannsbart, dabei war er Bauarbeiter und hatte nie das Meer befahren.
„Wo warst du so lange?“
Sie versuchte ein Lächeln. „Ich war noch Eisessen mit den Mädchen vom Sport.“
Für Sekunden hielt sich die Spannung und Sabinas Herz pumpte Adrenalin, dann wandte Vater sich ab und ging zurück in die Küche. „Komm essen.“
Auf dem Tisch stand Brot und Butter, zwei Sorten Wurst, zwei Sorten Käse. Vater saß bereits und trank Bier. Sabina holte sich Brettchen und Messer und setzte sich ihm gegenüber. Während sie eine Scheibe Brot belegte und hastig aß, behielt sie Vater im Blick und wartete auf die nächste Frage. Sie war fast mit dem Essen fertig, als sie kam: „Wie sind die Mädchen so?“
„Nett.“ Und sie versuchte zu klingen, als hätte sie einen unbeschwerten Nachmittag gehabt und säße Vater gerne gegenüber, wäre nicht lieber in ihrem Zimmer bei verschlossener Tür und Musik in den Ohren. Vater trank noch einen Schluck Bier und verzog den Mund.
„Wahrscheinlich ziehen sie sich an wie Schlampen.“
„Nein, tun sie nicht. Sie ziehen sich ganz normal an.“
„Was ist denn heute noch normal.“
Sabina sagte nichts mehr. Sie aß auf und brachte Vater ein frisches Bier – leises Zischen beim Öffnen, halbes Lächeln beim Trinken. „Ich geh dann schlafen.“ Sie wandte sich zum Gehen.
„Du hast was vergessen.“ Vater deutete sich auf die Wange, als wäre Sabina noch sein kleines Puppenkind, dem er Geschichten vorlas und dabei Pfeife rauchte. Flüchtig streiften ihre Lippen seinen Bart, Stacheln piksten ihre Haut. Sie roch Schweiß, Männerdeo und Bier, und ganz schwach die Brillantine, mit der Vater sich die letzten Haare über die Glatze strich. Mit knurrendem Magen ging sie auf ihr Zimmer.
Nachts erwachte Sabina und sah Vater an der Tür, ein Besucher aus der Traumwelt eines Puppenmädchens, das die falschen Zeitungsberichte gelesen und die falschen Bücher. Sie bewegte sich nicht, damit er nicht merkte, dass sie nicht schlief. Sie versuchte ihren Atem ruhig zu halten. Ihr Körper war jetzt überpräsent, sie spürte den leichten Stoff auf ihren Brüsten, die Nacktheit ihrer Scham, und hoffte, dass Vater sich nicht zu ihr legen würde. Auf seiner Brust wuchs Bärenhaar, kratzig auf der Haut und schwarz.
Timo hielt Sabinas Hand, zog sie die Fußgängerzone entlang und Sabina hatte das Gefühl, ihre Füße kämen ihrem Körper nicht nach. „Hey, nicht so schnell.“
Über die Schulter lachte Timo sie an. „Komm schon. Ich hab ein neues Spiel für dich.“
„Was denn?“
„Wart’s ab.“
Er zog sie auf einen Platz hinaus. In der Mitte schossen Wasser aufwärts, fächerte sich auf vorm Himmel, vor den Gebäuden im Hintergrund. Als sie näher kamen und die Sonne durch die Tropfen schien, sah Sabina einen Regenbogen.
„Da wären wir.“
Auf dem Platz stauten sich Menschen – Jugendliche vor einem McDonalds, eine Gruppe Punker, mit grün-blauen Haaren und Stachelbändern, Frauen mit Einkaufswagen, mit Sonnenbrillen, mit Kopftüchern und ohne, eine Gruppe Asiaten in Schuluniformen, und am Rande Zeugen Jehovas, die Flyer verteilten und Zeitschriften und ein Schild in die Höhe hielten, auf dem stand, dass Gott dich liebt. Neben Sabina küsste sich ein Pärchen, das Mädchen scheinbar zu alt für ihren Partner. Timo lachte. Auch er wirkte jünger als er war. Er hielt noch immer ihre Hand, seine Finger waren warm und trocken.
