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Spiel ein Spiel mit mir Version II
Ein Tisch trennte Timo und Sabina. Timo war längst fertig mit dem Essen, Sabina hatte ihren Fisch kaum angerührt.
Sabina saß zurückgelehnt und spielte mit ihrem Haar, wickelte eine blonde Strähne um ihren Finger, bis diese einem Korkenzieher glich. Die Bewegung erinnerte Timo an seine kleine Schwester, wenn sie vor dem Fernseher hockte und die Nachrichten liefen oder die Sportschau. Trotz der Hitze trug Sabina ein langärmeliges T-Shirt und Jeans. Sie vorm Restaurant nahe der Straße und vom Pflaster stieg Restwärme auf, eine Erinnerung an die Backofenluft der Mittagsstunden. Schweißflecken zeichneten sich unter ihren Achseln ab und erinnerte Timo an Sabinas Körper, von dem er nichts wusste – es hatte zur Begrüßung keine Umarmung gegeben und keine flüchtigen Berührungen auf dem Weg zum Restaurant. Ihre Brüste zeichneten sich nur schwach unterm Stoff ab.
Weil ihm das Fragen peinlich wurde, erzählte Timo von sich selbst, von seinem Plan zu studieren, Maschinenbau vielleicht oder Japanologie. Sabina nickte nur unbestimmt. Sie beobachtete eine Gruppe Studenten, die hinter Timo saßen und sich über einen Aufenthalt in Südafrika unterhielten und über Sport und das Trainingsprogramm für die Frauen Kapstadts. Timo lauschte den fremden Worten und verlor darüber den Faden seiner Erzählung. Peinlich berührt verstummte er, aber Sabina schien nichts bemerkt zu haben. Sie vermied nur weiter jeden Blickkontakt. Ihre Augen waren blau-grau, ihre Lippen zu schmal und ungeschminkt. Die Vorstellung, darüber zu lecken, erregte Timo.
Vom Nachbartisch kam ein Hund gelaufen. Sabina streichelte seinen Kopf, er schnupperte an ihrem Knie und drängte unter den Tisch. Instinktiv nahm Timo Abstand.
„Oh, entschuldigen Sie.“ Die Besitzerin, die allein saß und Wein trank zur Pasta, zog den Hund an der Leine fort.
„Du magst Hunde?“
„Ja, geht so.“ Sie sah ihn noch immer nicht an und wieder dehnte sich das Schweigen und Timo suchte nach einem Thema, während Sabina in ihrem Fisch stocherte und Wasser trank – die Flasche, die neben ihr stand, war bereits die zweite und zur Hälfte leer.
„Können wir gehen?“
„Ja. Klar.“
Also winkte Timo der Kellnerin und bezahlte für beide.
Inzwischen glommen Straßenlaternen über jeder Kreuzung – hypertrophierte Glühwürmchen an Kabeln. In ihrem kränklich gelben Licht erzählte Timo von dem Motorrad, an welchem er schraubte, obwohl er keinen Führerschein dafür besaß. Sie betrachtete die erleuchteten Fenster, hinter denen Paare und Familien beim Abendbrot saßen oder vorm Fernseher, und Timo fühlte sich, als spräche er mit einer Gummipuppe.
Um ihre Abwehr zu brechen, fragte er: „Ist dir eigentlich nicht heiß in deinen Klamotten?“
Sabina hielt so abrupt, dass Timo an ihr vorüberging und sich umdrehen musste. „Was geht dich das an?“
Im Schatten konnte Timo ihr Gesicht nicht sehen, nur Tinte vom Hals bis zum Haar, aber ihre Hände waren zu Fäusten geballt.
„Warum lässt du dich von mir einladen, wenn ich dich nur nerve? Ich kapier das einfach nicht.“
„Ist mir egal.“
„Wirklich?“ Er war eher überrascht als wütend. Sabina hatte gesagt, was sie dachte.
