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Spiegelmeisterin
Sie sitzt im Zug und starrt auf die Spiegelung der Realität hinter der spiegelnden Scheibe. In ihren Augen spiegelt sich die Welt ein weiteres Mal, und sie weiß, wenn ihre Augen gut genug wären, würde sie sich selbst in der winzigen, rechteckigen Spiegelung der Scheibe erkennen können. So brennend ist ihr Starren geworden, dass niemand ihm lange standhalten kann.
Als die U-Bahn hält, bleibt ihr schweifender Blick auf einem Menschen hängen. Eigentlich ist es ihr gleichgültig. Aber die Bahn schiebt sich langsam weiter, bis die Blicke der Beiden sich irgendwo treffen, weit hinter der Realität. Er steht relativ nah an der U-Bahn, sodass seine langen Haare im Windstoß wehen. Seine Augen sind hellblau, von einer aquamarinblauen Corona umgeben. Feuer durchfährt sie und lässt ihr Herz rasen, als sie einander ansehen.
Beinahe lächelt sie. Aber so starrt sie nur. Und wundert sich, als er ihrem Blick standhält.
Die Zeit um sie herum erstarrt. Langsam wirbelt der Wind seine Haarsträhnen herum, mit einem unendlich lang gezogenen Zischen öffnen sich die Türen. Wie durch ein Wunder kreuzt keiner der aussteigenden Fahrgäste ihr stummes Starren.
Die Türen schließen sich mit einem dumpfen Schlag. Als der Bahnhof sich plötzlich in Bewegung setzt, durchfährt ihren Körper siedendheiß ein furchtbarer Schreck.
Immer noch sind seine Pupillen mit ihren verbunden, und erst der Rand des Fensters unterbricht das Starren der beiden. Tränen lassen die Welt um sie herum verschwimmen.
Er steht gelangweilt in der Bahnstation, sieht ins Leere. Auch als ein Zug einfährt, bleibt sein Blick ins Jenseits gerichtet. Er könnte sich fragen, was geschieht, wenn die Bahn hält. Was ihm dieses Mal zu sehen aufgezwungen wird. Aber nach kurzem Überlegen tut er diese Möglichkeit als überflüssig ab.
Ein beinahe hörbares Einrasten findet statt, als seine Blicke ihr Ziel finden. Die Augen, die die seinen bannen, sind grün. Strahlen von dunklem Blau durchziehen die Netzhaut. Ein Brennen geht von ihnen aus, das ihn in die Wirklichkeit zurückholt.
Er fühlt das Starren des Mädchens mit einer Intensität, mit der er seit Langem nicht gefühlt hat. Etwas beinahe Vertrautes geht von ihren Augen aus. Die Haut ihres Gesichts ist sehr blass, ihre Wimpern sind lang und dunkel.
Keiner der aussteigenden Fahrgäste unterbricht ihren Blick. Erst das Anfahren der Bahn zerreißt das Band, das ihn an sie geschmiedet hat. Er reißt den Kopf herum und fliegt der Bahn im Geiste hinterher, sieht nur noch die Nummer der Linie, sieht nur noch eine Staubwolke. Es ist ein heißer Tag.
Wenn es ihm nicht so gleichgültig wäre, würde er weinen. Kaum gewonnen, schon verloren. Muss es so sein? Immer?
Nach so langer Zeit endlich wieder eine Emotion!
Bedauern durchschießt sie, mit der Wucht einer Gewehrkugel, als ihr einfällt, dass sie nicht einmal sein Gesicht kennt. Nur eine wehende schwarze Haarsträhne und seine Augen sind ihr in Erinnerung geblieben. Sie starrt ihr Spiegelbild, beobachtet die mikroskopische Spiegelung der Spiegelungen der Fahrgäste in ihren Augen. Wie Ameisen sind die Menschen, und wie Ameisen werden sie eines Tages sterben.
In der Nacht lässt sie ihn nicht los. Immer wieder sieht er ihren Blick, wie er sich in seinen bohrt, mit Widerhaken, die in der Tiefe seiner Seele nach seiner tiefsten Wunde stöbern.
Und sie wieder aufgerissen haben.
Er denkt an seine erste Liebe, damals, vor vierzehn Jahren, als er gerade erst dreizehn war. Spiegelmeisterin nannte sie sich, und er hatte sein Herz an sie verloren.
Er hatte nie viel über sie erfahren. Er wusste nicht einmal ihr Alter. Als er ihr seine Liebe gestand, riss sie sich von ihm los und floh, nie wieder sprachen sie miteinander, auf keinen seiner Kontaktversuche bekam er Antwort.