„Los lauf.“
„Wohin?“
„Durchs Wasser.“
„Klar.“
Er lachte wieder. „Ich mein’s ernst. Das ist ein Teil unserer Wette.“
„Idiot.“ Sie schüttelte spöttisch den Kopf und lief zwischen die Fontänen. Das Wasser flutete ihre Klamotten, klebte den Stoff an ihre Haut, spülte ihre Frisur davon, Strähnen hingen ihr ins Gesicht. Sie schloss die Augen gegen die Tropfen. Sie kreischte, sie lachte, dass man sie sah und hörte, war ihr egal. Kühl lief das Wasser in ihre Schuhe, matschiges Gefühl bei jedem Schritt.
„He, mach die Augen auf. Du siehst ja gar nichts.“
Timo stand neben ihr, sein Haar über den Schädel geklebt, Jeans und T-Shirt dunkel vom Wasser. „Schau nach oben.“
Sie sah wieder den Regenbogen und spürte Timos Hand an ihrer Schulter. Mit offenem Mund fing sie das Brunnenwasser, es schmeckte nach Metall und Fäulnis, doch das war egal. Neben sich hörte sie noch weitere Menschen durchs Wasser laufen, das Platschen der Schritte zog an ihr vorbei.
„Na, gefällt dir unser Spiel?“
Vater wartete bei gelöschtem Licht im Flur und als Sabina die Deckenlampe einschaltete und ihn sah, hätte sie fast geschrien. Gesicht und Haltung verrieten, was kommen würde, sie beide waren starr und steif, als hätte Vater seine Mimik abgelegt wie Kleidung.
„Mach die Tür zu.“
Sie kam herein, hielt aber Abstand zu Vater, für sie waren es drei Schritte, für ihn nur zwei.
„Ich hab dich heute mit einem Jungen gesehen.“ Noch klang seine Stimme ruhig, ein wenig rauchig nur und müde, seine Stimme nach Feierabend. In Gedanken fächerte Sabina den Nachmittag auf und fand das Bild der Baustelle – Kräne ragten in den Himmel, Arbeiter schwitzten, trugen Stahlträger und schoben Schubkarren.
„Bist du etwa eine Schlampe? Ist meine Tochter eine Hure? Antworte mir.“
„Wir haben nichts gemacht. Wir waren nur Eis-Essen. Wir haben uns nur unterhalten.“
„Er hat dich angefasst.“
„Vater.“
„Ich bemühe mich, dass eine Frau aus dir wird. Eine anständige Frau.“
Sein Finger stach in ihre Richtung, als wäre Vater Onkel Sam und trüge Anzug und Zylinder. Sabina wich diesem Finger aus, ließ ihren Blick über die Wände schweifen, über Garderobe und Schuhregal.
„Geh ins Wohnzimmer, ich komme gleich nach. “
Später lag ihr Körper im Bett. Ihm schmerzten Rippen und Bauch. Durchs gekippte Fenster kam die Musik einer Gartenfeier, das Zirpen von Grillen im Garten. Sie wartete auf Vaters Besuch, auf kratzige Haare, auf schwielige Hände und feuchte Worte an ihrem Hals: „Es tut mir so leid, mein Häschen, mein Liebling. Ich mach alles wieder gut. Es tut mir so leid.“
Timo saß oberkörperfrei auf seinem Sessel. Ihm wuchs kein Haar auf Brust und Bauch, aber seine Haut wirkte verbrannt – vielleicht war er gestern am See gewesen, hatte auf sonnentotem Gras gelegen und hatte Mädchen gesehen, die Bikinis trugen, die aus dem Wasser kamen, deren Haut weiß war oder braun wie Brot. Sabina würgte den Gedanken ab. „He, worauf wartest du?“ Timo hob überrascht den Kopf, als hätte er Sabina über sein Grübeln vergessen. Die Sonnenbrille machte seine Augen unsichtbar und sein Gesicht nur halbbekannt.