„Ja. Mir ist alles egal. Ich bin Nihilistin.“
Timo wartete im Auto vor der Schule. Das Seitenfenster war wegen der Klimaanlage geschlossen, die Musik zur Beruhigung aufgedreht. Mit den Fingern klopfte er den Takt auf dem Lenkrad mit. Er trug eine Sonnenbrille - die Welt war ein Kaffeetraum und die Beine der Mädchen, die von den Sportumkleiden kamen, dunkel wie Brot. Sie verteilten sich auf die Fahrradständer oder liefen Richtung Bushaltestelle. Sabina kam als Letzte; unter Timos Blick querte sie den Schulhof. Ihre Kleidung bestand wieder aus einem langärmligem T-Shirt und Jeans, ihr Gang war forciert wie bei einem Model auf dem Laufsteg. Keine zehn Meter von der Schule entfernt bog sie in eine Seitenstraße ab. Timo schaltete die Musik aus, startete den Motor, folgte ihr und fuhr gleich auf. Mit leisem Summen sank das Seitenfenster in die Vertiefung.
„Was willst du?“ Sabina sah ihn nicht an, trotzdem nahm Timo die Sonnenbrille ab - gleißender Himmel, gleißender Asphalt, seine Augen tränten.
„Kannst du einsteigen? Ich möchte dir was zeigen.“
„Nein.“
„Ich glaube, es wird dir gefallen.“ Was reine Spekulation war – Timo hatte nach ihrem letzten Treffen lange wachgelegen und überlegt, wie er eine Nihilistin fangen könnte.
„Ich war bei Sport. Ich muss nach Hause und duschen.“
„Kannst du auch später machen. Mich stört’s nicht.“ Er versuchte so witzig wie möglich zu klingen und spannte ein Lächeln auf sein Gesicht.
„Das geht nicht. Später kommt mein Vater nach Hause.“
„Na und? Was ist mit deinem Vater?“
Sabina blieb stehen und Timo rollte an ihr vorbei. „Ich komme mit, wenn du mich nie wieder nach meinem Vater fragst.“
„Hab ich kein Problem mit.“
Sie lief ums Auto und stieg ein. Mit Sabina kam eine Deowolke, süßlich und betörend. Sie selbst roch er nicht.
„Worauf wartest du?“
Timo gab Gas und fuhr Richtung Stadtrand. Samt Gärten und Garagen fielen die Vororthäuser zurück und machten Gewerbebauten Platz – Werkhallen hinter Zäunen und Stacheldraht, die meisten unbenutzt, mit zerbrochenen Fenstern und rostigen Türen. Timo sah ein zerfallenes Auto, einen geschlachteten Lkw, zwei Hunde, die zwischen Bauschutt und Holzresten kopulierten. Er wollte eine Bemerkung dazu machen, aber keine schien ihm passend zu sein. Er parkte am Straßenrand und auf das Motorbrummen folgten Grillenzirpen und Stimmen aus der Ferne, Bauarbeiter in Orange wuselten um Baumaschinen.
„Was willst du hier?“
Timo stieg aus dem Wagen. Er genoss Sabinas Frage und zögerte die Antwort hinaus. Nach der Kühle des Autos fühlte er sich wie in einer Sauna, die Sonne brannte durch sein T-Shirt. Er ging in Richtung einer der Lagerhallen, bückte sich durch eine Lücke im Zaun. Auf dem Beton, in dessen Rissen Unkraut spross, drehte er sich um und winkte Sabina. „Komm schon. Ich will dir was zeigen.“
Sie stieg aus dem Auto und folgte ihm durch den Zaun. In ihren Augen stand Erwartung und Timo ging zur Tür der Lagerhalle. Ein Vorhängeschloss verwehrte den Eingang, er zog seinen Schlüsselbund aus der Tasche.
„Dir gehört die Halle?“ Sie stand dicht neben ihm. Er glaubte, ihren Schweiß zu riechen, tierisch und herb. Er fürchtete, er könnte eine Erektion bekommen.
„Jetzt schon.“ Er zog das Vorhängeschloss ab, stieß die Tür auf. Der Sommer hatte die Luft im Inneren aufgeheizt und doch roch es nach dem Moder langer Winter. Unter der Hallendecke lief das Schienensystem eines Krans, durch die Deckenfenster sah Timo den Himmel, hellblau, mit den zerfaserten Streifen von Flugzeugen und Wolken. Auf einem Teppich gruppierten sich ein Sofa und zwei Sessel, überhäuft mit Decken, Kissen und Schlafsäcken. Daneben standen ein leerer Bierkasten, ein Bunsenbrenner, Pfanne und Topf.
„Früher bin ich öfters hergekommen. Wenn ich meine Ruhe haben wollte oder um mit Freunden zu kiffen. Hier riecht keiner den Rauch.“
Er setzte sich auf einen der Sessel und versuchte eine Haltung einzunehmen, die gut aussah, während Sabina in der Hallenmitte verharrte.
