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Spiegeltrinker

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08.08.2002
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Spiegeltrinker

Erinnerst du dich noch Papa, als ich als kleines Mädchen hinter dir auf dem Moped saß und betete, dass die Engel uns beschützen mögen? Nur dieses eine Mal sollten sie uns noch nach Hause begleiten.

Ich wollte mit meinen Kinderhänden deinen Bauch umfassen. Aber meine Hände war zu kurz, sie reichten nicht aus um Sicherheit zu spüren. Also lehnte ich mein Gesicht an deinen Rücken, suchte nach irgendeiner Kraft, einem Halt, aber da war nichts. Als dir die Maschine entglitt und über den Splitt rutschte, wir das Gleichgewicht verloren, lachtest du, und ich spürte deine eigene Angst aus deinem Lachen herausblitzen.

Du hattest mich mitgenommen zu deinen Freunden und Kollegen und ich war so stolz darauf. Doch dann hast du mich abseits allein gelassen. Ich beobachtete dich. Wie du immer tiefer, in deine einsamen Gedanken versunken, dieses riesige Bierglas in den Händen hieltest. Es sah aus, als würdest du in tiefer Traurigkeit in eine Glaskugel blicken. In diesem brackigen dunklen Gelb hast du, für ein paar gnädige Momente dein Denken verloren, nicht wahr Papa?

Du bist eingetaucht in eine Liebe und eine Sehnsucht nach Geborgenheit welche dir das Leben nicht zu schenken bereit schien. Papa, du hättest den Blick nicht in diese Tiefen lenken sollen. Warum hast du nie dein Spiegelbild auf dem polierten Glas gesehen? Gleich an der Oberfläche? Warum hast du nie hingeschaut, was für eine traurige Gestalt dir da entgegenblickt, anstatt dein Heilsein in einer unendlichen Weite deiner Gedanken zu suchen.

Ich habe dich einmal gefragt warum sich deine Eltern im Krieg scheiden ließen. Und du sagtest: "Das weiß ich nicht. Mutter hat uns verlassen und Vater nahm mich mit zu der anderen Frau." Deine Einsamkeit, deine Traurigkeit hat niemanden gekümmert. Gesagt hat man dir nichts, und du hast nicht gefragt. Und so warst du immer. Hast alles hingenommen, dich in Träume verloren. Deine Sehnsüchte nach Indien, nach Liebe und Ehrlichkeit hast du in diesem ekeligen Gerstensaft ertränkt um es auszuhalten.

Aber du hast auch mich nie gefragt wie ich mich fühle. Ob ich traurig bin, oder einsam. Du hast gesorgt für uns, deine Hülle war immer da. Aber wo warst du selbst in all dieser Zeit, Papa? Ich fühlte mich dir immer nah, weil ich dieses Verlorensein im Denken, verbunden mit dem heimlich schlummernden Fühlen, längst auch zu meiner Lebensmaxime machte. Das war unsere Liebe Papa, nicht wahr? Das Verstehen der Einsamkeit des anderen. Und es war gleichzeitig die Distanz die wir nie zu überwinden suchten.

Du hättest dich in diesen Spiegel sehen sollen. Wenn du eingetaucht warst in den gelben stinkenden Bierschleim und seinem ekeligen Dunst. Vor allem dann, wenn dich die Wahrheit an der Gurgel packte, im Rausch hervorquoll, endlich Raum verlangte. Dann hast du Mama beleidigt, sie gedemütigt und sie in Zorn und Wut versetzt bis die Fetzen flogen. Wir Kinder saßen wie Puppen und hatten Angst. Es war so laut.

Du hast ihr deinen Schmerz über ihre fehlende Liebe und ihr getragen werden müssen, als triefenden Spott mit schwarzen, tintigen und zynischen Worten zurückgegeben. Wie hätte sie dich denn da ernst nehmen sollen, Papa? Du hast dich damit selbst der Lächerlichkeit preisgegeben.

Irgendwann war das Trinken nach Jahrzehnten plötzlich vorbei. Denn all die toten Träume, unerfüllten Hoffnungen, das ganze Unverstandensein war längst zu deinem Alltag geworden. Deine Schmerzen, deine nicht gelebte Wut hattest du als stillen Kummer viele Jahre in dich hinein gefressen. Bis er tief in deinem Inneren mutierte und seinerseits deine Zellen fraß. Und dein ganzes Leben, welches du nie gelebt hast, legte sich gewaltvoll auf deine Lungen.