„Stell dich in die Hallenmitte. Ja, so. Mit dem Rücken zu mir.“
Sabina sah zu den Deckenfenstern; diesmal war der Himmel voller Wolken, vielleicht gäbe es später ein Gewitter, die Luft war danach. Sie schmeckte Schweiß auf ihren Lippen. In ihrem Rücken hörte sie Schritte, Timo reduziert auf ein Geräusch, und Unsicherheit kam auf – flaues Gefühl in den Kniekehlen, Nachhall des Herzschlags in Hals und Schädel. Sie versuchte, Timo zu orten, aber das Echo der Halle verzerrte die Distanz, er konnte direkt hinter ihr sein, oder Meter entfernt.
„Was wird das?“
„Dreh dich nicht um.“
Er stand direkt hinter ihr, sein Atem auf ihrer Haut, seine Stimme in ihrem Ohr. Für einen Augenblick stellte sie sich ihren Nacken vor, wie er ihn sehen musste, weiß und zerbrechlich wie ein Strohhalm. Der Gedanke gefiel ihr und ein Kribbeln lief den Rücken hinab. Sie zuckte leicht zusammen, als seine Lippen ihr Ohr berührten, dann hielt sie still und schloss die Augen, während seine Zunge über ihre Haut leckte und seine Zähne sanfte Wundmale setzten. Seine Wärme drang durch ihr T-Shirt.
„Küss mich!“
Ihre Zunge schmeckte seinen Schweiß, salzig und herb; ihre Hände blieben auf Abstand, ihre Augen geschlossen. Während der Kuss andauerte und Timo ihren Bauch und ihre Brüste abtastete, schien die Hitze zuzunehmen, ihr Kopf fühlte sich diesig an und die Lichtblitze hinter ihren Augen spielten tiefer ins Rot – sie dachte an Lava und glühende Kohlen, an Lagerfeuer und sterbende Sterne. Timo löste sich von ihr und Sabina war wieder allein mit ihrem Körper. Ihr Speichel löschte die Erinnerung an seine Zunge.
„Zieh dich aus!“
Reflexartig schlug sie die Augen auf. Timo stand zwei Meter vor ihr, mit roten Flecken auf den Wangen, und leckte sich die Lippen.
„Hallo, geht’s noch?“
„Was hast du?“ Er zuckte die Schultern und blieb souverän. „Das ist nur ein Teil unserer Wette.“
Sabina überlegte, ob sie gehen sollte, aber der Weg war in der Hitze zu weit.
„Ich wusste doch, du bist nur ein Schulmädchen. Du spielst dich nur auf, um interessant zu sein. Aber eigentlich bist du total verklemmt. War wahrscheinlich dein erster Kuss.“
Sabina zog T-Shirt und Jeans ab, BH und Höschen. Zu ihren Füßen häufte sich der durchweichte Stoff. Für ein paar Sekunden kam ihr die Luft kühl vor, sie fröstelte, dann gewöhnte sich ihr Körper an die neue Temperatur. Nackt in der Halle fühlte sie sich schutzlos. Timo starrte sie an, aber nicht lüstern oder geil, sondern sprachlos. Sein Mund stand leicht offen und seine Augen waren riesengroß. Sie wusste, was er sah; sie half ihm nicht, sie schwieg.
„Zieh dich wieder an.“ Von seiner Stimme war kaum etwas geblieben, nur ein heiseres Flüstern, lächerlich gegen die Weite der Halle, lächerlich gegen seinen Bart und seine verbrannte Brust.
Wieder gehorchte Sabina und ihr Körper schwitzte stärker als zuvor.
Timo fuhr sie schweigend nach Hause. In den Straßen kreuzten Fahrräder, Kinder mit Eis und Jugendliche mit Bier. Bevor sie ausstieg, fragte Sabina: „Wann kommt das nächste Spiel?“ Für einen Augenblick dachte sie, Timo wolle etwas Wichtiges sagen, sein Zögern war danach und der gequälte Ausdruck seines Gesichts.
„Ich ruf dich an.“
Vater war nicht daheim und Sabina öffnete die Haustür ohne Vorsicht. Sie ging ins Bad, warf ihre Klamotten in den Wäschekorb, wusch sich unter der Dusche den Schweiß von der Haut. Mit zurückgelegtem Kopf und offenem Mund trank sie vom Wasser, das auf sie herabfiel. Ihr Durst schien ewig zu halten.