„Deswegen sind wir hier? Wegen einer Erinnerung?“
„Du hast echt Ansprüche.“
„Es ist heiß.“
„Mach’s dir doch erst mal bequem.“
Sabina reagierte nicht.
„Also gut. Du hast mir doch erzählt, du wärst Nihilistin.“ Sie machte eine Kopfbewegung, die er als Nicken nahm. „Die Sache ist, ich glaube dir nicht. Ich glaube, es gibt Sachen, die dir nicht egal sind. Deswegen habe ich mir ein Spiel ausgedacht. Ich stelle dir Aufgaben und du führst sie aus. Oder du bist keine Nihilistin. Machst du mit?“ Er wartete, setzte sich im Sessel zurecht, strich sich mit der Hand flüchtig über den Oberarm.
„Was willst du mir beweisen? Dass du cool sein kannst? Dass du nicht langweilig bist?“
„Nein, dass es Dinge gibt, die Bedeutung haben.“
„Wie willst du das machen?“
„Küss mich!“
Sabina zögerte in der Hallenmitte, verlagert ihr Gewicht von links nach rechts. Ihr Gesicht war schön, ihre Haltung auch, die Brüste nur eine Andeutung unterm Stoff. Sie trug rote Chucks und unter ihren Schritten knirschte Glas. Als sie sich zu ihm hinabbeugte und mit den Lippen seinen Mund streifte, roch Timo ihren Körper: dunkel und voll und unbekannt.
So selbstverständlich, wie sie ihn geküsst hatte, ging Sabina auf Abstand und Timo wollte sagen, er habe einen Kuss mit Zunge gemeint, aber er schwieg, weil er spürte, dass seine Wangen rot wurden. Zurück in der Hallenmitte, spielte Sabina wieder mit einer Haarsträhne, doch sie lächelte dabei. Er fragte sich, ob sie ihn süß fand oder lächerlich. „Und was kommt jetzt?“
Timo räusperte sich: „Für heute sind wir fertig.“ Er stand auf. „Komm, ich fahr dich nach Hause. Musst mir nur sagen, wo du wohnst.“
Auf dem Rückweg spielte Sabina am Radio, ließ die Sender durchlaufen, zappte von Lied zu Lied. Als nur noch Nachrichten kamen, schaltete sie ab. Timos Musik versuchte sie nicht. Glücklich war er trotzdem. Die Unsicherheit von vorhin war verflogen, er fühlte sich göttlich und fuhr 20 km/h zu schnell.
„Lass mich hier raus. Den Rest lauf ich zu Fuß. Ist einfacher.“
„Vorher gibst du mir noch deine Nummer.“
„Ich dachte, wir wären fertig für heute.“ Er wusste nicht, ob sie scherzte. Ihr Gesicht fand er zu ernst dafür.
„Ich muss dir doch Bescheid sagen, wann’s weitergeht.“
„Gib mir dein Handy.“
Timo zog Sabina an einer Hand durch die Fußgängerzone. Von den Passanten, die ihnen entgegenströmten, fühlte er sich bedrängt, er mochte keine Menschenmassen. Aber die Vorstellung, Sabina zu treffen, hatte ihn vergessen lassen, dass heute Samstag war.
„He. Nicht so schnell.“ Sabina lachte außer Atem. „Ich komme nicht hinterher.“
„Wir sind bald da.“ Aber er ging jetzt langsamer und sie neben ihm, statt in seinem Rücken. Sie hatte das Haar zu einem Dutt gebunden, wodurch sie einer Ballerina glich. Timo fühlte sich glücklich deshalb.
Sie kamen an einer Baustelle vorbei. Kräne schwenkten durch den Himmel, Bauarbeiter trugen Stahlträger und Werkzeug, ihre Arme glänzten vor Schweiß, ihre T-Shirts waren dunkel-nass verfärbt. Sabina beschleunigte ihren Schritt und forschte nervös in den Gesichtern der Arbeiter, als suche sie jemanden.
„Was ist?“
„Mein Vater arbeitet beim Bau.“
Entsprechend der Vereinbarung hakte Timo nicht nach und sie erreichten den Karlsplatz. In der Mitte schossen Wasser in die Höhe, fächerten sich vorm Himmel und der Straße im Hintergrund. Als sie näher kamen und die Sonne durch die Tropfen schien, sah Timo einen Regenbogen.