Wenn ich heute in einem Lokal sitze und sehe, wie sich manche Blicke von wertvollen Menschen, jämmerlich in den Tiefen dieses gelben Morasts verlieren, statt am Leben zu wachsen, dann packt mich das Grauen. Wenn sie wie Kleinkinder betteln um Anerkennung ihrer Gedanken. Dann würde ich ihnen gerne das Glas vom Tisch schlagen, damit es ihnen in jedem einzelnen Bruchstück ihr Spiegelbild zeigt.

 

Hallo Eulchen, natürlich hatte ich alle möglichen Gedanken, beim Lesen dieser Geschichte (offenen Briefes). Ja, es gefällt mir natürlich ausserordentlich gut, wir haben die gleiche Geschichte geschrieben, und ich frag mich natürlich, ob wir auch die gleich Motivation hatten. Zum Inhalt gibt es nichts hinzuzufügen, und würde ich einen Rechtschreibfehler entdecken, würde ich es nicht wagen, das Unwesentliche zu bemängeln. Sehr sehr sehr gut. Elvira

Liebe grüsse stefan

 
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Servus Archetyp!

Na gut, das eine Mal lasse ich Elvira ?? durchgehen.
:gunfire: aber nicht ganz kampflos versteht sich.


Deine Motivation wird wahrscheinlich eine andere gewesen sein und doch nicht ganz von meiner zu trennen. Meine ist es, nicht akzeptieren zu wollen, dass Menschen sich in diesem Gebräu verlieren. Sie sind dann nur mehr ihre eigene Karrikatur, völlig überzeichnet und bloß ein seltsames Bruchstück ihres Ganzen, welches dann aber dafür um so deutlicher, erkennbar wird. Das tut mir weh, weil sie es gar nicht nötig hätten. Sie bleiben erst recht unverstanden, mitleidig belächelt zurück. Warum tut sich ein Mensch das an?

Als kleines Mädchen die Engel anzurufen, hat mir ermöglicht durch solche Situationen zu tauchen. Und als dieser Satz nun woanders wieder auftauchte, vermischte er sich mit deiner Geschichte, mit meiner selbst erlebten und meinem gestrigen Abend in einem Wiener Beisl.

Ich freue mich, dass dir sehr gut gefallen hat, was aus mir rausverlangte und wünsche dir ein herrlich sonniges Wochenende.

Lieben Gruß an dich - Eva

 

hallo eva,

eine berührende geschichte ... vor allem auch deine gedanken im vorigen beitrag haben mich zum nachdenken gebracht. zwei ewige themen: was eltern an ihren kindern verpfuschen können und was der alkohol mit menschen anrichten kann ...

 

Servus Tante Hildegard!

Dein Antwort freut mich sehr. Vor allem, wenn auch die Gedanken danach dich erreichten und nachdenklich stimmten.

Es ist auch schön das Wort berührend vorzufinden, weil es viel für mich bedeutet, wenn meine Worte einen Menschen berühren können beim Lesen.

Einen lieben Gruß an dich - Eva

 

Hallo Schnee.eule!

"Warum tut sich ein Mensch das an?" - ich glaube, es ist die ANgst vor diesem eigenen Spiegelbild. Besser nicht schauen, es könnte ja schlimm sein. Liebr weitermachen, das ist bequemer.

Aber Alkoholismus, vor allem vor den augen von Kindern, das ist etwas schlimmes. Die Engel werden auch nicht immer helfen...

Du hast das sehr gut dargestellt, finde ich, eben aus dieser Sicht des Mädchens, das das Wort an den Vater richtet, im Unverständnis. Gut gefällt mir v.a. auch der Schluss, die Gedanken einer erwachsenen Frau, die ihrer Empfindung endlich Luft machen will, den Spiegel zeigen will.

schöne Grüße!
Anne

 
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Servus Maus!

Danke für dein Lesen. Mit dem Wort Alkoholismus wirfst du eine sehr schwierige Frage auf. Ich selbst denke, dass die meisten Menschen die mit Alkohol leben in dem Sinn keine definierbaren Alkoholiker sind. Dieses "immer wieder mal betrunken sein" ist ein Wegegspülen der Spiegelbilder, wenn sie schemenhaft erkennbar werden. Sie wissen gar nicht wo ihre eigentlich Problematik liegt und sind ständig auf der Flucht vor sich selbst.

Sie trinken statt die Dinge anzuschauen, sie beim wirklichen Namen zu nennen und geben damit auch den Kindern, Partnern, Eltern keine Chance sich neu zu positionieren, ihre Perspektiven neu zu überdenken, an sich zu arbeiten. Kommt es erst am Ende eines Menschenlebens zur Konfrontation, zum sich stellen müssen, kommt auch manche Erkenntnis zu spät.