Nackt unterm Bademantel, das Haar in ein Handtuch geschlungen, ging sie in die Küche, kochte sich Nudeln mit Zucchinistreifen und Frischkäse. Im Wohnzimmer nahm sie das Hochzeitsvideo ihrer Eltern aus dem Blue-Ray-Player und sah beim Essen Horror-Filme. Später trank sie Bier und zappte Kanäle.
In der Nacht wachte Sabina auf, als Vater nach Hause kam. Sie hörte seine trunkenen Schritte, sein Weinen und Klagen, blubbernde Sätze, die sie nicht verstand; sie hörte die Stimmen des Fernsehers – ein Liebespaar sprach von der Zukunft und einem Kind. Auf dem Nachttisch fingerte sie nach Oropax, und drehte sich mit verstopften Ohren auf die Seite und schlief.
Der Welpe war so klein, dass er über den Boden robbte, sein Kopf war zu schwer für den Körper. Doch er fiepte vor Vergnügen und reckte sich nach Sabina, die ihm einen Finger zum Schnuppern reichte.
„Wo hast du ihn her?“
Timo befand sich wieder im Nichts hinter ihrem Rücken, aber sie wusste, wo er war: auf seinem Sessel, mit angezogenen Beinen und leerem Gesicht, er hatte auf der Hinfahrt kaum gesprochen.
„Von einem Kumpel. Sein Hund hat Babys bekommen und er versucht sie loszuwerden.“
Der Welpe wälzte sich im Staub, ließ Sabina seinen Bauch streicheln, während sein braunes Fell sich grau verfärbte. Von Zeit zu Zeit hielt er inne und hechelte, versuchte die Hitze abzustrahlen, die Sabina unter ihren Finger spürte, als wäre der Hund eine Wärmflasche.
„Und warum hast du ihn mitgebracht?“ Timo schwieg, bis Sabina sich umwandte und winkte. „Hallo? Noch da?“
Er zuckte die Schulteren, setzte beide Füße auf die Erde, stieß sich mit den Händen ab. Betont lässig schlenderte er in Richtung Sabina und Hund, seine Beine vollführten kleine Halbkreise bei jedem Schritt, seine Schuhe schlurften über den Beton, und doch klang seine Stimme kläglich, als er sprach. „Du sollst ihn umbringen.“
Der Welpe leckte Sabinas Finger und fiepte. Sie streichelte seinen Bauch, spürte seinen Pulsschlag und seinen Atem, flattrig wie ein Schmetterling.
„Es ist am einfachsten, wenn du ihm das Genick brichst.“
„Mhm.“ Sie nickte.
Ihre Hände drehten den Welpen auf den Bauch, kraulten sein Rückgrat, wanderten zum Nacken hinauf. Der Welpe merkte nichts und war weiterhin glücklich, sein Schwanz fegte den Boden.
„Ich hatte Recht, du machst es nicht.“ Timo stand hinter ihr, sie glaubte seinen Atem zu spüren, Hitze auf Ohr und Nacken, wo Schweiß in kleinen Perlen stand. „Ich hab unsere Wette gewonnen.“ Er klang erleichtert, als wäre eine schwere Prüfung geschafft, das Abitur vielleicht oder die Qualifizierung für einen Sportwettbewerb. In einem Comic würde er Sabina umarmen und tanzen, in Kreisen durch die leere Halle.
Ein Knacken und der Welpe fiepte nicht mehr. Sein Schwanz zuckte zweimal und lag still.
„Scheiße, du hast ihn umgebracht.“ Timo hatte die Fassung verloren. Seine Hände zitterten und er sah aus, als wäre ihm schlecht, was Sabina seltsam fand, weil es sie an miese Filme denke ließ.
„Aber ich habe trotzdem Recht. Wäre dir wirklich alles egal, hättest du dich auf das Spiel gar nicht eingelassen. Du hättest dich nicht beweisen müssen. Der Hund heißt ich hab gewonnen.“
Sabina verließ die Halle. Hinter dem Gebäude erstreckte sich Brachland, rissiger Asphalt und Unkraut. Sie setzte sich und schloss die Augen – Leere in ihren Gedanken, der Welpe nur eine abstrakte Erinnerung, seine reglosen Pfoten ohne Bedeutung. Timo hatte nicht bewiesen, was zu beweisen war.