„Da wären wir.“
Auf dem Platz stauten sich Menschen – Jugendliche mit McDonalds Tüten, Punks mit grün-blauen Haaren, eine Gruppe Frauen mit Kopftüchern und Sonnenbrillen, und am Rande Zeugen Jehovas, die Faltblätter verteilten und ein Schild in die Höhe hielten, auf dem stand, dass Gott dich liebt. Neben Timo küsste sich ein Pärchen, das Mädchen scheinbar zu alt für den Jungen.
„Glotz nicht so. Das macht man nicht.“ Sabina grinste mit der Zungenspitze im Mundwinkel – die Mimik musste sie aus einem Comic haben. Timo lachte und spürte, dass er rot wurde, seine Wangen brannten.
„Los lauf“, sagte er.
„Wohin?“
„Ins Wasser.“
„Du spinnst.“ Sie schüttelte den Kopf und behielt doch das Lächeln und seine Hand in ihrer.
„Ich mein‘s ernst. Das ist ein Teil unserer Wette.“
Sie zeigte ihm einen Vogel und rannte zwischen die Fontänen. Ihre Schuhe platschten im Wasser und ihre Kleidung färbte sich dunkel. Sie kreischte, während sie im Kreis lief, die Hände schützend vorm Gesicht. Timo folgte ihr. In Sekunden klebte sein T-Shirt an seiner Haut. Als eine Fontäne sein Gesicht traf, drang Wasser in seinen Mund und mit ihm der Geschmack von Moder und Metall. Er spuckte es aus. Seine Schuhe waren aufgequollen und seine Schritte fühlten sich schwammig an, als ginge er über Moorboden. Sabina lief mit geschlossenen Lidern an ihm vorbei.
„Mach die Augen auf, sonst siehst du ja gar nichts.“
Er wartete, bis sie ihn ansah, mit Augen grau wie Novemberwolken, dann deutete er nach oben, wo sich der Regenbogen spannte.
„Na, gefällt dir unser Spiel?“
Sie nickte. Das Wasser hatte ihr Haar von blond zu schwarz gefärbt, aber ihre Frisur nicht zerstört. Tropfen liefen ihr über Stirn und Gesicht. Sie hielt still, als Timo sie küsste, und während seine Hände über ihren Rücken tasteten, wurde ihm bewusst, was sich eigentlich geändert hatte, seit dem Abendessen, dem abwesenden Blick und dem Schweigen. Neben ihnen liefen Menschen durchs Wasser, er hörte das Platschen ihrer Schritte. Er wünschte, er wäre mit Sabina allein.
Timo saß oberkörperfrei auf einem der Sessel in der Halle, der raue Stoff juckte auf seinem Sonnenbrand – er war gestern am See gewesen und hatte Mädchen betrachtet, die Bikinis trugen, Haut und Haare feucht vom See, und hatte dabei an Sabina gedacht. Er kannte ihren Körper kaum, nur ihren Mund und ihre Zähne, das verhaltene Würgen, wenn seine Zunge zu tief in Richtung Hals vordrang. Als er abends masturbierte, schnitt er ihr Gesicht auf die Körper der Bikinimädchen. Mit Sperma an der Hand stellte er sich vor, sie läge neben ihm – ihr Atem tief und ruhig in der Stille, ihr Körper unter der Decke ganz nah.
„Weißt du, du hast mir fast nichts von dir erzählt. Ich meine, ich weiß so gut wie nichts über dich.“
„Das ist auch gut so.“
„Findest du es nicht unfair? Ich hab dir schließlich fast alles von mir erzählt.“
„Wirklich? Du hast mir nicht gesagt, ob du beim Wichsen an mich denkst.“
Mit nackter Brust fühlte Timo sich schutzlos vor Sabina. Dabei hatte er cool sein wollen, als er sein T-Shirt auszog. Sabina lächelte und Timo hatte das Gefühl, sie könne in seinem Gesicht die Antwort lesen. „Wie ist es bei dir?“, hielt er dagegen
„Ich masturbiere nicht.“ Er war aufgelaufen und spürte, dass er rot wurde, seine Wangen brannten noch stärker. Sabina behielt ihr Lächeln bei und diesen Blick, von dem er nicht wusste, ob er Spott war oder Zärtlichkeit. Als das Schweigen zu drückend wurde, um fortzudauern, setzte Timo sich zurecht und sagte: „Stell dich in die Mitte der Halle. Mit dem Rücken zu mir.“
Sie gehorchte, aber aufreizend langsam und mit schwingenden Hüften. „Passt es so?“
„Ja. Aber mach die Augen zu und dreh dich nicht um.“
Timo erhob sich und ging zu Sabina. Unter seinen Schuhen knirschte Glas, laut wie bei nachsynchronisierten Filmen. Er fühlte sich ungut. Für Sabina war er nur noch ein Geräusch und das Echo der Halle verfälschte die Distanz – sie wusste nicht, wo er war. Aber ihr Nacken wirkte nicht schutzlos, ihre Haltung nicht unterwürfig. Sie war bereit und Timo musste sich beweisen. Vom Bauch drängte Übelkeit aufwärts und er fühlte sich an die Angst vor Prüfungen erinnert.
