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Spiegeltrinker
Erinnerst du dich noch Papa, als ich als kleines Mädchen hinter dir auf dem Moped saß und betete, dass die Engel uns beschützen mögen? Nur dieses eine Mal sollten sie uns noch nach Hause begleiten.
Ich wollte mit meinen Kinderhänden deinen Bauch umfassen. Aber meine Hände war zu kurz, sie reichten nicht aus um Sicherheit zu spüren. Also lehnte ich mein Gesicht an deinen Rücken, suchte nach irgendeiner Kraft, einem Halt, aber da war nichts. Als dir die Maschine entglitt und über den Splitt rutschte, wir das Gleichgewicht verloren, lachtest du, und ich spürte deine eigene Angst aus deinem Lachen herausblitzen.
Du hattest mich mitgenommen zu deinen Freunden und Kollegen und ich war so stolz darauf. Doch dann hast du mich abseits allein gelassen. Ich beobachtete dich. Wie du immer tiefer, in deine einsamen Gedanken versunken, dieses riesige Bierglas in den Händen hieltest. Es sah aus, als würdest du in tiefer Traurigkeit in eine Glaskugel blicken. In diesem brackigen dunklen Gelb hast du, für ein paar gnädige Momente dein Denken verloren, nicht wahr Papa?
Du bist eingetaucht in eine Liebe und eine Sehnsucht nach Geborgenheit welche dir das Leben nicht zu schenken bereit schien. Papa, du hättest den Blick nicht in diese Tiefen lenken sollen. Warum hast du nie dein Spiegelbild auf dem polierten Glas gesehen? Gleich an der Oberfläche? Warum hast du nie hingeschaut, was für eine traurige Gestalt dir da entgegenblickt, anstatt dein Heilsein in einer unendlichen Weite deiner Gedanken zu suchen.
Ich habe dich einmal gefragt warum sich deine Eltern im Krieg scheiden ließen. Und du sagtest: "Das weiß ich nicht. Mutter hat uns verlassen und Vater nahm mich mit zu der anderen Frau." Deine Einsamkeit, deine Traurigkeit hat niemanden gekümmert. Gesagt hat man dir nichts, und du hast nicht gefragt. Und so warst du immer. Hast alles hingenommen, dich in Träume verloren. Deine Sehnsüchte nach Indien, nach Liebe und Ehrlichkeit hast du in diesem ekeligen Gerstensaft ertränkt um es auszuhalten.
Aber du hast auch mich nie gefragt wie ich mich fühle. Ob ich traurig bin, oder einsam. Du hast gesorgt für uns, deine Hülle war immer da. Aber wo warst du selbst in all dieser Zeit, Papa? Ich fühlte mich dir immer nah, weil ich dieses Verlorensein im Denken, verbunden mit dem heimlich schlummernden Fühlen, längst auch zu meiner Lebensmaxime machte. Das war unsere Liebe Papa, nicht wahr? Das Verstehen der Einsamkeit des anderen. Und es war gleichzeitig die Distanz die wir nie zu überwinden suchten.
Du hättest dich in diesen Spiegel sehen sollen. Wenn du eingetaucht warst in den gelben stinkenden Bierschleim und seinem ekeligen Dunst. Vor allem dann, wenn dich die Wahrheit an der Gurgel packte, im Rausch hervorquoll, endlich Raum verlangte. Dann hast du Mama beleidigt, sie gedemütigt und sie in Zorn und Wut versetzt bis die Fetzen flogen. Wir Kinder saßen wie Puppen und hatten Angst. Es war so laut.
Du hast ihr deinen Schmerz über ihre fehlende Liebe und ihr getragen werden müssen, als triefenden Spott mit schwarzen, tintigen und zynischen Worten zurückgegeben. Wie hätte sie dich denn da ernst nehmen sollen, Papa? Du hast dich damit selbst der Lächerlichkeit preisgegeben.
Irgendwann war das Trinken nach Jahrzehnten plötzlich vorbei. Denn all die toten Träume, unerfüllten Hoffnungen, das ganze Unverstandensein war längst zu deinem Alltag geworden. Deine Schmerzen, deine nicht gelebte Wut hattest du als stillen Kummer viele Jahre in dich hinein gefressen. Bis er tief in deinem Inneren mutierte und seinerseits deine Zellen fraß. Und dein ganzes Leben, welches du nie gelebt hast, legte sich gewaltvoll auf deine Lungen.
Wenn ich heute in einem Lokal sitze und sehe, wie sich manche Blicke von wertvollen Menschen, jämmerlich in den Tiefen dieses gelben Morasts verlieren, statt am Leben zu wachsen, dann packt mich das Grauen. Wenn sie wie Kleinkinder betteln um Anerkennung ihrer Gedanken. Dann würde ich ihnen gerne das Glas vom Tisch schlagen, damit es ihnen in jedem einzelnen Bruchstück ihr Spiegelbild zeigt.