Lieben Gruß an dich - Eva

 

Hallo schnee.eule,

„Warum hast Du nie Dein Spiegelbild auf dem polierten Glas gesehen? Gleich an der Oberfläche?“
Dies scheint mir ein ganz entscheidender Satz zu sein - eigentlich liegt die Wahrheit (in diesem Fall Selbsterkenntnis) so nah, „gleich an der Oberfläche“. Doch Oberflächlichkeit aus situationsbedingtem Unvermögen gibt dem Mann keine Chance, sich von selbst zu befreien. Deshalb möchte die Frau wohl auch am liebsten selbst eingreifen, wenn sie entsprechende Personen bemerkt, hoffentlich tut sie`s.

Alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 
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Servus Woltochinon!

Ja, dieser Satz ist entscheidend. Der Blick dieser Menschen geht sehnsuchtsvoll in unendliche Weiten. Die Nähe zu sich selbst, haben sie darüber längst verloren.

Statt Lösungen für die ganze Welt zu suchen oder im Zuwarten, in der duldenden Einsamkeit, bräuchten sie nur die Distanz des Blicks zu verringern. Dann könnten sie entdecken, dass die Welt sich nur verändern kann, wenn sie die Lösung, in ihrem eigenen Denken, Fühlen und Verhalten suchen.

Schön, dass du da warst - lieben Gruß an dich - Eva

 

Hallo Eva!

Die vorigen Kommentare sprechen es bereits vieles an.

Es ist auch für mich eine berührende Geschichte. Es kommt für mich sehr schön heraus, dass Alkohol nicht immer nur das Problem desjenigen ist, der trinkt, sondern dieses Trinken auch zum Problem seiner Umgebung wird. Vor allem die Kinder sind davon betroffen.

Ebenfalls sehr gut zum Ausdruck wird die Flucht der Person vor sich selbst, vor dem Kummer um die unerfüllten Träume und Sehnsüchte gebracht. Und schließlich zeichnest du das Bild einer ziemlich traurigen Existenz, die vom nunmehr erwachsenen Kind wütend und traurig, aber dennoch liebevoll beschrieben wird.

lg
klara

 

Servus Klara!

Die Umwelt ist mit betroffen. Hätte er einmal statt ins Glas hingeschaut, warum sich sein Leben genau so und nicht anders entwickelt hat, warum es ihn trinken lässt, dann hätte er vielleicht Stellung bezogen und seine ganze Welt verändert.

Genau davor haben diese Menschen aber Angst, vor den Konsequenzen, die das ehrliche Hinsehen dann mit Sicherheit hat und der Erkenntnis, dass ihre Träume sie am eigentlichen Leben hinderten.

Lieben Gruß an dich - Eva

 

,Wir Kinder saßen wie Puppen und hatten Angst. Es war so laut.'

Für mich beinhaltet dieser Text alles. Sogar Erinnerung an etwas ähnlich Gewesenes. Sonst muß dazu nichts gesagt werden. Dein Text hat eine tiefe Traurigkeit. Eine deiner besten Texte, Eva.

Liebe Grüße - Aqua

 
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Servus Aqualung!

Schön, dass du diesem Satz nachempfunden hast, er hat mich selbst schon beim Schreiben und dann nochmal beim Drüberlesen am meisten betroffen gemacht.

Ja, Traurigkeit ist drinnen, aber auch Zorn und Einsamkeit, allem voran sich verändernde Liebe.

Schön auch, dass du ihn gut findest.

Einen schönen Tag für dich - lieben Gruß - Eva

 

Hei Eva,

tja – die Angehörigen, Freunde und vor allem die Kinder sind immer mitbetroffen. Sie sind Ko-Alkoholiker. Und sie benötigen bestimmte Abwehrmechanismen, mit denen sie sich vor emotionalem Schmerz schützen. Starker Text, Eva. Sehr aufwühlend.

lg
liz

 
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Servus Liz!

Ein interessantes Wort hast du da kreiert - die Ko.Alk! Die Abwehrmechanismen sind halt leider gerade für Kinder die einzige Möglichkeit. Leider, weil sie, wie das Wort schon sagt, den Schmerz abwehren. Er geht aber nicht weg, sondern versteckt sich und irgendwann erkennt man gar nicht mehr wo das Traurigsein herkommt.
Aber Kinder werden manchmal erwachsen ...

Starker Text? Wunderbar, danke.

Lieben Gruß an dich - Eva

 

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