Vielleicht hatte es daran gelegen, dass er noch ein Kind gewesen war. Jedenfalls war die zarte Pflanze verwelkt in jenen Tagen, bevor sie erste Blüten treiben konnte. Er war immer ein verschlossenes, dunkles Kind gewesen, das sich lieber in sich selbst zurückzog, als sich zu öffnen. Und langsam, durch die Illusionen ihrer Spiegel hindurch, hatte die Spiegelmeisterin ihm die Augen geöffnet und ihm gezeigt, was es heißt, zu lieben. Er sah sein Spiegelbild in ihren Tränen, und er verstand.
Aber dann hatte sie Angst bekommen und war geflohen. Jetzt versteht er das, jetzt weiß er, wie sie sich gefühlt hat. Er kann die gedämpften Emotionen nachvollziehen bei dem Gedanken, dass er mit der Besitzerin dieser wunderbaren Augen etwas Ähnliches gemacht hat wie sie damals mit ihm. Er fühlt dasselbe vage Bedauern darüber, ein Leben zerstört zu haben, das sie damals gefühlt haben muss. Denn das ist etwas, was das Mädchen - Mädchen? Wie alt sie sein mag? - nie wird verstehen können. Diese innerliche Leere. Dieser Gefühlstod.
Unter Tränen hatte er einen Kristallpanzer um sein Herz geschlossen, seinen schlanken Körper seitdem in Lederkleidung gehüllt und sein Haar schwarz gefärbt. Nach langer Zeit empfindet er nun wieder etwas, außer Gleichgültigkeit. Und er merkt, dass die Spiegelmeisterin in ihm eine Saite zerstört hat, die die grünen Augen wieder geflickt haben. Und die jetzt klingt.
Sie liegt wach, denkt an blaue Augen und eine schwarze Strähne. Sie weint seinetwegen, weil er sie aus ihrer Lethargie gerissen hatte. Nach zu vielen Enttäuschungen - in der Liebe, in der Kindheit - hatte sie ihr Herz verschlossen, und jeden, der an seine Pforte klopfte, schroff abgewiesen.
Wer ist er, dass er ihr das Gefühl gibt, ihn schon ewig zu kennen?
Sie starrt auf den Spiegel über sich, und erträumt sich die Unendlichkeit in der Spiegelung des Spiegels in ihren Augen. Normalerweise hilft die Unendlichkeit ihr, zu vergessen, aber nun sieht sie nur ihn, die Fenster zu seiner Seele.
Sie beschließt, am nächsten Tag wieder mit der Bahn zu fahren.
Er steht erneut am Bahnhof und starrt ins Nichts. Vielleicht reißt ihr Blick ihn aus ihrer Starre, vielleicht ist es auch das Geräusch des bremsenden Zuges, aber er gewahrt sie, und seine Augen strahlen auf.
Sie erhebt sich und verlässt den Zug. Jetzt findet er Zeit, sie ganz zu mustern. Sie trägt enge Kleidung aus schwarzem Leder, sowie einen kurzen Mantel aus dem gleichen Material. Ihre Haare sind beinahe weinrot und gehen ihr etwa bis zum Kinn, sie bilden einen reizvollen Kontrast zu ihren grünen Katzenaugen und der blassen Haut.
Sie geht auf ihn zu, stellt sich ihm gegenüber an die Säule und sieht ihn an.
"Viele Jahre war ich tot" sagt sie. "Warum hast du mich geweckt?"
"Ich suchte zu vergessen" sagt er, und fällt dabei in ein etwas archaisches Sprachmuster, weil es dem Anlass angemessen zu sein scheint. "Ich suchte Trost, und so trafen sich unsere Augen hinter dem Schleier der Realität."
"Was wolltest du vergessen?" fragte sie.
"Ich wollte jemanden vergessen..."
"Wen?" bohrt sie. "Wen?"
Er sagt es ihr, einfach aus dem Grund, dass ihre Seelen einander kennen, ohne jede Geheimnisse, hinter der Realität.
"Spiegelmeisterin... sie war die Spiegelmeisterin..."
Eine Bahn fährt ein, und ihr Geräusch übertönt beinahe ihre Antwort. "Ich bin die Spiegelmeisterin" murmelt sie leise. Dann setzt sie sich in Bewegung, auf die sich öffnenden Türen zu.
Seine blauen Augen füllen sich mit den Tränen, die er über ein Jahrzehnt lang nicht geweint hat. Er macht einen Schritt hinter ihr her.