Er stand hinter Sabina, umfasste ihre Schultern. Mit den Lippen suchte er ihre Haut, schmeckte ihr Salz, ihre Hitze, und seine Erregung vertrieb die Zweifel. Während er an Hals und Ohrläppchen leckte, griffen seine Hände um ihren Körper und glitten über Bauch und Brüste.
„Küss mich!“
In seinen Armen wandte sie sich um, öffnete ihren Mund für ihn. Timo schmeckte Pfefferminz und Speichel, hörte ihr ersticktes Stöhnen, als seine Finger unter ihre Kleidung fuhren, und er war wieder ein Gott unter den Menschen, allwissend und weise.
„Zieh dich aus!“
Sabina rückte ab, hielt ihn mit einem Arm auf Abstand. Der Ausdruck ihres Gesichts war für Timo nicht zu deuten – vielleicht war’s Überraschung, vielleicht Ärger oder Unglauben, vielleicht tiefe Nachdenklichkeit. In seinem Hirn zirkulierte Blut, aber die Gedanken blieben aus und er bereute seinen Kasernenton.
Mit Bewegungen, die professionell wirkten und einstudiert, schlüpfte Sabina aus T-Shirt und Jeans, hakte den BH auf und streifte ihr Höschen ab. Leicht angespannt und mit hängenden Armen stand sie vor Timo, als wäre er Arzt. Aber er hatte keinen Blick für ihre Brüste noch ihre rasierte Scham, nur für die Flecken auf Armen, Schenkeln, Bauch und Rippen, irisierende Male, in Blau, Schwarz und Gelb, und die Übelkeit kehrte wieder. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass es nicht sein Spiel war, sondern ihr’s, sie gab die Regeln vor.
„Und jetzt?“ Sabinas Frage klang natürlich wie je.
Timo fand so schnell keine Worte. Sein Blick wanderte durch die Halle, zur Decke hinauf, wo diesmal Gewitterwolken hinter den Fenstern drohten, aufgedunsene Leiber und fettige Blitze und kehrte zu ihrem Körper zurück. Sie stand nicht mehr frontal vor ihm, sondern leicht seitlich gedreht, vielleicht verschreckt durch seine Mimik. Aber ihre Arme ließ sie weiter hängen, nutzte sie nicht als Sichtschutz, nicht als Schild.
„Zieh dich wieder an.“ Seine Stimme kam ihm kläglich vor. Er räusperte sich und Schleim kam die Kehle hoch.
Sie bückte sich nach ihren Klamotten und Timo sah endlich weg. Das Anziehen dauerte weit länger, als das Ablegen, und er versuchte ruhig zu atmen und seine Gedanken abzuwürgen. Nachdem Sabina fertig war, sah ihr Körper aus wie zuvor, vom Stoff verhüllt, doch war er nicht mehr unbekannt. Timo verließ die Halle und sie folgte, er hörte ihre Schritte hinter ihm und Unbehagen lief seinen Rücken hinab, ein fiebriges Schauern, wie das erste Zeichen einer Krankheit. Das Gewitter grummelte heran. Zur Hälfte füllten Wolken den Himmel und Regenschleier eilten heran. Wind riss an Timos Gesicht. Auf der Rückfahrt, die schweigend verlief, holte sie das Gewitter ein. Die Tropfen zerplatzten zuerst einzeln auf der Windschutzscheibe und wuschen schließlich die Umgebung fort. Timo musste langsamer fahren, als ihm lieb war. Sabina spielte wieder am Radio.
Bevor sie ausstieg, fragte Sabina: „Wann gibt’s die nächste Runde?“
Timo wollte ihr sagen, dass es vorbei war, dass er kein Spiel mehr wollte, wenn er nur verlieren konnte. „Ich ruf dich an.“
Sie stieg aus, winkte und lief durch den Regen davon. Timo brauchte lange, bis er weiterfuhr.
Timo war froh den Welpen aus der Hand zu haben. Dieser kugelte sich zu Sabinas Füßen im Staub, ein hellbrauner Körper mit übergroßem Kopf und einem hektischen Stummelschwanz. Sie kraulte ihm Bauch und Rücken. „Wo hast du den her?“
„Von einem Freund. Seine Hündin hat geworfen und er versucht die Kleinen loszuwerden.“
Er saß auf einem der Sessel und fühlte sich unwohl. Schweiß lief ihm übers Gesicht, seine Lippen schmeckten salzig. Am liebsten hätte er geduscht, eiskalt und ewig, alle Gedanken aus dem Kopf gewaschen, alle Bilder. Aber er saß hier, spürte den rauen Stoff unter seinen Händen und wartete darauf, dass Sabina vom Welpen abließ und ihn wieder ansah - mit Erwartung im Blick und dem Lächeln, das sie bei jeder Spielrunde zeigte. Es dauerte seine Zeit – Sabina spielte mit dem Hund, ließ ihn nach ihrem Finger schnappen, kraulte ihn unterm Kinn. Glücklich fiepte der Welpe.
Schließlich sah sie Timo über die Schulter hinweg an. „Was ist? Keine Aufgabe für heute? Du bist doch sonst nicht so still.“
Er fühlte sich an den ersten Abend erinnert, an das Essen, als er sprach und sie schwieg. Er hätte ihr gerne etwas darauf geantwortet, etwas, das sie überraschte und zurechtwies. Ihm blieb nur übrig, seine Befehle zu geben.
„Bring ihn um!“
Die Worte klangen natürlich, als wäre nichts dabei – Timo war über sich selbst erschrocken.
Sabina hielt inne mit dem Streicheln. „Spinnst du?“
„Bedeutet dir der Hund was? Ist er dir wirklich wichtig? Dann sag einfach nein. Lass ihn leben. Und ich habe gewonnen.“
Ihr Gesicht trug Überraschung zur Schau - vielleicht eine tiefere Einsicht, dass Timo nicht nur der hilflos geile Teenager war, nicht nur Spielball, sondern Spieler. Der Welpe fiepte glücklich wie je und Sabinas Hand wanderte in Kreisen seinen Rücken hinauf. Timo fühlte sich wieder obenauf, er hatte den Ausweg gefunden.
„Du machst es nicht. Ich wusste, du machst es nicht.“
Mit der einen Hand packte Sabina den Kopf, mit der anderen den Rumpf. Ruckartig verdrehte sie den Hals des Welpen, als wringe sie ein Handtuch aus. Die Wirbelsäule zerbrach, Timo konnte das Knacken hören. Zweimal zuckte der Stummelschwanz, dann regte sich der Welpe nicht mehr.
„Oh, Scheiße.“ Er wandte den Blick ab und wünschte sich, Sabina wäre nicht hier, Sabina, die lächelte, weil sie gewonnen hatte – Timo hatte von Anfang an danebengelegen, hatte nicht erkannt, was Sabina wirklich war.
„Du hast trotzdem verloren. Du hast bei dem Spiel mitgemacht. Das beweist alles.“ Er sprach fahrig und wie im Fieber, sprach mehr zu sich, denn zu Sabina. „Wärst du wirklich Nihilistin, hättest du nicht mitgemacht. Du hättest dich nicht beweisen müssen. Ich habe Recht.“ Vielleicht waren seine Worte folgerichtig, vielleicht war Sabina keine Nihilistin, aber Timo wusste, dass es nicht mehr darauf ankam. Der Welpe lag zu Sabinas Füßen.
Timo verließ die Halle. Draußen grüßten Grillen und die untergehende Sonne. Die Luft stand reglos und schwül. Timo brach der Schweiß aus. Hinter der Lagerhalle erstreckte sich Brachland, rissiger Asphalt und Unkraut, dann Felder, mit Mais und Weizen, rot-gelb im letzten Licht. Timo hörte Sabinas Schritte hinter sich.